Dieser Text ist eine Fortsetzung von „Erste Hilfe für die Psyche“. Das heißt, es macht wenig Sinn, diesen Text ohne den ersten Teil zu lesen. Es handelt sich bei den beiden Texten um die Dokumentation der Inhalte einer Weiterbildung in Psychologischer Erster Hilfe für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Behörde. Während der erste Teil („Erste Hilfe…“) auf die in Notsituationen anwendbaren Techniken abstellt, geht es in diesem Text um alltäglichere und wahrscheinlich häufigere, aber eben „mildere“ Anwendungsfälle.
Nachdem wir im ersten Teil vor allem Techniken für extreme Situationen behandelt haben, ist logischerweise die Frage zu stellen, wie oft Situationen vorkommen, in denen solche Handlungsmuster zur Anwendung kommen können. Oder anders formuliert: Ist der Alltag einer Fachkraft, etwa in einem Jobcenter oder einem Jugendamt, wirklich so heftig, dass man immer gleich das Repertoire der Psychologischen Ersten Hilfe braucht? Oder ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass es um zwar belastende, aber eben alltäglichere Situationen geht?
Die praktische Frage lautet dann: Was tue ich, wenn sich jemand in oder nach einer ziemlich alltäglichen, aber — zumindest „gefühlt“ — dennoch belastenden Situation an mich wendet?
Dann gilt der in der Einleitung des ersten Textes ziemlich hart gezeichnete Unterschied zwischen Psychologischer Erster Hilfe auf der einen und anderer hilfreicher psychologischer (dort zunächst als „therapeutisch“ bezeichneter) Gesprächsführung auf der anderen Seite nicht mehr so scharf. Dann haben wir es eher mit Grauzonen zu tun.
Viele Belastungserscheinungen — gerade in Behörden mit beratenden Rollen wie Jobcentern oder Jugendämtern — ergeben sich ja weniger aus dem einen auslösenden Ereignis oder aus dem einen belastenden Fall, sondern durch viele kleinere Ereignisse oder eben aus der Vielzahl der potentiell belastenden Fälle, also mit der Zeit.
Um zu beurteilen, ob ich mich eher der Techniken der Psychologischen Ersten Hilfe oder eher beraterischer Techniken bediene, muss ich auf das auslösende Ereignis und auf die betroffene(n) Person(en) schauen.
Bevor wir das tun, sei hier jedoch erst einmal das Spektrum aus Haltungen und Methoden zwischen Therapie/Beratung auf der einen und Psychologischer Nothilfe auf der anderen Seite dargestellt:
Zunächst möchte ich anmerken, dass ich hier aus Gründen der Einfachheit und der „didaktischen Zuspitzung“ Therapie und Beratung in einen Topf werfe. Wenn es jeweils um Therapie ODER Beratung ginge, wären die Unterschiede dazwischen mindestens genauso groß wie jene, die ich hier zwischen Therapie und Beratung auf der einen und Erster Hilfe für die Psyche auf der anderen Seite zeichne. Aber dies ist eben ein Text über Psychologische Erste Hilfe, und er wurde auch aus genau dieser Perspektive geschrieben. Manche aus anderer Perspektive vielleicht also unerlaubt oder simplifizierend erscheinende Reduktion sei mir deshalb bitte nachgesehen.
Bei Therapie geht es im Idealfall um die Bearbeitung eines Zustands, der als leidvoll empfunden wird, und der, wenn Therapie gelingt, mit einer Persönlichkeitsveränderung einhergeht. Der Begriff der Persönlichkeit bezieht sich aus psychologischer Sicht auf zeitlich überdauernde Muster des Erlebens und Verhaltens. Und bei Therapie geht es genau darum: Muster des Erlebens und Verhaltens zu verändern.
Beratung hingegen setzt nicht an einer Veränderung der Persönlichkeit an. Bei Beratung geht es eher um den Umgang mit einem Problem, einem Konflikt usw. Beratung zielt auf die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten ab. Das Erleben an und für sich wird nicht oder kaum infrage gestellt, das Verhalten nur insofern es eben den Umgang mit einer als problematisch erlebten Situation betrifft. Der Begriff des Leidens spielt bei Beratung eine untergeordnete Rolle. (Coaching verstehe ich als auf sehr konkrete Situationen bezogene, jeweils lösungsorientierte Form der Beratung. Coaching hat sich aus Beratung entwickelt und nicht umgekehrt. Coaching hat seinen legitimen Platz im Interventionsspektrum, aber Versuche, Beratung als Spielart von Coaching zu verkaufen oder Coaching als „die grundlegendere Methode“ darzustellen, sind m.E. Marketing-Strategien oder Folgen davon.)
Erste Hilfe für die Psyche zielt nun weder auf die Veränderung von Mustern des Erlebens und Verhaltens noch auf eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten, sie zielt primär und vor allem auf Stabilisierung und die Reduzierung der langfristigen Folgen potentiell traumatisierender Ereignisse für die Psyche einer betroffenen Person.
Nun kann es wie gesagt sein, dass in der Praxis Situationen oder Fälle vorkommen, in denen nicht unbedingt von einer potentiellen Traumatisierung ausgegangen werden kann oder muss, in denen aber eine Notsituation empfunden wird oder in denen — durch die Häufung mehrerer einzeln nicht relevanter, aber in der Zusammenwirkung eben doch potentiell folgenschwerer Ereignisketten — von einer gewissen Gefährdung auszugehen ist.
Was macht man nun in solchen Grauzonen?
Wenn Erste Hilfe für die Psyche gefragt ist, gehe ich so vor, wie im ersten Teil dieses Zweiteilers beschrieben. Wenn es hingegen eine zwar belastende Situation ist, aber mein Gegenüber sich bereits kognitiv mit der Situation auseinandersetzt, werde ich eher beraten.
Das ist der Unterschied: Ist eine Person in der Lage, ihre Situation kognitiv einzuschätzen und um adäquate Hilfe zu bitten — also zum Beispiel zu fragen, was sie machen soll — dann ist es eher ein Beratungsfall.
Dann kann ich zuhören, Fragen stellen, zusammenfassen, visualisieren, ggf. konfrontieren — eben beraten.
Ist eine Person hingegen außerhalb des Radius’ von Selbstwirksamkeit und Handlungskontrolle, haben die Amygdalae das Sagen und befindet sich die betroffene Person in dem im ersten Teil beschriebenen Kreislauf primitiver Reaktionsmuster, dann ist es Zeit für die Techniken der Ersten Hilfe für die Psyche.
Wenn ich mir unsicher bin, wende ich zunächst die Erste-Hilfe-Techniken an. Wenn die Kognitionen die Oberhand gewinnen, merke ich das sehr schnell und kann umschalten.
Es gibt eine Reihe weiterer Kriterien, die ich anwenden kann um einzuschätzen, ob eine Person Erste Hilfe braucht oder nicht bzw. was die richtige Form der Intervention ist.
Hierzu lautet die Leitfrage: Ist ein Ereignis potentiell traumatisierend? Die Antwort auf diese Frage kann man entweder am Ereignis selbst festmachen oder an der Reaktion Betroffener auf das Ereignis.
Folgende Ereignisse können als potentiell traumatisierend angesehen werden: Naturkatastrophen, Unfälle, Angriffe und Übergriffe, Verletzungen, Terrorattacken, Krieg.
Betrachtet man die Reaktionen Betroffener auf potentiell traumatisierende Ereignisse, dann geht es um die Frage, wie eine betroffene Person auf das Ereignis reagiert. Auf der emotionalen Ebene geht es um Gefühle der Angst und der Bedrohung sowie ein sich daraus ergebendes Gefühl der Hilflosigkeit. Ob ein Ereignis für eine betroffene Person potentiell traumatisierend ist, ist des Weiteren von ihrer individuellen kognitiven Bewertung des Ereignisses abhängig.
In der Praxis sind bei Betroffenen drei Typen von Reaktionsmustern zu beobachten, die ich an anderer Stelle auf diesem Blog ausführlicher beschrieben habe. Grob zusammengefasst lassen sich diese Muster wie folgt beschreiben:
Resiliente: Diese Personen reagieren ggf. betroffen, kommen aber relativ schnell zu sachlichen und handlungsorientierten Bewertungen der Situation. Eine Intervention richtet sich, wenn überhaupt notwendig, nach meiner Erfahrung in diesen Fällen nur auf das Aussprechen der Betroffenheit und der mit dem Ereignis verbundenen Emotionen und auf die „kognitive Aktivierung“. Ein großer Teil dieses Personenkreises bleibt auch unter hohem Druck handlungsfähig, und es ist in der Mehrzahl der Fälle keine Intervention notwendig.
Mäßig Betroffene: Diese Personen reagieren betroffen und zeigen die mit potentiell traumatisierenden Ereignissen oft verbundenen Emotionen. Sie stabilisieren sich in der Regel innerhalb von zwei bis drei Tagen wieder. Psychologische Erste Hilfe kann für diesen Personenkreis nach meiner Erfahrung sehr hilfreich sein.
Stärker Betroffene: Zunächst sind mäßige von stärkeren Reaktionsmustern kaum zu unterscheiden, die Unterschiede zwischen diesen beiden Mustern zeigen sich erst mit der Zeit. Während die zweite Gruppe sich in der Regel innerhalb von ca. 48 Stunden stabilisiert, tut dies die dritte Gruppe nicht. Diese Menschen brauchen länger. Hier ist sehr genau darauf zu achten, wie sich die Reaktionen über Wochen hinweg entwickeln — bei beruflich Betroffenen empfehle ich in vielen Fällen ein (ggf. teilweises, testweises) Wiederheranführen an den Job nach ca. zwei Wochen, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Ist nach insgesamt vier Wochen noch keine Besserung in Sicht, muss von einer post-traumatischen Belastungsreaktion ausgegangen werden. Dieser Personenkreis ist dann klein (nur ein geringerer Teil der stärker Betroffenen) und sieht sich vielleicht gerade deshalb Ignoranz oder gar Diskriminierung ausgesetzt. Während man den größeren Teil der stärker Betroffenen innerhalb weniger Wochen wieder integrieren sollte, eben damit sich die langfristigen Folgen in Grenzen halten, ist mit der letztgenannten Gruppe viel „sanfter“ unzugehen. Ein Druck zurück in den Job oder ein Appell, sich doch mal zusammenzureißen, macht es nicht besser, sondern schlimmer.
Die aktuelle Forschung zum Thema zeigt, dass eine möglichst unmittelbare und fokussierte Krisenintervention das beste Mittel ist, sowohl akute Stresssymptome zu lindern und eine schnelle Rückkehr zum „normalen Funktionieren“ zu ermöglichen, als auch die Wahrscheinlichkeit für die Ausbildung einer posttraumatischen Belastungsstörung signifikant zu senken. (Vgl. Farchi et al. 2018)
PS: Falls dieser Text von Einsatzkräften oder Führungskräften oder Interventionisten aus den Bereichen Rettungsdienst, Feuerwehr oder Polizei gelesen wird, ist meines Erachtens eine weitere Bemerkung notwendig: Im Falle mancher Berufe (wie eben bei Einsatzkräften) liegt die potentielle Traumatisierungsgefahr insgesamt höher als in der Normalbevölkerung. Dann sind aber in der Regel auch die Grenzen der betroffenen Personen, was Stress betrifft, nicht mit denen der Normalbevölkerung vergleichbar.
Mit bestimmten Berufsbildern gehen bestimmte potentiell belastende Situationen einher. Personen, denen das bereits bei der Wahl des Berufs klar war, gehen mit belastenden Ereignissen stabiler um als Personen, denen das nicht klar war — und die jedes Ereignis von Neuem „bearbeiten“ müssen.
Was ich damit sagen möchte: Je nach Berufsbild gibt es spezifische Normalitäten und Grenzen. Wenn ich als vorgesetzte Person oder auch als Interventionist die Grenzen zu eng ziehe, erliege ich womöglich einem Phänomen, das ich als „Gefahr des Psychologisierens“ bezeichne. Ich übertreibe es dann ggf. und helfe den Betroffenen damit nicht, sondern verhelfe ihnen ggf. zu einer Veränderung ihrer persönlichen Sichtweise der jeweiligen Situation im Sinne einer Reduktion ansonsten ggf. vorhandener Resilienz. Ich habe dieses Problem in einem Beitrag zum Thema Stressmanagement bei der Führung von Einsatzkräften recht ausführlich behandelt.