In Deutschland leben ungefähr 11,82 Millionen Ausländer. Darunter waren im Jahr 2021 8.870 aus Venezuela. Im Rahmen der Globalisierung ist bei vielen Menschen aus wirtschaftlich schwachen Regionen der Wunsch danach, in ein anderes Land zu ziehen, immer stärker geworden. Sowohl Migranten als auch Personen der Mehrheitsgesellschaft haben große Schwierigkeiten bei der Bewältigung von den Herausforderungen, die durch einen Kulturschock entstehen. Oftmals führen hier scheinbar nicht überwindbare Diskrepanzen zu mangelnder Integration und der Bildung von sogenannten Parallelgesellschaften. Ohne die Unterstützung und Akzeptanz von einheimischen Landsleuten ist eine erfolgreiche Integration nicht oder nur sehr schwer möglich. Die Konfrontation mit fremder Kultur ist im internationalen Kontext eine unumgängliche Bedingung.
Das Interesse der Verfasserin zu diesem Thema für eine Arbeit innerhalb vom Masterstudium entwickelte sich durch eigene Erfahrungswerte während der Integration. Sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und zu verstehen, was Kultur im Kern ist und wie Integration in der Praxis wirklich funktioniert, hilft bei der Bewältigung von kulturellen Konflikten. Man könnte fast sagen, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema wie eine Art Selbsttherapie ist.
Mein Name ist Zullym und bin im Jahr 2013 nach Deutschland eingewandert. Im Alter von nur 21 Jahren war es damals nicht mein Wunsch, ohne jede Aussicht auf Rückkehr aus Venezuela auszuwandern. Dieser Sachverhalt war anfangs nicht förderlich für eine einfache und zielgerichtete Integration als Fundament für einen Neuanfang. Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2022 – seit neun Jahren habe ich meine ursprüngliche Heimat nicht mehr sehen können und nun den Begriff Heimat für mich selbst neu definiert. Wenn aufgrund einer katastrophalen politischen Lage im ursprünglichen Heimatland jede Brücke in die Vergangenheit zerstört wurde, hat das Einfluss auf Art und Umfang von einem Kulturschock und den Umgang damit.
Ein Kulturschock beherbergt jedoch trotz all der negativen Aspekte auch Chancen. Die eigene Realität beginnt sich mit der Zeit zu verändern, zu erweitern. Andersartige Meinungen oder Glaubensrichtungen werden nicht mehr grundsätzlich als falsch oder befremdlich angesehen, sondern einfach nur als anders. Der Hauptbestandteil der Integration in eine neue Kultur ist es wohl, den eigenen bislang stark begrenzten Horizont zu erweitern – auf eine Art und Weise, die man sich kaum oder nur mit größter Anstrengung vorstellen kann, wenn man es nicht selbst durchlebt hat. Durch das Auswandern entsteht eine andere Art von Weltoffenheit, eine gelebte und wahrhaftige.
Diese Zeilen zeigen, dass eine gezielte Strategie den negativen Folgen eines Kulturschocks positiv entgegenwirkt. Folglich gibt es nicht den einen, richtigen Weg, sondern mehrere Möglichkeiten und damit verbundene Strategien für einen mehr oder weniger erträglichen Kulturschock.
Ich komme aus Venezuela und als ich im Jahr 2013 nach Deutschland gekommen bin, war dies von mir weder geplant noch gewollt. Die politische Lage wurde von Jahr zu Jahr schlimmer und meine Mutter hatte die Entscheidung getroffen, dass wir auswandern müssen, um ein besseres Leben zu haben und in Freiheit leben zu können. Damals habe ich meine Mutter für diese Entscheidung gehasst und die ersten Monate in Deutschland nicht mit ihr gesprochen, weil ich alles hinter mir lassen musste. Nicht nur Gegenstände, sondern auch alle meine Freunde.
Alles war weg.
Heute verstehe ich die Entscheidung meiner Mutter und bin unfassbar stolz auf sie – vor allem darauf, dass sie so mutig war und mit wachem Verstand gesehen hat, dass die politische Führung das Land in einen schwarzen Abgrund führt.
Durch die autoritäre Erziehung in Venezuela wird das, was die Eltern sagen, gemacht und nicht in Frage gestellt, solange die Kinder unter dem Dach der Eltern wohnen. Ich selbst hatte damals gedacht, dass ich ein schönes Leben hatte, ich kannte es ja nicht anders und da meine Mutter eine gute berufliche Stellung hatte, war der Bodyguard, der Tag und Nacht zu meinem Schutz an meiner Seite war auch irgendwie normal. Ich kannte es nicht anders. Entführungen mit Ermordungen kannte ich aus erster Reihe.
Ich hatte jedoch bezugnehmend auf die Zukunft keine Ahnung, dass sich alles noch viel schlimmer entwickeln würde. Für mich war also schon damals Korruption und Amtsmissbrauch von Beamten vollkommen normal.
Ich studierte im vierten Semester im Studiengang: internationale Beziehungen. Ich liebte mein Studium. Ohne mit mir geredet zu haben, nahm meine Mutter mich aus der Universität raus und bereitete alles vor, damit wir nach Deutschland fliegen können. Ich hatte nur zwei Koffer von meinem alten Leben, von denen nur einer in Deutschland angekommen ist.
Auf den anderen warte ich noch immer.
Ich bin gegangen, ohne zu wissen, dass ich nie wieder zurückkehre. Ich wusste nicht, was mich erwartet. Ich wusste im Allgemeinen einfach Nichts von Deutschland. Um meinen Kulturschock und die darauffolgende Integrationsstrategie zu begreifen, ist es wichtig, die Gründe meiner Auswanderung zu verstehen. Ich finde, es macht einen großen Unterschied, wenn ein Mensch die Heimat aus eigenem Willen verlassen will – und vielleicht einfach zurückkehren kann – oder ob die Gründe andere sind.
Ich wollte nicht weg aus meinem Land und ich konnte auch nicht mehr zurück. Für mich wurde entschieden und rückblickend muss ich sagen, dass ich sehr froh darüber bin. Venezuela ist ein wunderschönes, aber ein äußerst gefährliches Land. Eine Rückkehr war und ist nicht möglich. Ich habe Dank meines Masterstudiums verstanden, dass alles, was ich durchlebt und gefühlt habe, vollkommen normal ist und viele Migranten das Gleiche erleben.
Einige schaffen es, sich zu integrieren, andere nicht. Mir hat das Verständnis um psychologische und kulturelle Aspekte geholfen, zu verstehen, einzuordnen und mich vom Leid zu befreien. Wie in der Theorie fing auch bei mir die erste Phase des Kulturschocks in den ersten Monaten an.
Ich war schockiert über die kühle Sprache, die noch kühlere Körpersprache und das eiskalte Wetter, was meinen Ersteindruck im Winter abrundete, als ich herkam. Trotzdem gab es da diese Gefühle der Euphorie und Neugier. Ich fand Dresden wunderschön, sauber und im Allgemeinen so sehr ordentlich. Die ersten drei Monate waren für mich daher eher schön – alles war neu und sehr interessant.
Aber die Gefühle von Traurigkeit, Angst, Unsicherheit und einer alles auffressenden Machtlosigkeit wurden immer stärker. Mir gefiel das Leben in Deutschland nicht, ich hatte Angst vor den Menschen und ja, selbst vor der Sprache hatte ich nun Angst! Ich habe mich überhaupt nicht mehr wohlgefühlt.
Das Gefühl, nichts zu verstehen, diese Machtlosigkeit machte mich fertig. Ich konnte mit dem Auto bis zu meiner Schule fahren und auf der Autobahn hatte ich mir immer nur diesen einen Ort gemerkt, wo ich abfahren musste. Der Name des Ortes, wo meine Schule war. Ich konnte ihn nicht einmal aussprechen.
So verwirrend war mein Leben die nächsten 2 Jahre. Da befand ich mich in der Krisenphase. Eine sehr lange Zeit. Ich hatte kein Ende vor Augen und kein Ziel gesehen. Kein Licht am Ende des Tunnels. Ich war mir mittlerweile sicher: ich schaffe das nicht. Irgendwann habe ich Stärke aus meinem Schmerz rausgenommen und mir geschworen, dass ich alles, was in meiner Macht steht, machen werde, um das zu schaffen.
Ich habe alle Kontakte mit meinen Freunden, die auch in Deutschland nur Spanisch gesprochen haben, abgebrochen. Ich habe nur noch deutsche Sendungen, nur deutsche Musik gehört, nur deutsche Bücher gelesen. Ich habe viele Lieder stundenlang in die spanische Sprache übersetzt. Ich habe Romane gelesen ohne auch nur ein einziges Wort verstanden zu haben.
Ich wollte meine Augen und mein Gehirn an diese komischen deutschen Wörter gewöhnen. Mein Studentenvisum war nur für zwei Jahren gültig, das war die Zeit, die ich bekam, um die Sprache zu lernen und mich in einer Universität zu immatrikulieren. Ich habe um mein Leben gekämpft und dafür die Sprache gelernt.
Als ich die Zusage und Zulassung der Technischen Universität Chemnitz bekam, war ich so glücklich, dankbar und stolz und wusste, dass ich alles schaffe, wenn ich nur an mich glaube. Die erste drei Semester waren jedoch die Hölle auf Erden. Wissenschaftliche Texte schreiben, ohne einen Satz auf Deutsch bilden zu können, ist nicht so schön. Da kamen die Zweifel wieder und das Gefühl, es nicht zu schaffen.
Die ersten Prüfungen an der Universität, die ich bestanden habe, waren allesamt die dritten Versuche – obwohl ich die ersten zwei Versuche gar nicht in Anspruch genommen habe. Unendliche viele kulturelle und sprachliche Missverständnisse machten mir das Leben schwer.
In Venezuela herrscht eine Art Diktatur, man bekommt angesagt, wo man wann sein muss. Selbst mitdenken und Initiative zeigen: unerwünscht!
Ich wusste nicht, dass ich mich für Prüfungen anmelden muss, dass ich die Dinge selbst organisieren muss und verantwortlich für meine Dinge bin. Das kannte ich nicht. Für die Deutschen war alles selbstverständlich. Als ich jedoch die erste Prüfung bestanden hatte, war ich an einem Wendenpunkt. Ich gewann an Selbstsicherheit und im Sommer 2017 begann für mich die Erholungsphase. Ich traute mich, mit Menschen zu sprechen, lernte neue Freunde kennen und integrierte mich so gut ich nur konnte in der deutschen Gesellschaft. Erste kleine Erfolgserlebnisse gaben mir wieder einen ersten, einen schwachen Funken von Lebensmut.
Meine Akkulturationsstrategie war die Assimilation. Ich war mir zu 100 Prozent sicher, dass ich die Sprache nur durch den Kontext und die Kultur lernen und beherrschen kann. Meine eigene kulturelle Identität war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wichtig. Mein Motto war: ich bin diejenige, die nach Deutschland gekommen ist und ich muss mich anpassen. Ich bin die
Ausländerin. So habe ich gelebt. Ich habe alles versucht, um die deutsche Kultur zu verstehen und die Menschen zu verstehen. Die Sprache wurde besser, meine Gefühlslage wurde besser. Je mehr ich verstanden habe, desto besser und freier fühlte ich mich.
Heute bin ich integriert. Und meine weiterführende Strategie hat sich geändert. Für mich sind beide Kulturen bedeutend, für mich sind Menschen wichtig, egal welches Land in ihrem Pass steht.
Obwohl es gar nicht einfach war, bin ich heute dankbar und stolz, eine deutsche Bürgerin mit einem venezolanischen Herz zu sein. Durch die politische Lage durfte ich bislang nicht wieder zurück nach Venezuela. Meine Traditionen, mein Essen und die Menschen von damals fehlen mir. Heimweh habe ich – manchmal mehr und manchmal weniger.
Mir hat es geholfen, dass ich keine Wahl hatte und deswegen hierbleiben musste. Ich bin nun seit neun Jahren in Deutschland und in dieser Zeit habe ich sehr viel über mich gelernt. Ich weiß nun, wie stark ich bin und dass ich alles schaffen kann. Ich kann nun viele Szenerien aus einer Metaebene betrachten und so reflektiert damit umgehen. Ja, ich bin stolz auf mich und auf Deutschland – das ist gelebte Integration.
Die Überwindung eines Kulturschocks und die daraus resultierende erfolgreiche kulturelle Anpassung sind ausgesprochen komplexe und individuelle Vorgänge. Deshalb sollten diese auch aus verschiedenen Perspektiven mit allen zugehörigen Lebensbereichen betrachtet werden.
Ein Kulturschock führt immensen Druck auf die eigene Identität und Psyche mit sich. Hier allgemeingültige Aussagen zur Bewältigung von einem Kulturschock zu formulieren, ist aus eigener Erfahrung nahezu unmöglich, da diese Strategien je nach Menschentyp, Umfeld und kultureller Herkunft stark variieren. Migranten entwickeln durch die eigenen kognitiven Fähigkeiten auch eigene und meist außergewöhnliche doch äußerst wirksame Maßnahmen für das Überwinden eines Kulturschocks und eine darauf aufbauende erfolgreiche Integration.
Die Basis für die Entscheidung, in ein fremdes Land auszuwandern, ist meist zugleich auch Grundlage für die Erfolgsaussichten einer Integration. Wenn das Überleben davon abhängig ist, in einem neuen Land wurzeln zu schlagen, dann führt diese intrinsische Motivation in den allermeisten Fällen zum Erfolg.