Es geht bei der auf die Psyche gerichteten Form von Erster Hilfe nicht um — letztlich im Wesentlichen auf Erzählung und Empathie beruhende — Therapie. Es geht ganz und gar nicht um Aufarbeitung. Sondern es geht ums Stabilisieren.
Da ist etwas passiert, was nicht passieren soll. Was normalerweise auch nicht passiert, aber ab und an eben doch passiert. Etwas, mit dem man nicht rechnet, und das das Potential hat, Menschen auf Dauer psychisch zu belasten.
Wenn Du nach solchen potentiell belastenden Ereignissen Erste Hilfe für die Psyche leisten willst, dann ist dieser Text für Dich. Der Text ist ein Grundkurs in Psychologischer Erster Hilfe. Wenn Du diesen Text gelesen hast, weißt Du, was die stabile Seitenlage und die Herzdruckmassage für die Psyche sind. Deshalb habe ich diesen Text mit einem Satz darüber begonnen, was Psychologische Erste Hilfe nicht ist.
Wenn Du Psychologische Erste Hilfe leistest, fokussierst Du Dich auf zwei Dinge: auf eine möglichst ruhige Präsenz und auf Hauptsätze. Du kannst auch Fragen stellen, aber bitte nur sehr konkrete Fragen — entweder geschlossene Fragen oder offene Fragen, die auf die unmittelbaren nächsten Schritte gerichtet sind. Dazu kommen wir gleich noch einmal. Bleiben wir erstmal bei den beiden allerwichtigsten Dingen: Ruhige Präsenz und Hauptsätze.
Im Grunde bedeutet das, dass Du auf zugewandte, empathische Art die Führung übernimmst. Das ist anders als bei Beratung oder Coaching oder gar bei Therapie — dort „folgst“ Du Deinem Gegenüber, manchmal führst Du oder konfrontierst Du auch, aber viel mehr als das hörst Du zu und stellst offene Fragen.
Bei Nothilfe ist es umgekehrt: Hier führst Du viel mehr. Die Empathie ist die gleiche, und Du kannst auch Fragen stellen, aber die Fragen dienen hier einem sehr direkten Zweck, sie richten sich auf viel konkretere Dinge, sie sollen zur Stabilisierung beitragen.
Bei einem akuten Stress auslösenden und potentiell traumatisierenden Ereignis passiert im Gehirn, sehr grob zusammengefasst, Folgendes: Die mit Angstreaktionen unmittelbar verbundenen Mandelkerne (Amygdalae) werden bei akutem Stress so aktiv, dass sie die Handlungssteuerungsfunktionen im präfrontalen Cortex derart einschränken, dass nur noch „automatisches“ Verhalten möglich ist. Die Angst übernimmt also komplett das Ruder, eine kognitive Handlungssteuerung ist nicht mehr möglich.
Reine Empathie ist hier also ganz und gar nicht genug. Was es braucht, ist eine Intervention, die dazu beiträgt, die bewusste Handlungssteuerung des präfrontalen Cortex wieder in Gang zu setzen, also eine „kognitive Intervention“. Dem unbewussten Automatismus des limbischen Systems, zu dem die Mandelkerne gehören, und der durch das stark angstauslösende Ereignis die Oberhand gewonnen hat, wird also durch eine ruhige Ausstrahlung und eine Fokussierung auf die nächsten Schritte bzw. durch sehr konkrete Aufgaben etwas entgegengesetzt. Das holt den präfrontalen Kortex quasi zurück ins Spiel.
Was bedeutet das praktisch? Die folgenden Abschnitte befassen sich mit den Prinzipien und Techniken, die Du anwenden kannst.
Interventionsprinzipien und ‑techniken
Ruhige Präsenz: Der Leitsatz bei dieser Technik lautet: Es geht hier nicht um Dich. Du bist zwar da, aber voll und ganz für die anderen. Fast ist es, als wärst Du gar nicht dabei, sondern als wärst Du nur ein Mittel zum Zweck. Der Zweck ist Stabilisierung. Und diesen Zweck erreichst Du, indem Du zum Vorbild, zum Handlungsmodell wirst. Du bleibst ruhig. Deine Stimme ist ruhig, Deine Sprache eher gefasst, Deine Körpersprache bleibt sparsam. Das überträgt sich auf Dein Gegenüber. Du wirst sehen: Indem Du kaum etwas tust, bist Du sehr hilfreich. Lies hier einen ausführlicheren Text auf diesem Blog über genau diese Technik.
Hauptsätze bzw. — nach Farchi et al. (2018) — „kognitive Kommunikation“: Nach einem potentiell traumatisierenden Ereignis kann es wie gesagt sein, dass die Mandelkerne so hyperaktiv sind, dass die kognitiven handlungssteuernden Aktivitäten im Präfrontalen Cortex regelrecht blockiert werden, was bewirkt, dass das Gehirn in einem Kreislauf aus viel älteren und primitiveren Reaktionen stecken bleibt. Bei einer „kognitiven Intervention“ geht es nun darum, dass Du Deinem Gegenüber hilfst, die Hyperaktivität der Mandelkerne zu senken und die Angstreaktion unter die Kontrolle der bewussten Handlungssteuerung zu holen.
Anders und direkter formuliert: Du holst das Gehirn Deines Gegenübers aus dem Kreislauf primitiver Reaktionen heraus, indem Du die Aufmerksamkeit auf sehr konkrete Aufgaben und Schritte lenkst. Indem das Gehirn wieder etwas Kognitives zu tun bekommt, merkt es (wieder), dass es ja eigentlich die Kontrolle hat. Die Fragen, die man hier stellt, sollten sich vor allem auf die Dimensionen Zeit („Wie lange sind Sie schon hier?“), Menge („Wie viele Personen sind außer ihnen noch betroffen?“) und einfache Optionen („Wollen Sie lieber erst mit Ihrem Kind oder mit Ihrer Schwester telefonieren?“) richten. (Vgl. Farchi et al. 2018, S. 5).
Persönlich habe ich mit folgenden und ähnlichen Fragen und Aufgaben gute Erfahrungen gemacht:
- Können Sie aufstehen? Zeigen Sie mir mal bitte, dass Sie aufstehen und laufen können.
- Haben Sie seit dem Ereignis schon etwas gegessen und getrunken? Nein? Dann essen und trinken Sie bitte etwas. Ich weiß, Sie wollen jetzt nichts. Tun Sie Ihrem Körper bitte den Gefallen.
- Können Sie mir einen Kaffee machen? Danke…
- Haben Sie sich heute schon bewegt? Lassen Sie uns ein Stück laufen.
- Wissen Sie, was die nächsten Schritte sind? Lassen Sie uns mal bitte die Ereignisse in den nächsten Stunden durchgehen.
- Wen möchten Sie informieren? Mit wem möchten Sie sprechen? In welcher Reihenfolge?
- Wie geht es Ihnen physisch? Sind Sie körperlich in Ordnung oder brauchen Sie Hilfe?
- Lassen Sie uns mal bitte durchgehen, was Sie in den kommenden Stunden und Tagen alles brauchen. Und lassen Sie uns dann überlegen, wo diese Dinge sind und wie Sie da ggf. herankommen. Packen Sie bitte diese Dinge zusammen.
Konkrete Aufgaben und Fokus auf die nächsten Schritte: Die Aufgaben können noch so klein und belanglos sein. Es geht im Notfall nicht zwingend um den Sinn, sondern um das Tun an und für sich. Der Verstand funktioniert gerade nicht, gefühlt mag eine Welt zusammengebrochen sein. Aber der Körper funktioniert noch — und durch konkrete Fragen, konkrete Aufgaben und eine Fokussierung auf die buchstäblichen nächsten Schritte kommt der Verstand langsam wieder zurück, führt die Erfahrung der Handlungskontrolle wieder zu dem, was Fachleute Selbstwirksamkeitserwartung nennen.
Welche Fragen und Aufgaben in einer konkreten Situation am Ende hilfreich sind, ist von dem auslösenden Ereignis, der Person, der jeweiligen Situation und natürlich von Dir abhängig. Ich habe oben nur einige meiner Beispiele aufgezählt. Wichtig ist, dass Du Dir die Kriterien merkst: konkrete Fragen und Aufgaben, nächste Schritte, Zeit, Menge, einfache Optionen.
Sicherheit vermitteln: Wenn es sich bei dem auslösenden Ereignis um eine gefährliche Situation handelt, kannst Du Sicherheit betonen. „Sie sind jetzt in Sicherheit.“ Oder: „Es ist vorbei. Wir sind jetzt in Sicherheit.“ Solche und ähnliche Sätze kannst Du oft wiederholen. Insbesondere dann, wenn die bewusste Handlungssteuerung außer Kraft gesetzt ist, ist Wiederholung wirksam.
Hilflosigkeit, Verwirrung und Einsamkeit: Wie man die mit traumatisierenden Ereignissen verbundenen Gefühle bearbeiten kann
Die bisher geschilderten Techniken sind nach meiner Erfahrung die wichtigsten. Aber es gibt noch mehr. Ein Leitsatz für hilfreiche Interventionen lautet, dass schlicht alles, was dazu geeignet ist, die mit der akuten Stressreaktion verbundenen Gefühle der Hilflosigkeit, der Verwirrung und der Einsamkeit zu reduzieren, auch getan werden kann.
Gegen Einsamkeit hilft Nähe. Nähe wird in Notsituationen am besten dadurch ausgedrückt, dass man dem Gegenüber versichert, so lange zu bleiben, bis die Situation vorüber ist. „Hallo, mein Name ist… Ich bin jetzt für Sie da“, ist nicht selten mein allererster Satz, wenn ich zu Notfällen gerufen werde. „Ich bleibe hier bei Ihnen, ich gehe nirgendwo hin, bis Sie in Sicherheit sind“, wäre eine weitere hilfreiche Variante.
Gegen das Gefühl der Verwirrung hilft, das Ereignis zu rekonstruieren. Verwirrung bedeutet im Zusammenhang mit einem potentiell traumatisierenden Ereignis, dass man als betroffene Person nicht mehr in der Lage ist, eine zeitlich und faktisch passende Erinnerung (Fachbezeichnung: „synchronisiertes Narrativ“) zu erzeugen. Diese Unfähigkeit kann bei besonders schweren Ereignissen bis hin zur vollständigen „Dissoziation“ führen, also der kompletten Abtrennung des Ereignisses von den eigenen Erinnerungen. Eine Vergewaltigung hat dann für die betroffene Person tatsächlich nicht stattgefunden. Also das Ereignis hat schon stattgefunden, aber die Person kann sich nicht daran erinnern. Erst viel später, im Zuge schwerer posttraumatischer Belastungssymptome, kommen die Erinnerungen als Flashbacks oder in Träumen zurück.
Der aktuelle Forschungsstand zum Thema legt nahe, dass es im Falle akuter Belastungsreaktionen nur ein sehr begrenztes Zeitfenster gibt (6 Stunden!), in denen gestörte Erinnerungen überhaupt wiederhergestellt werden können (vgl. Farchi et al. 2018, S. 5f.).
An dieser Stelle taucht eine für Interventionisten wirklich schwierige Frage auf: Soll man dem betroffenen Gegenüber dabei helfen zu verdrängen, oder soll man, mitunter recht „brutal“, also direkt konfrontativ, beim „Realisieren“, also beim Erzeugen des gerade angesprochenen „Narrativs“ helfen?
Wenn Du mich fragst, ist das die schwerste Frage überhaupt. Fakt ist, dass es die Person, wenn die Integration von Erinnerungen zu einem „synchronen Narrativ“ gelingt, später viel leichter hat, über all das hinwegzukommen. Fakt ist aber auch, dass es, wenn die Verdrängung einmal eingesetzt hat, es im Zweifel einer regelrechten Re-Traumatisierung gleichkommt, wenn man versucht, das Ereignis doch noch in die Erinnerung zurückzurufen, und sei es mit Konfrontationen.
Ich höre meinen Krisenintervention lehrenden Professor noch sagen: „Die Verdrängung ist unbedingt zu unterstützen!“ Und ja, meine Erfahrungen weisen in die gleiche Richtung. Aber vielleicht haben wir, der Professor vor langer Zeit und ich heuer, mit Menschen gearbeitet, die über das Zeitfenster von sechs Stunden weit hinaus waren. Farchi et al. (2018, S. 5) sagen jedenfalls: „we will NOT try to distract the person’s mind from the event“.
So ist es meines Erachtens richtig: Wenn Du selbst nichts willst und nur damit umgehst, was an Impulsen in Deinem Gegenüber schon angelegt ist, machst Du nichts falsch. Aber das ist, gerade im Licht des oben beschriebenen Prinzips der Hauptsätze, eben eine verdammte Gratwanderung:
Forciere nicht die Aufarbeitung, wenn der Verdrängungsprozess bereits begonnen hat. Lenke aber auch nicht ab, wenn sich die Aufmerksamkeit auf das Ereignis richtet. Hilf sogar dabei, wenn sich die Aufmerksamkeit auf das Ereignis richten will, aber es (noch) nicht schafft.
Hier wird die Grenze dessen sichtbar, was man mit Texten wie diesem beschreiben kann und was man am Ende der Intuition, der Erfahrung und der hoffentlich sorgfältigen Reflexion in der konkreten Situation überlassen muss.
Gegen Hilflosigkeit hilft die (gefühlte) Rückgewinnung von Kontrolle über die Situation. Das Gefühl des Kontrollverlusts bzw. der Hilflosigkeit gehört zu den Elementen, die eine Situation potentiell traumatisierend machen. Handlungskontrolle wird hergestellt, indem man über verschiedene Optionen verfügt. Wahlfragen zu stellen oder das betroffene Gegenüber einfache Entscheidungen treffen zu lassen, reduziert das Gefühl der Hilflosigkeit und trägt dazu bei, dass der präfrontale Cortex wieder die Oberhand über die Amygdalae bekommt.
Abschließend sei zum Thema „Interventionsprinzipien und Techniken“ noch auf eine nach meiner Erfahrung weitere bedeutsame „Gratwanderung“ hingewiesen. Es geht um die Rolle des „Prinzips Hoffnung“. Hobfoll (2007) hat für die Intervention nach potentiell traumatisierenden Ereignissen fünf Kernprinzipien formuliert: (1) Sicherheitsgefühl vermitteln, (2) Ruhe ausstrahlen sowie Gefühle von (3) Selbst- und sozialer Wirksamkeit, (4) Verbundenheit/Nähe und (5) Hoffnung zu erzeugen. Während sich die ersten vier Prinzipien in teilweise anderen, aber ähnlichen Worten sowohl bei Farchi et al. (2018) als auch in meinen eigenen Darstellungen wiederfinden lassen, ist das Prinzip der Hoffnung irgendwie neu und — zumindest mir — auch irgendwie fremd, zumindest zum Teil.
Auf den ersten Blick: Warum soll man nicht Hoffnung betonen? Das kann doch im Angesicht eines potentiell traumatisierenden Ereignisses erst einmal nicht falsch sein. Doch, kann es. Es kommt auf den einzelnen Fall an.
Wenn es um die Betreuung von Betroffenen etwa nach einer heftigen Morddrohung geht, dann kann Hoffnung durchaus ein Teil der Intervention sein. Man betont, dass man in Sicherheit ist, dass sich jetzt die Polizei darum kümmert, man fragt vielleicht, wie die betroffene(n) Person(en) damit umgehen wollen: Sicherheitsmaximierung (= die nächsten Tage und Wochen nicht allein das Haus verlassen) oder „Konfrontation“ (= Auseinandersetzung mit dem Gedanken, dass man sich zufällig begegnen kann, bspw. im Supermarkt, und dass man solche Situationen nie ganz ausschließen kann, es sei denn, die drohende Person würde im Gefängnis sitzen o.ä.). Man betont Hoffnung: Polizisten zum Beispiel passierten solche Dinge auch, und sie müssten damit leben; wichtig sei es, nun nicht aufzugeben und die Hoffnung nicht zu verlieren. Man habe nichts falsch, nein, man habe sogar alles richtig gemacht, und die Dinge würden sich wieder fügen, man müsse nur die entsprechenden Schritte gehen, und wie möchte man sich denn entscheiden — Sicherheitsmaximierung oder mögliche Konfrontation?
Wenn man jedoch mit einer Person arbeitet, in deren nahem Umfeld es gerade einen Suizid gegeben hat, dann kann das „Prinzip Hoffnung“ falsch sein. Die Welt ist ja unter Umständen gerade zusammengebrochen, und wenn die Personen davon betroffen sind, dann hilft eher eine beinahe wortlose Fokussierung auf die nächsten Schritte als irgendeine Thematisierung von Hoffnung. Im Gegenteil: Das Aussprechen des Wortes „Hoffnung“ kann unter bestimmten Umständen ein Schlag ins Gesicht sein.
Lesen Sie auch den zweiten Teil zu diesem Text mit dem Titel: Extremfälle sind vergleichsweise selten: Was mache ich als Fachkraft für Psychologische Erste Hilfe mit Fällen, in denen nicht ganz klar ist, ob es sich um eine tatsächliche oder vielleicht nur gefühlte Notsituation handelt? Wie erkenne ich das? Und wie kann ich in einer solchen Grauzone praktisch vorgehen?
Weitere Texte zum Thema auf diesem Blog:
Drei Reaktionsmuster in Krisen und die Bearbeitung von Konflikten zwischen diesen Gruppen
Ruhige Präsenz und Hauptsätze: die Quintessenz der Krisenintervention