Eines späten Nachmittags im November 2011 saß ich im Zug von Cottbus in Richtung Görlitz, als auf einem der dazwischen liegenden Dörfer eine Frau mit einem Fahrrad in den Zug stieg. Ihr Alter ließ sich schlecht schätzen, irgendetwas zwischen 55 und Ende 60, mit einer rosa Strickmütze und einer wattierten Jacke. Ich konnte mir die Frau gut in einem der typischen kleinen Häuschen der Gegend vorstellen, mit dem Mann gab es vielleicht nicht mehr allzu viel zu besprechen, dafür kamen am Wochenende die Enkel aus der Stadt. Soviel zu meinem ersten Eindruck, bei dem es in den nächsten Minuten ganz und gar nicht bleiben sollte. Ich wandte mich wieder der Zeitung zu, als die Frau ein Gespräch mit dem Schaffner begann. Man kannte sich offenbar, vielleicht traf man sich öfter auf diesem Streckenstück. Nachdem man die Wetterlage und die letzten bemerkenswerten Anekdoten aus dem Zug abgehakt hatte, kam die Rede auf die damals in allen Medien sehr präsenten Terroristen des “Nationalsozialistischen Untergrunds”. Bis dahin hatte ich nur mit einem Ohr zugehört, mehr zwangsläufig als willentlich, denn das Gespräch fand keine zwei Meter entfernt von mir statt. Plötzlich wurde die ältere Frau laut: “Das sind keine Terroristen, das sind Freiheitskämpfer. Wenn das Terroristen sind, dann bin ich auch eine Terroristin. Das kann ja nicht wahr sein, das geht nicht so weiter mit diesem Land!” Ich war einigermaßen baff und fragte mich, ob Oma dreizehn bomberbejackte Enkel hat, oder ob sie wirklich so denkt. Der Schaffner gab sich einstweilen Mühe, das Gespräch zu beenden und verschwand rasch in einen anderen Teil des Zuges. Strickmütze, wattierte Jacke, Halstuch, Fahrrad mit rosa Gepäckkorb – Nazis sehen anders aus. Für eigene Erinnerungen war die Dame außerdem zu jung. Blieb die Enkel-Theorie. Aber die Bomberjackenzeiten waren vorbei, selbst hier an der polnischen Grenze sah man das regelrechte Fascho-Outfit der Neunziger Jahre nur noch extrem selten. Außerdem hört man selten, dass die Enkel die Großeltern überzeugen, die Richtung des Einflusses verläuft eher umgekehrt.
Was war da los? War es vielleicht doch eine im Rahmen des Normalen mögliche, beinahe alltägliche Sichtweise? Und wo kam das Wort “Freiheitskämpfer” her? Vermischten sich da nicht zwei Welten, indem nationalsozialistische Terror- und real-sozialistische Propagandabilder ineinanderflossen? Oder waren diese Welten früher nur scheinbar getrennt? Haben sich beide totalitären Systeme in den Köpfen überlagert und sind zwanzig Jahre nach der Wende kaum noch zu trennen? Oder sind sie nie getrennt gewesen?
Über so etwas wird im Osten Deutschlands kaum gesprochen. Von außen kommend scheinen Erklärungen einfach zu sein, etwa dass es an der kollektiven Erziehung oder der totalitären Überwachung und Bevormundung liege. Aber das greift zu kurz und wird im Osten schnell als Geste der Überlegenheit empfunden. Und aus einer Innenperspektive erscheint es alles andere als einfach zu sein, Antworten zu finden. Denn die Antworten betreffen jeden ganz persönlich – jedoch war es nie ein beliebter Breitensport, sich mit Fragen nach der eigenen Person auseinanderzusetzen.
Aber die Diskussion, wer wir sind, was unsere Identitäten ausmacht und warum wir so leben und arbeiten, wie wir leben und arbeiten, ist überfällig.
Sabine Rennefanz hat unlängst damit begonnen.
Sie erzählt in ihrem Buch “Eisenkinder” ihre ganz persönliche Geschichte, und sie tut das so authentisch, dass ich tatsächlich eine ganze Generation darin erkenne – die tief wurzelnde Unsicherheit, die manchmal allzu schnellen und oft radikalen Entscheidungen, die Wurzellosigkeit, das Hin und Her zwischen den Welten.
Als Böhnhardt und Mundlos im November 2011 tot aufgefunden wurden und der Medienrummel losbrach, habe ich entgegen den damals weit verbreiteten Erklärungen gedacht, dass ich in den Neunzigern einige Leute kannte, aus denen hätten Terroristen werden können. Und ich habe mich gefragt, was aus mir geworden wäre, wenn mein Leben zur Wende und kurz danach anders verlaufen wäre. Gerade weil Sabine Rennefanz mit diesen Fragen zutiefst irritierter ostdeutscher Lebensläufe so offen umgeht und die Erschütterungen in ihrem Leben seismographisch und ungeschönt nachzeichnet, ist es nicht nur ein ehrliches, sondern auch ein gutes Buch.
Der Text wirkt am Ende etwas abgebrochen, die Analyse beginnt zwar, wird aber nicht weitergeführt. Vielleicht ist gerade das aber auch gut so, denn Sabine Rennefanz beginnt eine Diskussion, die tatsächlich geführt werden muss, bisher aber kaum begonnen hat. Insofern ist dem Buch zu wünschen, recht umstritten zu bleiben und die Gemüter lange zu bewegen. Das Zeug dazu hat es, aber es ist, soviel sei gesagt, keine bequeme Reise, denn der Text fordert heraus, zunächst einmal die eigene Distanz und manche liebgewordene “Begradigung” aufzugeben.