Von Bernhard Bueb stammt der Gedanke, dass sich die gegenwärtigen Lehrstile auf einem Spektrum zwischen »Töpfern« und »Gärtnern« einordnen lassen. Die »Töpfer« seien solche Lehrer, die den Menschen formten und ihm, ihrer Vorbildfunktion wohl bewusst, klare Wertvorstellungen vermittelten, Grenzen setzten und die Rolle der Disziplin und des Anstands betonten. Demgegenüber stehe das Ideal der »Gärtner«, die den Menschen selbst wachsen ließen, ihm nur Anregungen gäben, seine Lernfortschritte begleiteten und beobachteten und dafür sorgten, dass Regeln selbst ausgehandelt würden. Während die »Töpfer« die althergebrachte Art des Lehrens repräsentieren, versteht man die »Gärtner« am besten als Gegenentwurf zur traditionellen Art des Lehrens. Entsprechend unversöhnlich stehen sich die beiden pädagogischen Auffassungen oft gegenüber.
Nach meinem Dafürhalten bedarf es aber einer Integration beider Sichtweisen. Lehrer haben einerseits sehr wohl eine Vorbildrolle und sind nicht nur Lernbegleiter. Mit einer zu harten Orientierung an Disziplin und Standard »stanzt« man andererseits nur schlechte Kopien eines falsch verstandenen Bildungsideals.
Werte müssen klar vermittelt und können nicht mittels konstruktivistischer Methoden selbst erarbeitet werden. Nur wer klare, konsistente Vorbilder hatte, kann sich später auf dieser Grundlage bewusst für oder gegen etwas entscheiden. Und wer sich zu früh mit zu starken Autoritäten konfrontiert sieht, entwickelt nicht die heute so wichtige Kompetenz »auf die Füße zu fallen«, also Probleme selbst zu lösen. Das bedeutet, dass sich klare, transparente und wertorientierte Vorgaben auf der einen und Dialogfähigkeit, Beobachtungsgabe und Spaß daran, anderen bei ihrer ganz eigenen Entwicklung zu helfen, auf der anderen Seite ergänzen müssen.
Die meisten der gegenwärtig vorherrschenden pädagogischen Methoden sind nach wie vor auf die Kompensation allzu »töpferischer« bzw. autoritärer Zeiten und Stile ausgerichtet. In Ostdeutschland mag das aufgrund der viel längeren totalitären Zeit noch notwendig und hilfreich sein. Heinz Eggert sagte einmal, die schlimmste Person im Osten sei nicht Erich Mielke gewesen und schon gar nicht Erich Honecker. Viel schlimmeren Schaden habe Margot Honecker in ihrer Rolle als Bildungsministerin angerichtet.
Insgesamt aber ist davon auszugehen, dass wir es in Schulen und Hochschulen kaum noch mit den Spätfolgen zu strenger Erziehung zu tun haben. Im Gegenteil: Der Teufel liegt heute eher in der Beliebigkeit, in der Vielzahl der Möglichkeiten, in der Tendenz, sich nicht entscheiden zu wollen oder zu können. Manche verlangen deshalb eine »Rückkehr« zu den vermeintlichen alten Werten. Diese Menschen haben gleichzeitig Recht und Unrecht: Es lässt sich eine Umorientierung in den Werten feststellen, junge Menschen schätzen traditionelle Werte durchaus, aber sie tun das auf ihre Weise. Man kann nicht von einer »Renaissance der Autorität« sprechen, vielmehr geht es um eine »Neue Autorität«. Der Philosoph Robert Spaemann (1996, S. 197) hat in einem Aufsatz über pädagogische Ethik einmal geschrieben, dass gute Lehrer vor allem drei Dinge bräuchten: (1) klare Überzeugungen, (2) Vertrauen zu ihren Schülern und (3) die Fähigkeit, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Gerade im dritten Aspekt stecken wichtige Erkenntnisse: Gesunde Autorität fördert in erster Linie die Entwicklung und setzt Grenzen, wenn dies förderlich ist. Es geht nicht um Disziplin um ihrer selbst Willen, sondern um Freiheit und die Fähigkeit zur Disziplin, wenn sie erforderlich ist. Gesunde Autorität unterscheidet sich von ungesunder, indem sie sich von Opposition und abweichendem Verhalten nicht angreifen lässt. Nicht die Sanktion ist das Instrument gesunder Autorität, sondern die Vorbildwirkung und die Wertschätzung.
Es gibt wenige Dinge, die die menschliche Seele wirkungsvoller zu verformen in der Lage sind als die Mechanismen krasser, auf blinden Gehorsam ausgerichteter Autorität. Wir haben im letzten Jahrhundert vielfältige Instrumente entwickelt, diese Mechanismen sichtbar zu machen, und wir haben etliche Methoden, die uns dabei helfen, die negativen Folgen krankmachender Autorität zu kompensieren. Aber was ist, wenn wir es mit diesen Methoden so übertrieben haben, dass wir es heute nicht nur mit weniger negativer Autorität, sondern auch mit den krankmachenden Folgen von zu wenig gesunder Autorität zu tun haben? Was passiert, wenn anstatt weniger zu töpfern und mehr zu gärtnern die Gärtnerei zur bestimmenden Disziplin geworden ist? Was ist, wenn wir, wie Winterhoff vermutet, mittlerweile so wenige Grenzen setzen, dass viele Kinder in einem Frühstadium der psychischen Entwicklung verharren, sich »allein auf der Welt« wähnen und zu kleinen Tyrannen werden, die ihren Eltern, wenn sie sie nicht gar verprügeln, mehr oder minder dauernd auf dem Kopf herumtanzen?