Qualitätskriterien qualitativer Forschung

Betrach­tet man die ”qua­li­ta­ti­ve Metho­den­land­schaft“, so ent­steht leicht der Ein­druck, dass vie­le irgend­wie ganz ähn­li­che Din­ge tun, sich aber gern in end­lo­sen Dis­kus­sio­nen dar­über erge­hen, was nun ”metho­do­lo­gisch kor­rekt“ sei und wel­che metho­di­schen Schrit­te war­um an wel­cher Stel­le sein müss­ten und wel­che nicht. Viel­leicht liegt die­se Hete­ro­ge­ni­tät aber nicht an der feh­len­den Annä­he­rung an einen wie auch immer gear­te­ten wis­sen­schaft­li­chen Maß­stab – in der Regel ver­sucht man ja, Qua­li­täts­kri­te­ri­en aus dem natur­wis­sen­schaft­lich inspi­rier­ten Para­dig­ma in die qua­li­ta­ti­ve For­schung zu über­tra­gen. Mög­li­cher­wei­se hat die Hete­ro­ge­ni­tät ihre Ursa­che viel­mehr in der Sache selbst. Betrach­tet man bspw. die Lebens­läu­fe qua­li­ta­ti­ver For­scher, so kann man durch­aus zu dem Schluss gelan­gen, dass eine län­ger­fris­ti­ge Beschäf­ti­gung mit her­me­neu­ti­scher For­schung bei vie­len zur Ent­wick­lung eines ganz eige­nen Ansat­zes führt. Exem­pla­risch wird das an den Schöp­fern der Groun­ded Theo­ry, Bar­ney Gla­ser und Anselm Strauss, deut­lich. Die Über­tra­gung der Qua­li­täts­kri­tie­ri­en aus der ”quan­ti­ta­ti­ven Welt“ in die qua­li­ta­ti­ve führt zu regel­rech­ten Detaillierungs‑, Stan­dar­di­sie­rungs- oder Plau­si­bi­li­sie­rungs­exzes­sen. Dabei geht es in der ”qua­li­ta­ti­ven Welt“ nicht um Gül­tig­keit oder Zuver­läs­sig­keit. Dar­um geht es eher bei quan­ti­ta­ti­ven Werk­zeu­gen, bspw. Fra­ge­bö­gen. Ein Fra­ge­bo­gen ist qua­si das für einen Sozi­al­wis­sen­schaft­ler, was ein Ham­mer für einen Hand­wer­ker ist: Ein Ham­mer muss zuver­läs­sig funk­tio­nie­ren und alle Nut­zer müs­sen über ein gül­ti­ges Anwen­dungs­wis­sen ver­fü­gen. Anders aus­ge­drückt: Wenn jemand einen Ham­mer benutzt, dann muss er sein Pro­blem ken­nen und wis­sen, wie es sich bear­bei­ten lässt. Wenn aber jemand sein Pro­blem nicht kennt, weiß er auch nicht, ob ein Ham­mer das rich­ti­ge Werk­zeug ist. In der qua­li­ta­ti­ven For­schung geht es nicht um die kor­rek­te Anwen­dung von Werk­zeu­gen, weil die Pro­ble­me noch so unbe­kannt sind, dass noch kei­ne hin­rei­chen­den Beschrei­bun­gen vor­lie­gen. Es geht in der qua­li­ta­ti­ven For­schung eher dar­um, dem in der empi­ri­schen Welt Vor­ge­fun­de­nen einen Sinn abzu­rin­gen. Der Weg dahin ist die sorg­fäl­ti­ge Beob­ach­tung, aus­führ­li­che Befra­gung, Teil­nah­me usw. – mit dem Ziel, anschlie­ßend mit Hil­fe etwa von Ver­glei­chen wesent­li­che Unter­schie­de her­aus­zu­ar­bei­ten. Ob das so Gefun­de­ne dann Sinn macht, muss der Beur­tei­lung durch ande­re über­las­sen wer­den – und zwar (a) anhand der von Leit­häu­ser & Vol­merg (1988) benann­ten Kri­te­ri­en der Nach­voll­zieh­bar­keit und Stim­mig­keit, was die Metho­den angeht und (b) anhand des von Janich (1996) beschrie­be­nen Kri­te­ri­ums der Zustim­mung durch Ver­tre­ter der empi­ri­schen Welt, was die Ergeb­nis­se der Unter­su­chun­gen angeht. Inso­fern las­sen sich viel­fäl­ti­ge Vari­an­ten den­ken, dem in der Welt Vor­ge­fun­de­nen einen Sinn abzu­rin­gen. Es darf daher nicht sein, dass die Suche selbst an ande­ren Kri­te­ri­en als den grund­le­gen­den – Logik, Nach­voll­zieh­bar­keit des Gangs der metho­do­lo­gi­schen Argu­men­ta­ti­on, Stim­mig­keit der Ergeb­nis­se – gemes­sen wird. Denn sonst wäre es kei­ne Suche mehr, son­dern eine Über­prü­fung. Über­prü­fen kann man jedoch nur sol­che Din­ge, die bereits (a) erkun­det und gefun­den (hier: Explo­ra­ti­on) und (b) dar­über hin­aus ”inspi­ziert“ wur­den sowie ein Min­dest­maß an Zustim­mung gefun­den haben (hier: Inspek­ti­on).
Inso­fern erwei­tern wir das bei vie­len For­schern zu fin­den­de Ver­ständ­nis von Inspek­ti­on, nach dem die Inspek­ti­on bereits in der Schritt­fol­ge der Groun­ded Theo­ry und ande­rer qua­li­ta­ti­ver Metho­den (vgl. etwa das Ver­fah­ren des Zir­ku­lä­ren Dekon­stru­ie­rens (Jaeg­gi et al. 1998) oder der Natu­ra­li­stic Inquiry (Arm­strong 2010, Athens 2010)) ent­hal­ten sei. Nach ”her­kömm­li­cher“ Auf­fas­sung beginnt die Inspek­ti­on im Rah­men der Groun­ded Theo­ry bereits beim Über­gang vom offe­nen zum selek­ti­ven Kodie­ren beginnt, letzt­lich also dort, wo durch sys­te­ma­ti­schen Fall­ver­gleich die ers­ten Bezie­hun­gen zwi­schen den Kon­zep­ten gefun­den und ent­spre­chen­de Begrif­fe geschärft wer­den. Die­ser Pro­zess fin­det im Rah­men des Ver­fah­rens sein Ende, wenn „Kon­strukt­sät­ti­gung“ erreicht ist, also nichts Neu­es mehr hin­zu­kommt. Man kann die ”Kon­strukt­sät­ti­gung“ inner­halb der Groun­ded Theo­ry als metho­do­lo­gi­schen Ersatz­be­griff für Wahr­heit ver­ste­hen — wenn nichts Neu­es mehr hin­zu­kommt, ist die Explo­ra­ti­on abge­schlos­sen und das Gefun­de­ne „qua­si wahr“. Den meis­ten qua­li­ta­ti­ven For­sche­rin­nen oder For­schern mag ein sol­ches Ver­ständ­nis genü­gen. Wir möch­ten die Über­prü­fung des Gefun­de­nen erwei­tern und damit den Wahr­heits­be­griff for­schungs­prak­tisch kon­kre­ti­sie­ren, indem wir vor­schla­gen, auf der Grund­la­ge von Janich (1996) das Kri­te­ri­um der Zustim­mung durch wei­te­re Ver­tre­ter der empi­ri­schen Welt als ein Ele­ment der Inspek­ti­on ein­zu­füh­ren und das Gefun­de­ne also ganz prak­tisch Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­tern der empi­ri­schen Welt vor­zu­le­gen und die­se zu bit­ten, über Zutref­fen und Nicht­zu­tref­fen des Gefun­de­nen nach­zu­den­ken und die­sen Gedan­ken Aus­druck zu verleihen.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt als Dozent tätig und hatte viele Jahre Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.