Auch wenn mancher einer es kaum glauben mag, dass sich in den Tiefen des Social-Media-Molochs Facebook sinnvolle Gedankenanstöße finden lassen, stolperte ich beim durchscrollen meiner Timeline auf ein Zitat von James Baldwin:
„Ich vermute, einer der Gründe, warum Menschen so hartnäckig an ihrem Hass festhalten, ist, weil sie spüren: wenn der Hass einmal verschwunden ist, werden sie gezwungen sein, sich mit Schmerz zu beschäftigen.“
Dieser Satz spukt nun seit einigen Wochen durch meinen Kopf und lässt mich nicht los. Da ich mich in den letzten Jahren intensiver mit Emotionen und deren Regulation beschäftige, habe ich einige Gedanke dazu im Kopf, die ich hier gern niederschreiben möchte. Doch zunächst eine kleine Geschichte aus meinem Alltag:
Ich beging den fatalen Fehler, eines Samstages, ein Einrichtungshaus eines bekannten schwedischen Möbelherstellers zu besuchen. Clevere Marketingexperten hatten die wunderbare Idee, das Einkaufserlebnis durch eine Selbstbedienungsgastronomie zu bereichern, sodass ich mit einem selbst zusammengebauten Hot Dog in der Hand, im Gastronomiebereich, an einem Stehtisch stand. Am Nebentisch kam eine Familie gerade mit ihren, noch nicht vollendeten Hot-Dog-Bausätzen an. Der Vater der Familie, stellte seinen Einkaufswagen so vor den Stehtisch, dass niemand anderes den Bereich betreten konnte. Anschließend verließ die Familie den Tisch, um ihr Hot Dog an den, dafür vorgesehenen, Stationen zu komplettieren. In dieser Zeit näherte sich eine zweite Familie, mit bereits fertigen Hot Dogs, auf der Suche nach einem Platz, um diese zu essen. Der einzige freie Tisch war jener, welcher von Familie 1 mit einem Wagen blockiert worden war. Sie schoben den Wagen leicht zur Seite und stellten sich an den Tisch. Als Familie 1 zurückkehrte entspann sich folgender Dialog:
Vater 1 (Puls 180):
Was soll denn das? Denken Sie der Wagen steht da umsonst? Sie können den doch nicht einfach zur Seite schieben! Geht´s noch?
Mutter 2:
Bitte entschuldigen Sie, wir wussten nicht, dass Sie hier stehen
wollten. Es war der einzige freie Tisch.
Vater 1:
Na das sieht man doch! Und überhaupt, Sie haben doch einen Mund. Da kann man ja auch einfach mal fragen!
Vater 2:
Kommt wir suchen uns einen anderen Platz.
Sohn 2 (ca. 27):
(Im Gehen hörbar zu seiner Familie) Das ist genau so ein Schwachsinn wie mit den Handtüchern am Strand.
Vater 1:
(explodierend zu Sohn 2) Ja mit Schwachsinn kennst du dich offensichtlich aus!
Warum der Vater dieser ersten Familie so extrem emotional reagierte, darüber kann man spekulieren. Bemerkenswert ist allerdings wie schnell die Situation, wegen einer Lappalie wie das Wegschieben des Wagens, eskalierte und zu wüsten Beschimpfungen führte.
Ich erlebe solche Situationen in der letzten Zeit häufiger. Dies kann daherkommen, dass ich mehr darauf achte als früher. Die zweite Möglichkeit ist, dass die Wut immer häufiger ihren Weg in die Öffentlichkeit findet. Auch in den Kommentarspalten der Social-Media-Plattformen eskalieren die Gespräche schnell und münden nicht selten in einem Strom von wüsten Beschimpfungen und verbalen Attacken. Ohne dies empirisch belegen zu können habe ich das Gefühl, die Menschen sind dünnhäutiger geworden, ihre Zündschnüre kürzer.
Ich stellte mir also die Frage weshalb sind die Menschen so schnell wütend und fahren aus der Haut? Dann stieß ich auf das oben genannte Zitat von James Baldwin. Davon inspiriert, möchte ich einen Erklärungsversuch aus psychologischer Sicht unternehmen.
Woher kommen Emotionen?
Das Leben einer Emotion beginnt im tiefsten Inneren unseres Gehirns, in einem Areal, das als Amygdala oder auch Mandelkern bezeichnet wird. Dieses Areal gehört zu den ältesten Regionen unseres Gehirns und ist Herberge unseres Stresszentrums. Seit Anbeginn der Zeit ist die Aufgabe des Mandelkerns unsere Umgebung zu beobachten und Alarm zu schlagen, wenn uns etwas bedroht. Zunächst waren dies Umweltgefahren wie beispielsweise ein herannahender Säbelzahntiger. In heutiger Zeit sind diese Gefahren abstrakter. Dies kann zum Beispiel ein Ziel oder ein Bedürfnis sein, welches bedroht wird. Erkennt der Mandelkern eine solche Gefahr startet dieser eine Kettenreaktion welche bestimmte Botenstoffe freisetzt, die in unserem Körper eine unspezifische Stressreaktion auslösen. Symptome sind z.B. Schweißausbruch, Muskelanspannung, schnellerer Herzschlag, das Gefühl, der Magen zöge sich zusammen und einiges mehr. Dieses unspezifische Gefühl wird im zweiten Schritt von einem weiteren Hirnareal, dem präfrontalen Kortex (einem deutlich jüngeren Hirnareal) im Kontext der Situation betrachtet und auf Grundlage unserer früheren Erfahrungen bewertet. Je nachdem wie diese Bewertung ausfällt entsteht eine konkrete Emotion wie Trauer, Scham, Wut, etc. Dieser folgt dann eine Reaktion oder eine Handlung. Über die initiale Aktivierung des Mandelkerns haben Menschen keine Kontrolle. Sie findet automatisch statt. Eine Regulation ist prinzipiell erst im zweiten Schritt möglich. Ist die Intensität dieser Aktivierung allerdings zu groß, hat der präfrontale Kortex keine Chance einzugreifen. Das funktioniert erst, wenn die Stressreaktionen nachlassen. Daher kommt die Weisheit „Atme erst einmal tief durch!“ Mit einer ruhigen Atmung und dem bewussten entspannen der Muskulatur, lässt die Aktivierung der Amygdala nach und der präfrontale Kortex kann arbeiten. Am Ende bedeutet dies, dass wir Menschen prinzipiell die Möglichkeit haben, aktiv an der Regulation unserer Emotionen zu arbeiten und auf unterschiedliche Weise zu reagieren.
Aber warum siegt die Wut?
Wenn Vater 1 aus meiner kleinen Geschichte die Wahl hatte, weshalb hat er sich (unbewusst) für die Wut entschieden? Er hätte die Situation auch einfach ertragen können. Am Stehtisch war genug Platz für zwei Familien. Nun meine Theorie ist die folgende: Auch wenn man sich bewusst entscheiden würde nicht mit Wut zu reagieren, ist die Aktivierung des Mandelkerns ja schon erfolgt. Etwas hat meine Ziele bedroht. Die Alternative zur Wut wäre dann: Schmerz. Vater 1 hätte ertragen müssen, dass sein Plan allein mit seiner Familie das Hot Dog zu essen nicht aufging. Er hätte ertragen müssen, dass sein Signal (der Einkaufswagen) von anderen Menschen nicht verstanden wurde. Er hätte aushalten müssen, dass es eben auch andere Menschen ihr Hot Dog essen möchten. Der Schmerz allerdings ist ja eher ein passives Gefühl. Schmerz ertragen, ihn zu akzeptieren ist kein proaktives Handeln. Die Wut hingegen ist ein herrlich aktives Gefühl. Es macht uns stark, es gibt uns Kraft und bietet eine vermeintlich schnelle und einfache Lösung an. In unserer heutigen Lebenswelt sind wir so privilegiert, dass wir nur selten Geduld brauchen oder etwas lange aushalten müssen. Haben wir Kopfschmerzen nehmen wir eine Tablette, hilft die nicht, gehen wir zum Arzt, hat der geschlossen gehen wir in die Notaufnahme oder rufen gar die 112. Gibt es zu viel Streit in der Beziehung oder der Ehe wird sie beendet. Wollen wir von A nach B steigen wir in das Auto oder die Bahn. Brauchen wir Geld gehen wir zur Bank. Alles ist schnell und nahezu unbegrenzt verfügbar. Funktioniert mal etwas nicht sofort, drehen wir durch. Man möge mir diese extreme Vereinfachung verzeihen. Natürlich gibt es auch Situationen, in denen wir auch mal etwas aushalten müssen. Diese Situationen sind aber seltener und ich beobachte oft Menschen (auch mich selbst), die in genau solchen Situationen eben mit Wut oder gar Hass reagieren. Möglicherweise eben, um ein Stück Kontrolle zurück zu gewinnen. Denn wenn die Wut nicht wäre, wäre da nur der Schmerz, den wir ertragen müssen.
Die gute Nachricht ist…
wir haben eine Wahl. Aushalten und Akzeptieren kann man üben. Ich kann mich aktiv entscheiden mich eben nicht weiter aufzuregen, tief durchzuatmen. Wut führt oft in eine Sackgasse und resultiert in einem Kampf, bei dem es nur Verlierer gibt. Eine gemeinsame Lösung liegt dann in weiter Ferne. Missverständnisse, widerstreitende Interessen, nicht erfüllte Bedürfnisse, sind ganz normale menschliche Phänomene. Solange wir auf dieser Erde wandeln, wird sich das auch nicht ändern. Wir können uns entscheiden, wollen wir kämpfen bis nur noch einer steht oder wollen wir lernen zu ertragen, uns gegenseitig auszuhalten und nach einem gemeinsamen Weg suchen. Aus meiner Sicht ist dies die einzige Chance, langfristig gesund und handlungsfähig zu bleiben.
Allerdings: Ab und zu ein bisschen Wut kann nicht schaden, auch sie kann man annehmen und akzeptieren. Sie ist ein Signal an uns selbst. Sie gibt uns einen Hinweis auf die Bedürfnisse und Wünsche, die wir haben. Sie sagt mehr über uns, als über die anderen. Die Frage ist, lasse ich die Wut die Kontrolle übernehmen oder bleibe ich Herr im eigenen Haus und nutze die Energie der Wut konstruktiv.