Die Macht der informellen Organisation
Der Unterschied zwischen informeller und formaler Hierarchie ist ein Gemeinplatz der Organisationspsychologie. Spätestens seit der Formulierung des als human-relations-Ansatz bekannten und vor allem humanistisch geprägten Denkmodells über Organisationen ist klar, dass Mitarbeiter und Führungskräfte den Prämissen der so genannten „informellen Organisation“ mit ihren Beziehungen, Bündnissen, gegenseitigen Schuldigkeiten usw. mitunter mehr gehorchen oder folgen als den offiziellen Vorgaben der Organisation. Mit dieser grundlegenden Unterscheidung lassen sich bereits viele Probleme in Organisationen beschreiben. So wird etwa ein neues Organisationsziel verlautbart und auf dem Dienstweg in die Organisation kommuniziert. Die entsprechenden Informationen kommen aber nicht, nur teilweise oder völlig verändert „unten“ an. Das kann daran liegen, dass mittlere Führungskräfte so genanntes „Herrschaftswissen“ für sich behalten, um damit ihre Position und die Kontrolle in ihrem Führungsbereich zu sichern. Das kann auch daran liegen, dass die „offiziellen Informationskanäle“ der Organisation gar nicht so weit reichen, sondern an vielen Stellen durch „inoffizielle Kanäle“ verändert oder gar ersetzt werden. Über diese „inoffiziellen Kanäle“, bspw. bestimmte Raucherpausen oder Essensrunden in immer gleicher Konstellation, werden dann die jeweiligen Informationen womöglich nur bruchstückhaft, jedenfalls aber ergänzt um eigene Bewertungen und Konnotationen weitergegeben. So wird auf informellem Weg in jedem Fall etwas anderes aus den betreffenden Informationen gemacht. Soweit in Kürze zum Unterschied zwischen „offizieller“ und „inoffizieller“ bzw. informeller Hierarchie.
Wenn Führungskräfte trotz Hierarchie nicht wissen, wo sie genau stehen
Im Coaching begegnen mir immer wieder Führungskräfte, die ein ernstes Problem mit ihrer Verortung in der Hierarchie haben. Die Analyse dieser Probleme gelingt mit der Unterscheidung zwischen formaler und informeller Hierarchie zwar zum Teil, aber nicht ganz. Im Folgenden werden zunächst kurz zwei Beispiele dargestellt. Des Weiteren geht es darum, Ihnen mit der Unterscheidung zwischen einer „vertikalen“ und einer „horizontalen“ Organisationsebene (vgl. Van Maanen & Schein 1979) Begriffe vorzustellen, die es ermöglichen, die Unsicherheit bezüglich der eigenen Rolle bzw. der eigenen Position im Organisationsgefüge, die viele Führungskräfte beschreiben und sogar den „Karriere-Limbo“, in dem sich manche der Betroffenen befinden, so zu fassen, dass auch grundlegende Handlungsmöglichkeiten deutlich werden. Das wiederum kann Coaches und Beratern eine Orientierung für die Bearbeitung eines vergleichsweise häufigen Coaching- oder Beratungsthemas geben.
Zwei Beispiele
Kamila N. leitet ein Team, das Teil einer großen, für einen der Kernprozesse des Unternehmens verantwortlichen Abteilung ist. Als der Abteilungsleiter für längere Zeit krank ist, wird Kamila N. vom Vorstand offiziell mit der kommissarischen Leitung der Abteilung betraut. Gleichzeitig bekommt sie von einem der Vorstände einige „inoffizielle“ Aufgaben. Das heißt, der betreffende Vorstand gibt ihr Aufträge, die er nicht mit seinen Vorstandskollegen abgestimmt hat, und über die sie auch kein Wort verlieren soll. Unter anderem sollen Teile der Abteilung umstrukturiert und ein Teamleiter entfernt werden. „Der Abteilungsleiter kommt nicht zurück, dafür sorge ich schon, und dann werden Sie Abteilungsleiterin.“, sagt der Vorstand am Ende eines Gesprächs. Kamila N. hatte ohnehin nicht das beste Verhältnis zu ihrem direkten Vorgesetzten; sie ist Mitte 30 und hat sich schon länger gewünscht, sich beruflich weiterzuentwickeln. Also nimmt sie die „inoffizielle Mission“ an – und scheitert. Sie erreicht zwar die meisten der informellen Ziele, aber schließlich kommt der Abteilungsleiter nach längerer Krankheit zurück, und der Vorstand sagt, er habe sich im Kreis seiner Vorstandskollegen bzgl. der Person des Abteilungsleiters nicht durchsetzen können. Sie wird nun – als Dank für ihre engagierte Arbeit – offiziell zur stellvertretenden Abteilungsleiterin ernannt. Als Kamila N. sich für ein Coaching anmeldet, ist sie wütend und will das Unternehmen verlassen. Die Analyse zeigt schnell, dass sich Kamila N. in einer Art „Schwebezustand“ befindet – eigentlich nicht mehr Teamleiterin, aber auch nicht Abteilungsleiterin, eigentlich informell befördert, aber offiziell doch nicht. Was hier passiert ist, lässt sich also mit der Unterscheidung zwischen informeller und formaler Hierarchie schon recht gut erklären. Aber was soll Kamila N. jetzt machen? Soll sie ihrem (verständlichen) Ärger folgen und gehen?
Peter S. ist eigentlich Abteilungsleiter. Er sagt das im ersten Coaching-Gespräch genau so: „Eigentlich bin ich Abteilungsleiter.“ Nach zwei Sekunden spricht er weiter: „Aber eigentlich gehöre ich auch zur Geschäftsführung.“ Er beschreibt eine Situation zwischen den Stühlen. Er nimmt an allen Abteilungsleiterrunden teil, hält sich dort aber zurück, weil er ja offiziell zur Geschäftsleitung gehört. Immerhin hat er Prokura für eine große Tochtergesellschaft. Aber immer, wenn sich die Geschäftsführer zu strategischen Runden zusammensetzen, ist er nicht dabei. Wenn wir hier die oben dargestellte Unterscheidung anwenden, dann scheint Peter N. es „offiziell“ ziemlich weit gebracht zu haben, „inoffiziell“ scheint es aber nicht zu reichen. Im Gespräch wird weiter deutlich, dass die Situation schon seit mehreren Jahren stabil ist und sich trotz zahlreicher Bemühungen nicht ändern lässt. Peter N. kommt mit der Frage ins Coaching, ob er die Organisation verlassen soll.
Die vertikale Organisationsebene
Im Grunde entspricht das, was wir allgemein als Hierarchie bezeichnen, der „vertikalen“ Perspektive auf Organisationen. Das bedeutet, dass es in Organisationen einen – mehr oder weniger geregelten – Weg nach oben gibt. Man tritt einer Organisation bei, bekleidet eine bestimmte Position (oder nimmt eine bestimmte Rolle ein), und man hat Personen über sich (Vorgesetzte), neben sich (Kollegen oder so genannte „Peers“ auf der gleichen Hierarchieebene) und ggf. unter sich (Mitarbeiter, Teammitglieder). Die Klarheit dieser Einteilung hat sich in den letzten Jahrzehnten ein wenig aufgelöst – Stäbe, Projektstrukturen, Zeitverträge, Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertragspartner haben die Verhältnisse nachhaltig durcheinandergebracht. Aber wenn man genau hinschaut (oder sich darauf besinnt, was juristisch der Fall ist), dann findet man in den allermeisten Organisationen – und oft auch und gerade in denen, deren Mitglieder behaupten, es herrschten ganz flache Hierarchien – sehr wohl ein „oben“ und ein „unten“, auch wenn dies nicht mehr in allen Fällen klar geregelt ist bzw. die Beschreibbarkeit der Hierarchie aus dem Bereich der formalen Regelungen (klar, expliziert) in den der informellen Regelungen übergegangen ist (unklar, implizit, deshalb aber nicht weniger gültig, sondern nur schwerer erlernbar). (Vgl. Van Maanen & Schein 1979)
Die horizontale Organisationsebene
Schwerer als die Regelungen auf der – oft noch explizierten, zumindest aber allgemein bekannten – vertikalen Organisationsebene ist das Geschehen auf der horizontalen Organisationsebene zu verstehen. Zunächst muss festgestellt werden, dass vielen Menschen nicht klar zu sein scheint, dass es diese Ebene überhaupt gibt. Um zu begreifen, um was es sich dabei handelt, muss man sich nicht nur eine senkrecht orientierte Hierarchie-Dimension vorstellen, sondern auch eine waagerecht orientierte Dimension ausgehend vom jeweiligen Kern der Organisation. Dabei ist allerdings der Begriff des Kerns weit ungenauer zu fassen als in der senkrechten Orientierung der Begriff der Organisationsspitze. In manchen Fällen handelt es sich um die gleichen Personen, in anderen nicht. Jedenfalls gibt es Menschen, die im Kern einer Organisation stehen, und es gibt solche, die dem Kern sehr nahe kommen, und es gibt Menschen, die sich sehr weit entfernt vom Kern der Organisation befinden. So, wie es im vertikalen Organisationsverständnis Hierarchieebenen und Regeln für den Übergang von einer Hierarchieebene in die nächsthöhere gibt, bestehen im horizontalen Organisationsverständnis verschiedene Grade der „Involviertheit“ in die Organisation. Wie man senkrecht die Hierarchieebenen zeichnen kann, lassen sich waagerecht Kreise wie Grenzen oder Grade der Involviertheit um den Kern der Organisation herum denken. (Vgl. Van Maanen & Schein 1979)
Die Hierarchie in der Hierarchie
Denkt man nun beide Ebenen zusammen, so wird klar, was bei vielen Führungskräften das Problem ist. In vielen Organisationen muss man nämlich, um eine Hierarchieebene weiterzukommen, erst einen oder zwei Grade „nach innen“ gerutscht sein bzw. sich auf der waagerechten Dimension erst bestimmte Verdienste erworben haben. Es geht allerdings auch andersherum: eine Hierarchieebene nach oben gestiegen zu sein, bedeutet in manchen Fällen noch lange nicht, dass man dem Kern näher gekommen sein muss. Im Gegenteil: es kann sogar sein, dass man aus bestimmten „strategischen“ Gründen befördert wurde, etwa weil man bestimmte Netzwerke mitbringt, eine ganz bestimmte Fähigkeit oder Qualifikation besitzt, welche die Organisation braucht, oder bestimmte Führungstechniken besonders gut beherrscht. Man wird dann vom „Kern“ aus gesehen als wichtig für die Organisation eingeschätzt, aber keineswegs als zum Kern zugehörig betrachtet. Auch kann es sein, dass man vom „Kern“ für bestimmte Leistungen belohnt wurde, weshalb man aber noch nicht „für einen der unseren“ (im Sinne einer größeren Nähe zum Kern) gehalten werden muss. Horizontale und vertikale Ebenen beeinflussen sich gegenseitig und – je nach konkreter Ausprägung – können sich sogar wechselseitig bedingen. Die horizontale Dimension der Involviertheit in Richtung des Kerns der Organisation liegt damit wie eine Art zweite, für viele zwar spürbare, aber unsichtbare und schwerer erklärbare Hierarchie innerhalb oder unterhalb der in der Regel klareren, besser beschreibbaren vertikalen Hierarchie.
Was folgt daraus praktisch?
Es ist nun leicht vorzustellen, dass Führungskräfte in eine Art „Limbo“, also eine nicht definierte Position zwischen den Ebenen kommen können, etwa wenn sie jahrelang auf eine Beförderung warten, die aber nicht erfolgt (oder dann doch nicht wie im Beispiel von Kamila N.), oder wenn sie befördert wurden, sie aber wie Peter S. doch nicht „hineingelassen“ werden. Solche „Schwebezustände“ können Menschen sehr verunsichern, und nicht selten macht sich nach einer Weile Ärger breit. Eine interessante und für Coaching-Gespräche nach meiner Erfahrung höchst relevante Frage ist nun die nach den praktischen Handlungsmöglichkeiten für die betroffenen Führungskräfte. Es ergeben sich meines Erachtens folgende Handlungsoptionen:
- Eine betroffene Person kann versuchen, ihre Lage zu verändern. Hier gilt es, die jeweilige Organisation bzw. die Erfahrungen der betreffenden Person in dieser Organisation sorgfältig zu analysieren. Verhindert eine zu geringe Involviertheit in Richtung des Kerns der Organisation eine Beförderung wie im Falle von Kamila N., dann wäre zu fragen, wie diese Involviertheit zu erhöhen ist. In der Regel handelt es sich um Verdienste, die man sich im Interesse der Organisation erwerben muss und durch die Menschen im Kern der Organisation auf die handelnde Person aufmerksam werden. Das vertrauliche Verhältnis zu einem der Vorstände bzw. die Erfüllung einiger aus dessen Sicht wichtiger inoffiziell übertragener Aufgaben scheint im Beispiel nicht ausgereicht zu haben, zumal mindestens in Frage steht, ob der einzelne Vorstand überhaupt so viel Macht besitzt bzw. selbst so weit in den Kern der Organisation involviert ist, dass er das Versprochene durchsetzen kann. Engagiert man sich entsprechend für die Organisation, so wird dies wie gesagt früher oder später Aufmerksamkeit erregen. Die Frage ist hier allerdings, ob der jeweilige Organisationskern eher subtile oder eher eifrige Bemühungen belohnt. Geht man also zu eifrig oder zu offensichtlich vor, kann das in einigen Organisationen schädlich sein. Am Ende lautet auch hier die wichtigste Frage, was die betreffende Person eigentlich will, und mit welchen Werten die Handlungen der betreffenden Person vereinbar sein sollen.
- Eine betroffene Person kann des Weiteren versuchen, sich an die Lage zu gewöhnen. Dabei kommt es auf die momentane Lebenssituation der handelnden Person an. Hat die Person, wie Peter N. seinerzeit, momentan kleine Kinder und möchte sich die Person mehr Zeit für die Familie nehmen, dann ist so eine „Karriere-Schlaufe“ gar nicht schlecht. Ziel und Gegenstand eines Coachings könnte hier die entsprechende Umbewertung der momentanen Situation sein. Man drückt dann gewissermaßen auf die „Pausentaste der Lebenslaufoptimierung“, fragt sich, was man wirklich will und kommt zu der Einschätzung, dass es einem – zunächst: auch ohne den Karriereschritt, später: gerade ohne den Karriereschritt – ganz gut geht.
- Die dritte Option lautet, das Unternehmen zu verlassen. Das kommt auf die Bewertung und vor allem auf den Grad der Unabänderlichkeit der Bewertung an. Wenn also, was nach entsprechender Reflexion das völlig legitime Ergebnis der Analyse sein kann, die Person dabei bleibt, einen Schritt weiterkommen zu wollen, dies aber in der gegenwärtigen Konstellation nicht oder kaum möglich erscheint, dann ist es besser zu gehen. Alles andere führt nur zu mehr Ärger, Frust o.ä.