Ich stelle mir die Frage, warum politische Positionen wie die der AfD seit einigen Jahren immer populärer werden. Bei den üblichen (und zumeist schlichten) Erklärungsansätzen bin ich skeptisch. Klar hängen Bildungsstand und Anfälligkeit für einfache Erklärungen irgendwie zusammen. Und klar lässt sich das messen: je niedriger das eine, desto stärker das andere. Aber diese Erklärungen sind ihrerseits ebenfalls vereinfachend — und damit nah an den mitunter populistischen Positionen, die damit eigentlich kritisiert werden sollen. Und schlimmer noch: Solche Erklärungen tragen zur Eskalation bei, indem dadurch Menschen, die etwas anders sehen, schlicht für dumm erklärt werden.
Ich treffe immer wieder Menschen, die alles andere als dumm sind, die aber die Nase voll und kein Vertrauen mehr in Politik haben. Und dann ist mir das auch passiert: Ich habe bei der letzten Wahl keine Lust gehabt, überhaupt hinzugehen. Ich war trotzdem dort, habe das Wahllokal aber mit einem Gefühl verlassen, das ich noch nicht kannte. Es war, als hätte ich einen Kater. Als hätte ich etwas getan, was ich eigentlich gar nicht tun wollte. Das Gefühl war… Verdrossenheit.
Dieser Text ist meine Antwort auf die Frage, warum Leute mit sehr einfachen Erklärungen in den Augen vieler Menschen plötzlich irgendwie „cool“ aussehen und wählbar werden. Der Text mag nicht einfach zu lesen sein, und meine Antworten werden vielen Leserinnen und Lesern nicht passen, weil ich u.a. behaupte, dass die „vermeintlich Guten“ sich in ihrer eigenen Güte sonnen und immer nur selbst vergewissern, dass sie Recht haben.
Der Gegensatz zwischen dem Ideal der Echtheit und der immer stärkeren Verbreitung strategischer Kommunikation
In den Kommunikationsmodellen und in unseren Idealvorstellungen von Kommunikation ist viel von Echtheit oder Authentizität die Rede. Gleichzeitig wird real häufig gar nicht so echt, sondern eher strategisch kommuniziert. In der geschäftlichen Kommunikation (etwa im Vertrieb oder bei Lieferantenverhandlungen) ist strategische Kommunikation ebenso Usus wie in der politischen Kommunikation. Spätestens mit dem Einsatz von Medienagenturen und Kommunikationsberatern geht es immer weniger um die Frage authentischer Kommunikation, sondern immer mehr um die Frage der Wirkung von Kommunikation. Erreiche ich, was ich erreichen möchte?
Von „echt sein“ zu „echt wirken“
Ganz und gar strategisch wird es, wenn es um die Frage geht, wie ich möglichst echt wirke — also eine Art vorgetäuschter Echtheit benutze, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen. Spätestens mit den sozialen Medien hat das (strategische) Branding die einzelne Person erreicht. Es geht nicht mehr darum, wer ich bin und was ich ggf. zu sagen (oder nicht zu sagen!) habe, sondern es geht oft nur noch darum, wie bei einer Zielgruppe ein bestimmtes Bild entsteht.
Die langsame Gewöhnung an strategische Kommunikation und ihre Folgen: Ein Modell in fünf Stufen
Die heutige Begeisterung für vereinfachende Positionen lässt sich meines Erachtens mit einer Art Gewöhnung an strategische Kommunikation erklären — und vor allem mit den Folgen dieser Gewöhnung. Dieser Zusammenhang lässt sich anhand von fünf Steigerungsstufen darstellen, an deren Ende plausibel wird, warum sich Menschen aus der Gesellschaft kommunikativ mehr oder weniger zurückziehen und dann Menschen wählen, die dem „Establishment“ strategische Kommunikation unterstellen, ihrerseits aber noch offensiver strategisch kommunizieren und dabei mitunter auf „alternative Fakten“ zurückgreifen — und dennoch (oder paradoxerweise gerade deshalb!) zur wählbaren Alternative werden.
Erste Stufe: Es wirkt
Strategisch zu kommunizieren, ist an und für sich nichts Neues. Die Rhetorik war bereits in der Antike eine populäre Disziplin, und Politiker und Werbeleute bedienen sich seit jeher strategischer Kommunikationsinstrumente. Aber wir blicken auf eine Beschleunigung und Intensivierung strategischer Kommunikation zurück. Der Wirkungszusammenhang wurde vielen Machern (Werbeleuten, Propagandaspezialisten, Wahlkämpfern, PR-Beratern usw.) immer bewusster, wodurch es zu immer häufigerem bzw. dichterem Einsatz kam. Gleichzeitig kam es bei den Rezipienten zu einer gewissen Gewöhnung, was die Intensität indirekt noch einmal verstärkte. Auf dieser ersten Stufe bleibt es zunächst bei der Wirkung – ich gestalte etwas, posaune es aus, und es wirkt.
Zweite Stufe: Es muss extremer werden, damit es noch wirkt
Zahllose Rezepte und Bücher zu Werbegestaltung, Rhetorik, PR und Überzeugungstechniken haben zu einer Popularisierung strategischer Kommunikation beigetragen. Präsentationstechniken werden bereits in der Schule gelernt, Werbung ist allgegenwärtig, eine Rede muss besonders gut sein, damit sie in Erinnerung bleibt usw. – all diese Entwicklungen mündeten in eine „allgemeine Verdichtung strategisch geplanter Reize“ (Steigerung der Bildlastigkeit von Medien, Vervielfachung von Werbereizen, Steigerung des Anteils strategischer Kommunikation in der Öffentlichkeit und dort vor allem in der Politik usw.). Das bewirkt, dass Reize „krasser“ werden müssen, um noch aus der Masse herauszustechen. Besonders paradox stellt sich dieser Zusammenhang in Bezug auf die Authentizität dar: Es reicht nicht mehr aus, authentisch zu sein, sondern ich muss „besonders echt“ aussehen, mich von den „weniger echten“ oder „langweiliger echten“ Mitbewerbern um die Aufmerksamkeit unterscheiden. Was wiederum einen wunderbaren Ansatzpunkt für PR-Experten darstellt. Spätestens mit der Verdichtung in der Medienlandschaft (bspw. Privatsender seit den Achtziger Jahren, Etablierung des Internets, Entstehung sozialer Medien) ist Aufmerksamkeit zur begehrten Währung geworden, was aus der Gewöhnung (auf der ersten Stufe) eine gewisse Abstumpfung (auf der zweiten Stufe) hat werden lassen.
Dritte Stufe: Es entstehen Zweifel
Mit zunehmender Gewöhnung und Abstumpfung geht Vertrauen verloren. Bei Rezipienten entsteht bei immer mehr Kommunikationsformen nun so etwas wie eine „prophylaktische Vermutung“, dass es sich um strategische Kommunikation handeln könnte („Die sagt das doch nur, weil…“ oder „Der muss das doch so sagen.“). Die Vermutung, dass etwas strategisch gemeint sein könnte, läuft nun als „Deutungsoption“ mit — noch nicht generell (das geschieht erst auf der nächsten Stufe), aber immerhin als Möglichkeit. In vielen Bereichen gehört strategische Kommunikation wie gesagt zum Spiel dazu (Marketing, PR usw.). Aber wird die strategische Kommunikation immer weiter intensiviert und in immer mehr Bereiche übertragen, dann wächst auch das Bewusstsein, dass es sich um strategische Kommunikation handeln kann. Wenn ich eine Politikerin wählen möchte, brauche ich (eigentlich) eine gewisse „Authentizitätsunterstellung“ oder „Echtheitsvermutung“ — ein gewisses Vertrauen darauf, dass die betreffende Person tatsächlich meint, was sie sagt. Wenn sich aber zu oft — denn bis zu einem gewissen Maß ist strategische Kommunikation in der Politik normal und notwendig — zeigt, dass Äußerungen vor allem strategischen Wirkungscharakter hatten, dann erodiert die für eine Wahlentscheidung notwendige Verlässlichkeitsunterstellung — zunächst langsam, bei noch stärkerer Wahrnehmung strategischer Kommunikation aber immer schneller. Die PR muss ihrerseits nun wieder etwas besser und „lauter“ werden. Wenn dies gelingt, wie bspw. bei der Wahlkampagne für Gerhard Schröder im Jahre 1998, dann wird das als „Kommunikationserfolg“ gefeiert, und die entsprechende Kampagne geht als Meilenstein in die PR-Geschichte ein.
Vierte Stufe: Der Zweifel wird generalisiert und auf andere Bereiche übertragen
Die Folgen dieser Entwicklung sind
- eine gewisse Dynamik aus Gewöhnung/Abstumpfung auf der einen und Reizverstärkung oder Bild- und Storyintensivierung auf der anderen Seite sowie
- als Reaktion auf diese sich beschleunigende Dynamik und Reizverdichtung eine Art gewohnheitsmäßiger Zweifel — was zunächst eine „Deutungsoption“ war (zweite Stufe) wird nun langsam zur generellen Unterstellung.
Aus einem gewissen grundlegenden Zutrauen von Kompetenz oder Gestaltungsmacht oder Verlässlichkeit wird so mit der Zeit eine „Gegenunterstellung“, etwa nach dem Motto: „Ihr handelt sowieso nur strategisch.“ Mag dies zunächst in einzelnen Fällen passieren, kommen — bei weiterer Verwendung und Intensivierung strategischer Kommunikation — Zweifel hinsichtlich aller Vertreter der betreffenden Gruppe (in diesem Fall: Politiker) auf.
Die Gegenunterstellung wird langsam zum Vorurteil. Wenn Politiker dann noch etwas erreichen wollen, müssen sie noch wirksamer kommunizieren. Das führt dann wiederum zu einer weiteren Verstärkung der Anwendung strategischer Kommunikationsmittel. Eine Art sich selbst verstärkender Teufelskreis entsteht. Strategische Kommunikation führt erst zur Gewöhnung, was mit einer gewissen Abstumpfung oder Resistenz gegenüber strategischer Kommunikation einhergeht. Weil man dennoch Wirkung erzielen möchte, muss man „lauter“ oder „fetziger“ oder „krasser“ werden, was wiederum Zweifel an der Echtheit nährt und später zu einem „generalisierten Zweifel“ wird, der sich — wiederum mit der Zeit — zu einem manifesten Vorurteil verdichtet.
Fünfte Stufe: Gegenreaktion
Wenn diese Dynamik erst einmal größere Teile einer Gesellschaft erfasst hat, führt das zu einer Art fatalistischer Gegenreaktion, indem solche Kandidaten gewählt werden, die die etablierten Verhältnisse oder „das System“ generell kritisieren. Diese Kandidaten greifen selbstverständlich auch zu Mitteln, die aus dem Werkzeugkoffer der strategischen Kommunikation stammen. Diese Mittel werden in vielen Fällen sogar offensichtlicher und offensiver eingesetzt. Es wird unverhohlen strategisch kommuniziert, dabei aber den etablierten Kräften unterstellt, (a) daran schuld zu sein, dass strategisch kommuniziert wird und (b) selbst die ganze Zeit nur strategisch zu kommunizieren. Das Paradoxe daran ist, dass dadurch diejenigen, die nur die herkömmliche strategische Kommunikation nutzen, irgendwie blass aussehen und man den „lauteren, unverhohleneren“ Typen irgendwie glaubt – oder auch nicht glaubt, ihren Angriff auf die „Etablierten“ aber dennoch belohnt. Offensichtlich dürfen die „Kritiker“ etwas, das die „Etablierten“ nicht dürfen. Und jene, die das nicht dürfen (und denen ohnehin nicht mehr geglaubt wird), können nichts dagegen tun. Das vorläufige Ende dieser Entwicklung spitzt sich zu einer Aussage zu, die ich in letzter Zeit oft gehört habe: „Dann wähle ich lieber die AfD, damit sich mal etwas ändert.“ Das Vertrauen in die „etablierten“ Kräfte ist so erodiert, dass Menschen, die die Klaviatur der strategischen Kommunikation viel weiter ausreizen, wie eine Art „cooler Rebellen“ wirken (die sie nicht sind, aber als die sie sich sehen und zu denen sie sich vermittels strategischer Kommunikation machen). Gerade durch ihre übertriebenen Darstellungen und Reaktionen führen sie (a) das „etablierte System“ vor und vermitteln (b) auf eine beinahe fatalistische Weise Handlungskompetenz.
Wer sind die Jäger und wer die Gejagten?
Wenn Medien und etablierte Politiker im (vermeintlichen, denn es glauben ja immer weniger) Interesse der Demokratie aufschreien, wenn von „alternativen Fakten“ (die Formulierung stammt meines Wissens von Kellyanne Conway) die Rede ist, dann tun sie genau das, was sie tun müssen, damit die anderen noch ein bißchen mehr wie „coole Rebellen“ aussehen. Insofern ist m.E. eine sehr interessante Frage, wer hier der Jäger ist und wer der Gejagte bzw. wer hier wem das Stöckchen hinhält und wer darüber springt. Mit ihren üblichen Reaktionen machen viele Politiker der etablierten Parteien (und auch viele Journalisten) nur eines: Wahlkampf für ihre Gegner.
„Das kann uns hier nicht passieren.“
Vor einer ganzen Reihe von Jahren war ich der Meinung, ich sollte nicht nur kritisieren, sondern mitmachen. Also bin ich in die CDU eingetreten und habe mich engagiert. Mir sind dort einige Menschen begegnet, deren Engagement und deren Worte echt waren und auch heute noch sind. Vor diesen Leuten habe ich — wie auch vor allen anderen ehrlich engagierten Menschen in anderen Parteien — großen Respekt. Aber mir sind auch andere Menschen begegnet. Ich erinnere mich an den Bürgermeister einer sächsischen Kleinstadt, der meine Frage, wie er mit der sich abzeichnenden Erweiterung der Parteienlandschaft umzugehen gedenkt, einfach mit der Bemerkung „Das kann uns hier nicht passieren.“ weggewischt hat. Das besagte Gespräch hat vor knapp zehn Jahren stattgefunden, und die Ironie der Geschichte aus heutiger Sicht lautet: Solche Einlassungen werden heute vielerorts vom Wahlergebnis weggewischt.
Was ist schlimmer als Kritikunfähigkeit? Kein Interesse an Menschen und anderen Meinungen zu haben
Dieses an sich banale Beispiel steht für eine Art gewohnheitsmäßiger Bräsigkeit, die mir oft begegnet ist. Politische Macht wird nach vielen — und im Falle der sächsischen CDU: leider noch mehr — Jahren so selbstverständlich, dass bereits die Option potentieller Kritik auf eine seltsam anonyme und automatische Weise ausgeschlossen wird. Es war wirklich schwer, mit manchen dieser an Macht gewohnten und trägen Menschen zu sprechen. Manche wirkten noch nicht einmal kritikunfähig, sondern einfach nur frei von jedem Interesse für andere als die eigenen Sichtweisen — und schlimmer noch: frei von Interesse an Menschen überhaupt. Ich bewundere deshalb umso mehr die Hartnäckigkeit jener, die an die Wandlungsfähigkeit der CDU von innen heraus glauben (auch wenn ich das nicht mehr unbedingt tue).
Die einen rufen nach der Rettung der Demokratie, und die anderen meinen, gerade jetzt demokratisch zu handeln
Viele Menschen haben den Glauben daran verloren — und empfinden die politische Kommunikation dementsprechend als Farce. Wenn dann auf Kritik noch belehrend oder gar herablassend reagiert wird, driften viele, die sich nicht mehr verstanden fühlen, in Richtung härterer Positionen. Spätestens dann wird die Betonung, man solle sich an die demokratischen Spielregeln halten, zum Wahlkampf für jene, deren Wahlsieg man eigentlich vermeiden will. Denn aus Sicht derer, die die Hoffnung auf eine Erneuerungsfähigkeit der etablierten Kräfte verloren haben, ist ihre Abkehr bzw. die Wahl härterer Positionen vor allem eines: tatsächliche Demokratie. („Ich wähle jetzt so, damit sich hier was ändert. Ich weiß, dass die Leute, die ich wähle, vielleicht auch nicht besser sind, aber sonst ändert sich hier gar nichts.“)
Manchmal werde ich dafür kritisiert, dass meine Texte zwar oft zutreffende Problemanalysen liefern, ich aber nicht verrate, was sich praktisch tun ließe. Ich will deshalb diesen Text mit einigen praktischen Handlungsmöglichkeiten beenden.
Was oft getan wird und nicht hilft: mehr vom Selben
Wenn sich Situationen zuspitzen, handeln viele Menschen nach dem Muster „mehr vom Selben“. Was gestern vielleicht noch eine Diskussion war, wird zunehmend zum Schlagabtausch, Positionen werden immer schärfer formuliert usw. Das ist das Muster von Eskalationen. Bezeichnend ist, dass den Beteiligten, je mehr die Diskussion an Schärfe gewinnt, die Fähigkeit, Verständnis zu zeigen, umso mehr abgeht. Und mehr noch — man verwendet die gleichen Methoden, die zur Zuspitzung der Situation geführt haben, immer häufiger. In jüngerer Zeit hat man bspw. auf die Kritik an der „Willkommenskultur“ vor allem mit Belehrungen reagiert. Wird die Kritik dann schärfer, betont man, dass man bestimmte Meinungen so gar nicht äußern dürfe. Eine der Ursachen des Problems wird quasi beim Versuch, das Problem zu lösen, noch häufiger verwendet als während der Entstehung des Problems.
Widerstand als das verstehen, was er ist: eine Reaktion auf Entscheidungen
Eine konkrete Handlungsmöglichkeit wäre also, Kritik als das zu verstehen, was sie ist: als Reaktion auf politische Entscheidungen. Wir weichen den Extremismusbegriff auf, wenn wir zu vielen Menschen unterstellen, Extremisten zu sein. Dann fehlen uns die Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Skeptikern, Kritikern, „Abgemeldeten“ (nicht: „Abgehängte“, sondern: Menschen, die die Hoffnung verlieren und sich quasi „abmelden“, siehe dazu diesen Text), Radikalen und Extremisten. Der gegenwärtige Umgang mit der AfD ist nicht geeignet, das „Problem“ zu bearbeiten, sondern er führt nur zu weiterem Wählerzulauf.
Wirklicher Dialog statt Entmenschlichung der Gegenseite
Was anstelle von „mehr vom Selben“ helfen würde, wäre tatsächlicher Dialog, tatsächliches Zuhören. Die Eskalation während der vergangenen Jahre hat die Chancen, tatsächlich miteinander zu reden, verringert. Aber ein „liebender Kampf“ ist meines Erachtens eine Handlungsoption, die noch kaum versucht wurde. Mit „liebendem Kampf“ meinte Karl Jaspers einmal eine Art und Weise des Umgangs, der die Austragung auch heftiger Diskussionen ermöglicht, ohne das miteinander Verbindende aufzugeben. Das Verbindende ist beispielsweise der Ort oder das Land, in dem wir leben, oder die Annahme, dass wir alle Menschen sind (und ja, die gegenwärtigen Diskussionen werden oft von einer Art „Entmenschlichung“ des Gegenübers begleitet, insbesondere in manchen sozialen Medien). Jedes Handeln braucht eine Hoffnung, und Politiker brauchen die Hoffnung, dass sie sich – auch über Gräben hinweg – einigen können, wenn auch nicht ganz, dann vielleicht doch bezüglich wichtiger Punkte. Diskussionen darüber, dass man ja mit bestimmten Leuten nicht reden dürfe, sind nicht hilfreich. Auch prophylaktische Koalitionsverbote sind es nicht. Erinnern wir uns doch einmal an den Umgang mit der LINKEN (oder deren Vorläuferpartei) in den Neunziger Jahren. Da wurde viel Grundsätzliches proklamiert — sicher aus nachvollziehbaren Gründen, aber eben überhaupt nicht hilfreich, denn was ist denn am Ende Schlimmes passiert, als dann unter dem Druck der Notwendigkeit doch Koalitionen möglich wurden?
Es braucht eine politische Haltung gegenüber der AfD
Oh, oh, ich höre schon die Kritik: Sie argumentieren also für eine Koalition mit der AfD. Und Sie vergleichen die AfD mit der LINKEN. Beides habe ich nicht gesagt. Beides wären Zuspitzungen, wie sie manche Journalisten zu mögen scheinen. Ich meine den Umgang mit (anders) denkenden Menschen. Ich meine die Haltung, mit der ich anderen Menschen entgegentrete. Ich meine, dass es einen Unterschied macht, wenn ich sage: „Ich will nicht mit…koalieren.“, anstatt zu sagen: „Eine Koalition mit… wird von meiner Partei generell ausgeschlossen.“ Die letztere Aussage gleicht einem polarisierenden Vorurteil — und verstärkt die oben unter Punkt 5 beschriebene Gegenreaktion. Die Vereinigten Staaten unter Donald Trump beweisen ja, dass das Leben „dennoch“ weitergeht. Klar mag für viele der politische Umgang mit dem heutigen Präsidenten schwieriger sein als mit seinem Vorgänger, aber welche Wirkung versprechen sich jene von ihren Handlungen, die den Präsidenten als Narzissten, kognitiv Fünfjährigen usw. diagnostizieren? Das hilft praktisch gar nichts — im Gegenteil: es wird dadurch nur schlimmer —, weil das „Problem“ Trump politisch entstanden ist. Und wenn etwas politisch entstanden ist, muss man auch politisch damit umgehen, braucht also im besten Sinne auch eine „politische Haltung“ dazu. Es braucht also m.E. eine politische Haltung im Umgang mit der AfD. Das schließt u.a. die Selbstkritik ein, sich politische Gedanken darüber zu machen, was der eigene Beitrag am Erstarken der AfD war.
Mut zur Echtheit
Wenn meine obigen Analysen zutreffen, dann krankt unsere politische Kommunikation an einem Zuviel an strategischer Kommunikation und einem Mangel an echten, verbindlichen Meinungen. Ich unterstelle, dass wir, wenn wir uns öffentlich äußern, zu viel darüber nachdenken, wie wir etwas sagen, damit wir eine bestimmte Wirkung erreichen und/oder gut „rüberkommen“. Wovon wir momentan zu wenig haben, ist der Mut, die eigene Meinung auszusprechen und damit ggf. allein zu sein. Wir sichern uns ab, es darf keine negativen Folgen für das Image haben. Und wenn wir einmal etwas sagen, von dem nicht sicher ist, dass es Beifall findet, dann ist oft genug auch das geplant — quasi zur Generierung von Aufmerksamkeit. Wenn ich nur noch mit strategischer Kommunikation konfrontiert bin, wird das Leben zur Folge taktischer Schritte. Im Extremfall weiß ich am Ende nicht mehr, was an mir noch echt und was gelogen ist. Es geht um die Frage: „Was will ich?“ und nicht um die Frage: „Was ist klug, jetzt zu wollen oder zu sagen?“ Es ist meines Erachtens an der Zeit, auf das uns Verbindende zu achten anstatt immer wieder zu thematisieren, was uns trennt. In erster Linie sind wir Menschen — mit einer längeren oder kürzeren Geschichte, mit oder ohne Kinder, mit mehr oder weniger Erfolg im Beruf, gesünder oder weniger gesund, mit dickeren oder dünneren Klamotten, mit mehr oder weniger Träumen im Kopf, mit mehr oder weniger Interesse an anderen Menschen und mit mehr oder weniger Vertrauen in andere Menschen. Wenn wir darauf schauen, was uns verbindet und Interesse aneinander zeigen, werden viele Dinge verständlicher und einfacher. Aber es erfordert natürlich die Aufgabe von Vorurteilen — und mit Vorurteilen erscheint die Welt immer einfacher als ohne. (Zum praktischen Umgang mit Vorurteilen lesen Sie diesen Text.)
Jedes Handeln braucht eine Hoffnung
Ich bin kein Idealist, aber auch kein Pessimist. Vielleicht bin ich ein „trauriger Optimist“: Ich weiß, dass es nicht einfach ist und nicht immer gelingt. Es gibt Fälle, in denen es nach ein paar fehlgegangenen Versuchen besser ist, nicht mehr miteinander zu reden. Manche Vermittlungsversuche, die ich von Berufs wegen unternehme, gelingen, andere scheitern. Aber wie auch immer es ausgeht: man muss es versuchen, sonst werden die Gräben zu tief.