Eine vielleicht etwas übertriebene These: Je mehr wir über Kommunikation reden, je häufiger Kommunikation zum Teil von Schulungen wird, desto seltener gelingt Kommunikation. Die gängigen Kommunikationsmodelle, die auf solchen Trainings und Schulungen gelehrt werden, haben ein Defizit: Sie stammen aus Zeiten, als man „irgendwie selbstredend“ davon ausging, dass alle Beteiligten kommunizieren wollen. Nach dem Motto: Wenn man nur bestimmte Regeln einhält, dann wird das schon. Aber was tun wir, wenn sich ein größer werdender Teil gar nicht an Regeln halten möchte?
In den Kommunikationsmodellen ist viel von Authentizität die Rede. Echtheit sei in der Kommunikation sehr wichtig. Doch während wir dies in den Schulungen und Trainings immer wieder gehört haben, hat die strategische Kommunikation einen Sieg nach dem anderen eingefahren. Wir überlegen uns genau, wie wir etwas sagen, wann wir es sagen, in welcher Reihenfolge usw. Authentizität verträgt sich aber nicht mit Wirkungsorientierung. Es ist mittlerweile soweit, dass wir oft ganz selbstverständlich unterstellen, es werde strategisch kommuniziert. Die Gegenreaktion auf (zu viel) strategische Kommunikation ist die Unterstellung, dass das, was gesagt wird, ohnehin unglaubwürdig ist. Meines Erachtens wird auf diese Weise ein beachtlicher Teil der so genannten „Politikverdrossenheit“ plausibel. Von dieser Gegenreaktion ist es dann nicht weit zu den gegenwärtig zu beobachtenden Wahlphänomenen. Es werden Leute gewählt, die ihrerseits nicht nur strategisch kommunizieren, sondern zusätzlich (a) allen anderen Beteiligten unterstellen, strategisch zu kommunizieren und (b) die Echtheit der eigenen Kommunikation mit „alternative facts“ auf paradoxe Weise nachweisen. Das Problem dabei: Vielen Rezipienten ist das sehr wohl bewusst. Sie finden das aber gut, weil die bewusste Übertreibung der strategischen Kommunikation und all die „alternative facts“ zwar ein übertriebenes Zerrbild der „normalen“ strategischen Kommunikation sein mögen, emotional aber wie eine Art Rache wirken: „Dann wähle ich lieber die, sollen die ganzen Lügner doch sehen, was sie davon haben. Dann ändert sich wenigstens was.“
Je mehr wir über Echtheit reden, desto mehr gleitet sie uns aus den Händen. Die Liste an Beispielen ist lang: Viele Menschen werden zu Lebenslaufoptimierern und verlieren den Sinn ihres Lebens aus den Augen, nur umso mehr danach zu suchen. Der Abbau von Konventionen mag für viele Menschen eine Befreiung gewesen sein, wenn es aber außer dem Individuum keine Orientierungen mehr gibt, nichts mehr „größer ist als wir“, dann wird Selbstverwirklichung zur Selbstrotation. Was wir brauchen, ist Mut. Mut zur eigenen Meinung. Mut, sich verletzlich zu machen und Unsicherheit zu ertragen. Mut, Fragen zu stellen und Interesse an Menschen zu haben, an denen man sonst vielleicht kein Interesse hätte. Mut, nach dem Verbindenden zu suchen. Mut, den eigenen ideologischen Bunker zu verlassen und die – trügerische, weil vermeintliche – Sicherheit der strategischen Kommunikation zu verlassen. Das ist schwer in Zeiten, in denen Status und Anerkennung in Likes und Followern gemessen werden.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären im Urlaub auf einem Zeltplatz in den Bergen ohne Handynetz. Sie haben zwar Ihr Zelt dabei, aber etwas fehlt, und Sie sehen, dass Ihr Zeltnachbar Ihnen helfen kann. Sie gehen hin und fragen. Sie bekommen die gewünschten Gegenstände ausgeliehen, ein Gespräch entspinnt sich, sie finden Ihr Gegenüber ziemlich nett. Nach ein paar Tagen verabschieden Sie sich herzlich und bedanken sich für die Hilfe und die schönen Gespräche. Beim Wegfahren schauen Sie zurück und bemerken einen Ihrer Meinung nach ziemlich finsteren Aufkleber auf dem Heck des Autos Ihres Nachbarn. Was wäre passiert, wenn es andersherum gewesen wäre und Sie den Aufkleber zuerst bemerkt hätten?
PS: Dieser Text ist im Nachgang zu meinem Vortrag mit dem Titel „Mit dir kann ich nicht sprechen: Zum Umgang mit Widerständen und unterschiedlichen Meinungen“ auf dem Fachtag der Transferagentur Hessen am 15. Mai 2019 in Offenbach/M. entstanden. Einer der Teilnehmer hatte gefragt, welche Kommunikationsmodelle angesichts der gegenwärtigen Situation in unserer Gesellschaft hilfreich wären. Nach meinem Dafürhalten liefert die amerikanische Forscherin Brené Brown mit ihrem Buch „Braving the Wilderness“ einige der gegenwärtig besten Antworten auf diese Frage.