Ziehst Du Dein Unternehmen noch, oder schiebt es Dich schon?

In einem Gespräch mit dem Geschäfts­füh­rer einer Ret­tungs­dienst-Gesell­schaft, die ich als Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­ler beglei­te, for­mu­lier­te mein Gesprächs­part­ner eine Fra­ge, die mir seit­her nicht mehr aus dem Kopf geht. Weil sie tref­fend ist. Weil sie vie­les, wor­um sonst vie­le Wor­te gemacht wer­den, in weni­gen Wor­ten zusammenfasst.

Gegen­stand des Gesprächs waren die nächs­ten Ent­wick­lungs­schrit­te des Unter­neh­mens. Anders als in man­chen ande­ren Unter­neh­men der Bran­che hat­te man nicht mit dem Bud­get zu kämp­fen oder steck­te in kom­pli­zier­ten Ver­hand­lun­gen mit dem Kos­ten­trä­ger — im Gegen­teil: Die Din­ge hat­ten sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren gut ent­wi­ckelt, und man woll­te wachsen.

Aber Wachs­tum stellt ande­re Her­aus­for­de­run­gen an Füh­rungs­kräf­te als das Manage­ment eines vor­han­de­nen „Sta­tus quo“. Man ist, wenn die Zei­ger auf Wachs­tum ste­hen, qua­si dazu „ver­dammt“, das eige­ne Unter­neh­men von der Zukunft her zu denken.

In Bezug auf die Eig­nung des Füh­rungs­krei­ses der Gesell­schaft — und ins­be­son­de­re mit Blick auf die­je­ni­gen Füh­rungs­kräf­te, in deren Regio­nen das Wachs­tum statt­fin­den soll­te, mein­te mein Gegen­über, dass man sich als Füh­rungs­kraft immer fra­gen müs­se, ob man das Unter­neh­men noch zie­he oder ob es einen schon schiebe.

Gera­de im sozia­len Bereich ist die­se „Den­ke“ nicht so ver­brei­tet, wie ich mir das wün­sche — zu sehr ist man damit beschäf­tigt, das All­tags­ge­schäft zu mana­gen, die Mit­ar­bei­ter bei der sprich­wört­li­chen Stan­ge zu hal­ten und die Wider­sprü­che, die zwi­schen dem ver­han­del­ten Bud­get einer­seits und den Inter­es­sen der Mit­ar­bei­ter und ande­ren Ansprü­chen ent­ste­hen, irgend­wie auszugleichen.

Nun ist der Ret­tungs­dienst zudem auch noch eine recht hete­ro­ge­ne und des­halb bis­wei­len undank­ba­re Bran­che. Wäh­rend die Ret­ter in den gro­ßen Städ­ten mehr oder min­der von Ein­satz zu Ein­satz het­zen, ver­ge­hen die Schich­ten in man­cher Außen­wa­che in pro­vin­zi­el­le­ren Lagen durch­aus auch manch­mal ohne Ein­satz. Wäh­rend also die einen ganz berech­tigt Zei­chen von Über­las­tung zei­gen („burn out“), machen sich auf der ande­ren Sei­te bis­wei­len Phä­no­me­ne breit, die nur als Zei­chen von Unter­for­de­rung oder „zu viel Zeit“ zu erklä­ren sind („bore out“).

So oder so — zumin­dest die Füh­rungs­kräf­te soll­ten sich fra­gen, wie es mit ihrer Orga­ni­sa­ti­on wei­ter­geht. Spä­tes­tens der Fach­kräf­te­man­gel macht auch vor Ret­tungs­diens­ten nicht halt.

Hier nun teilt sich sprich­wört­lich die Spreu vom Wei­zen. Wäh­rend sich die einen fra­gen, was sie tun kön­nen, um auch in Zukunft als Arbeit­ge­ber attrak­tiv zu blei­ben, beschwe­ren sich die ande­ren über unmo­ti­vier­te jun­ge Nach­wuchs-Mit­ar­bei­ter bzw. über deren über­zo­ge­ne Erwar­tun­gen, etwa an die Fle­xi­bi­li­tät von Schichtplänen.

Das mag ein all­zu pla­ka­ti­ves Bei­spiel sein, aber es ver­deut­licht, wor­um es geht: Tue ich als Füh­rungs­kraft, wofür ich bezahlt wer­de? Dann den­ke ich dar­über nach, was ich tun kann, um als Arbeit­ge­ber attrak­tiv zu blei­ben. Dann beschäf­ti­ge ich mich mit der Fra­ge, wie der Ret­tungs­dienst der Zukunft aus­sieht und was orga­ni­sa­to­risch und füh­rungs­tech­nisch pas­sie­ren muss, damit auch in Zukunft Men­schen gern bei mir arbei­ten. Oder lamen­tie­re ich über die ach so selt­sa­men und immer unpas­sen­der erschei­nen­den Mit­ar­bei­ter? Dann mana­ge ich den Sta­tus quo — irgend­wie. Und wenn ich Glück habe, errei­che ich mein Ren­ten­al­ter ohne nen­nens­wer­te Zuspit­zung irgend­wel­cher Probleme.

Frei­lich gibt es unpas­sen­de Mit­ar­bei­ter. Wenn man mit heu­te jun­gen Men­schen zu tun hat, bemerkt man, dass manch­mal — gefühlt häu­fi­ger als frü­her — „dann doch nicht passt“. Men­schen wer­den heu­te auf Augen­hö­he erzo­gen, wis­sen unter Umstän­den erst spät, was sie wirk­lich wol­len, pro­bie­ren mehr aus, bre­chen eher ab und so weiter.

Aber das bedeu­tet nicht, dass „alle so“ sind, son­dern dass die Wahr­schein­lich­keit, dass es gut passt, gerin­ger gewor­den ist — bei aus demo­gra­phi­schen Grün­den gleich­zei­tig zurück­ge­hen­der Anzahl poten­ti­el­ler „Kan­di­da­ten“.

Also muss man sich um eine bes­se­re Ein­ar­bei­tung bemü­hen (also sich fra­gen: Was müs­sen wir tun, damit jun­ge Men­schen gern blei­ben? Wie muss die Ein­ar­bei­tung aus­se­hen?) und — ja, auch das — an eine gewis­se Fluk­tua­ti­on gewöhnen.

Man braucht also vor allem Men­schen, die gern ein­ar­bei­ten und/oder aus­bil­den, man braucht ein gutes Mar­ke­ting und eine gute Arbeit­ge­ber­mar­ke (die sich letzt­lich in der Bereit­schaft von Mit­ar­bei­tern zeigt, das eige­ne Unter­neh­men als Arbeit­ge­ber im Bekann­ten­kreis weiterzuempfehlen).

Man soll­te gleich­zei­tig berei­ter sein, einer­seits Chan­cen zu geben und offe­ner als bis­her für die Erwar­tun­gen von (jun­gen) Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern zu sein, ande­rer­seits aber auch schnel­ler Gren­zen zu set­zen, wenn es mal nicht passt.

Es ist nicht schlimm, wenn ein Arbeits­ver­trag endet. Es ist legi­tim, wenn es nicht passt. Oft ste­hen uns dabei nur über­kom­me­ne Vor­stel­lun­gen von der Sicher­heit des Arbeits­plat­zes im Weg.

Aber eines ist ganz sicher: Die mitt­le­re Ver­weil­dau­er in Jobs ist gesun­ken, und die Erwar­tung, dass man bit­te sein Leben lang bei ein und dem­sel­ben Arbeit­ge­ber bleibt, ist bei Wei­tem nicht mehr so popu­lär, wie wir uns das vorstellen.

Am Ende wird mit den Füßen dar­über abge­stimmt, wel­cher Arbeit­ge­ber gut ist und wel­cher nicht.

Und klar kann man Pech haben. Das eige­ne Unter­neh­men kann alles rich­tig machen, und die Leu­te gehen trotz­dem weg. Man­che Unter­neh­men „erwischt“ es dies­be­züg­lich gera­de heftig.

Ich höre bei­spiels­wei­se aus man­chen Lau­sit­zer Unter­neh­men das Lamen­to, dass man doch attrak­ti­ve Aus­bil­dungs­plät­ze anbie­te, sich aber nie­mand dafür inter­es­sie­re. Ja, so ist das lei­der. Man­che Unter­neh­men haben schlicht nicht die Aus­bil­dungs­plät­ze, die jun­ge Men­schen interessieren.

Oder kras­ser noch: Die jun­gen Men­schen ahnen, dass sie in die­sem oder jenem Beruf nie­mals so gut bezahlt wür­den, als dass sie sich vor­stel­len könn­ten, davon im Umfeld des Stand­or­tes gut zu leben.

Frei­lich gibt es Umstän­de — die ver­än­der­ten Hal­tun­gen und Erwar­tun­gen jun­ger Men­schen, die gesell­schaft­lich vor­ge­stell­te Attraktivität/Popularität bestimm­ter Berufs­grup­pen, das nach der Aus­bil­dung zu erwar­ten­de Lohn­ni­veau, die Regi­on.

Aber all das ent­schul­digt nicht, sich als Füh­rungs­kraft von den Umstän­den „schie­ben“ zu lassen.

Es ist ja gera­de­zu ein defi­nie­ren­des Merk­mal des Begrif­fes der Füh­rungs­kraft, dass man sein Unter­neh­men zieht und sich nicht von den Umstän­den schie­ben lässt.

Klar gibt es bran­chen­spe­zi­fi­sche und gene­rel­le Hin­der­nis­se und Eng­päs­se. Aber das unter­schei­det Füh­rungs­kräf­te von Schönwetterkapitänen.

Frei­lich gibt es gan­ze Bran­chen, in denen es struk­tu­rell schwie­rig gewor­den ist. Man sehe sich nur ein­mal das Schick­sal man­cher Dru­cke­rei­en in Ost­deutsch­land an. Oder man schaue auf man­che Hand­werks­be­trie­be, die trotz guter Auf­trags­la­ge ein­fach schlie­ßen, wenn der Meister/Inhaber in Ren­te geht.

Aber auch sol­che Sze­na­ri­en sind kei­ne Aus­re­de — im Gegen­teil: Als Füh­rungs­kraft muss ich mir die Fra­ge nach der Zukunft stel­len und ent­spre­chen­de Ent­schei­dun­gen tref­fen — oder in Wür­de untergehen.

Aber auch Letz­te­res hat mehr Charme, wenn es selbst ein­ge­lei­tet wird. Kaum jemand sieht mehr gut aus, wenn die Geschich­te ihn erst über­holt hat. 😉

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.