Die aktuelle politische Situation in Deutschland ist — speziell in Sachsen — ohne den Begriff der Reaktanz kaum zu verstehen. Bei „Reaktanz“ handelt es sich wahrscheinlich um ein ebenso selten verwendetes Wort wie derzeit häufiges Phänomen, nämlich den Widerstand gegen Überzeugungsdruck.
Nehmen wir als erstes Beispiel die Diskussion um die Bewahrung der Lebensgrundlagen auf diesem Planeten.
Von den ersten Anfängen des Gewahrwerdens, dass wir als Menschheit ggf. ein Problem haben könnten (70er Jahre) bis zu den heutigen Maßnahmen war es ein langer Weg. Die folgenden Sätze haben in den vergangenen Jahren immer mehr Zustimmung gefunden: Wir haben viel zu lange einfach so weitergemacht, und wir dürfen auf keinen Fall so weitermachen, koste es, was es wolle. Wir müssen uns einschränken!
Eine radikalere Version dieser Denkart sieht uns, in Jutesäcke gehüllt, allerhöchstens die Äpfel aus dem eigenen Garten essen, nix Auto, nix mit dem Flugzeug in den Urlaub. Ein solches „ökologisch korrektes Jammertal“ erscheint als Option ebenso unattraktiv wie unrealistisch.
Auf der anderen Seite haben wir ja tatsächlich weitergemacht. Wie soll man auch so schnell jene Pfade verlassen, die bereits eingeschlagen wurden, als noch keiner der heute Lebenden auf der Welt war? Als die Industrie erfunden wurde, wussten unsere Vorfahren noch nicht, was sie einst bewirken würde. Wir können nicht einfach so „anhalten“, ohne die Grundlagen unseres Zusammmenlebens zu riskieren. Klar ist, dass wir in den letzten rund 200 Jahren im energetischen und industriellen Sinne ausgegraben, verbrannt und verarbeitet haben, was die Sonne über viele Millionen von Jahren in die Erde hineingestrahlt hat. Dass eine solche Entnahme und Beschleunigung irgendwann auch „zurückstrahlt“ oder etwas bewirkt, das wir lange nicht auf dem Schirm hatten, erscheint plausibel. Das leuchtete in den vergangenen Jahren auch immer mehr Menschen ein. So gab es zum Beispiel in der Lausitz im Jahr 2021 erstmals mehr Befürworter des Kohleausstiegs als Gegner. Seit 2022 sind es wieder mehr Gegner als Befürworter.
Es ist durchaus nicht untypisch für unsere Spezies, auf ein großes Problem mit Idealismus zu reagieren. Wir analysieren das Problem mit den uns zugänglichen Mitteln und leiten aus dieser Analyse die Heilmittel ab. Wir tun dann oft so, als seien die Heilmittel „alternativlos“, und als müsste alles „jetzt gleich“ sein.
In Bezug auf die umweltpolitische Diskussion haben wir im Prinzip drei Optionen:
- Wir können uns entscheiden, dass an all dem wenig dran ist — was durchaus ein Teil der Bevölkerung tut. Man geht weiter an die Fleischtheke, lässt sich weiter vom Billigflieger in den Urlaub verfrachten usw. Dumm nur, wenn herauskommt, dass auch Aktivisten den Flieger nehmen, wenn sie sich von ihrem Aktivistendasein einmal frisch verliebt erholen wollen.
- Wir können darauf vertrauen, dass uns immer etwas eingefallen ist, und wir, wenn wir nur nach geeigneten Ideen suchen, auch auf solche Ideen kommen. So oder so ähnlich meinen das manche Führungskräfte aus der Industrie, wenn sie sagen, wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, technologische Innovationen zu schaffen, die es im großen Stil erlauben, mit dem Problem umzugehen — nach dem Motto: Wenn unsere Unternehmen mit guten Ideen um die Ecke kommen, ist der Zukunft mehr geholfen, als wenn wir — bei einem eher geringen Anteil an den weltweiten Emissionen — uns selbst kasteien und zum Musterschüler werden, als hätten wir irgendwie Sehnsucht nach jenem Jammertal, damit wir allen zeigen können, dass wir an dem Desaster unschuldig sind und bereits „alles getan“ haben.
- Wir können dem „reinen Ideal“ folgen und möglichst schnell unsere „Fußabdrücke“ minimieren — was schwer ist, denn es handelt sich wie gesagt um industrielle, rechtliche usw. Pfade, die, einmal eingeschlagen, schwer zu verlassen sind. Aber das Ideal scheint, zumindest in den vergangenen Jahren, der modus operandi zu sein. Ein böser Zweifler nur, der denkt, dass das besagte „Jammertal“ ein Ort ist, in dem es viel weniger mittelständische Weltmarktführer gibt, die ihrer Region verbunden sind, fleißig Steuern zahlen und die „Transformation“ überhaupt erst bezahlbar machen.
Wenn wir uns die letzten Jahrzehnte anschauen, gab es eine gewisse „Popularisierung des ökologischen Gedankens“ — angefangen mit der Gründung entsprechender Parteien bis hin zur Entstehung eines gewissen öffentlichen Bewusstseins. Das wurde mitunter ganz „cool“ dargestellt, sei es durch die Vorstellung, dass es eines Tages eine schwarz-grüne Bundesregierung geben könnte, oder durch gewisse Trends in der Ernährung, im Konsumverhalten usw. Natürlich hat das weltweite Wachstum die positiven Effekte der Einsparungen, Effizienzsteigerungen, Verordnungen aus Brüssel usw. vorerst wieder aufgefressen.
Nach dem Bankencrash 2008 hatten wir in Deutschland spätestens ab 2011 „verdammt gute Wachstumsjahre“. Wir haben uns die Vergegenwärtigung des ökologischen Gedankens eher „geleistet“ — weil wir es konnten. Zumindest konnten wir das „erstmal“, bis eine gewisse „Krisenverdichtung“ (Migration, Corona, Preissteigerungen, Inflation usw.) uns das Fürchten lehrte.
Hinzu kam, dass an die Stelle des Merkelschen „sowohl als auch“ plötzlich eine zwar oft schlecht kommunizierte, aber deshalb nicht weniger wirksame, vor allem idealistische Politik trat. Es handelt sich zwar theoretisch um eine rot-grün-gelbe Koalition, in der Wirkung wird die aktuelle Politik aber eher als grün-rot wahrgenommen. Gelb fehlt in der Wahrnehmung weitgehend, und das wird die Partei vermutlich teuer zu stehen kommen.
Freilich ist es alles andere als leicht, in Krisenzeiten zu regieren. Und freilich tun die Grünen nur, was sie lange angekündigt haben, tun zu wollen. Aber sie tun das eben in Zeiten zugespitzter Dynamik. Und so kommt mancher Wähler oder manche Wählerin auf den Gedanken: „Warum das jetzt auch noch?“ Vielleicht regiert auch das Interesse mit, möglichst viel in der begrenzten Zeit einer Legislatur erreichen zu wollen.
Man hat aus verschiedenen Gründen den Atomausstieg organisiert — ohne zu wissen, dass der Ukraine-Krieg ausbrechen wird. Natürlich konnte man das nicht wissen. Den Atomausstieg ohne russisches Gas zu organisieren, ist schwieriger als mit russischem Gas. Man hat die Automobilindustrie unter Veränderungsdruck gesetzt — aus seinerzeit vernünftig erscheinenden Gründen. Hinzu kommen Inflation, Preissteigerungen und eine rückläufige Auftragslage in verschiedenen Branchen.
Das wäre in der Wahrnehmung der Bevölkerung vielleicht einfach nur ein Gewitter irgendwo am Horizont, wenn sich nicht die Budgetverhältnisse vieler Menschen spürbar geändert hätten — und zwar bei gleichbleibend hoher Steuerlast.
Was die Leute sehen, ist, dass man weitermacht. Zum Weitermachen brauchen wir aber Steuereinnahmen, und eine sinkende Auftragslage in der Wirtschaft bedeutet auch sinkende Steuereinnahmen. Wer soll all die sozialen und ökologischen Projekte finanzieren? Es scheint, als sei die Politik erst so richtig idealistisch geworden, als eigentlich schon absehbar war, dass das alles nicht zu bezahlen sein wird.
Irgendwann jedenfalls war es nicht mehr nur ein „Gewitter am Horizont“. Wenn man noch hinzurechnet, dass wir als Gesellschaft einigermaßen gebeutelt aus den Corona-Maßnahmen herausgestolpert sind, weil wir uns mitunter heftig darüber gezankt haben, was richtig oder falsch sei, und wenn man diese Liste noch um weitere Themen ergänzt, dann wird vielleicht plausibel, wenn sich der eine oder die andere abwendet, weil sie oder er das aktuelle politische Geschehen nicht mehr nachvollziehen kann.
Irgendwann jedenfalls verstummen manche Menschen, wenden sich ab, andere steigen regelrecht aus. Angenommen, es kommt zum Protest — Protest ist ja zunächst einmal nur der Beweis dafür, dass eine Demokratie funktioniert. Aber natürlich haben auf der Straße jene gewartet, die schon länger ausgestiegen sind oder sich etwas grundsätzlich anderes vorstellen. Und natürlich kann man die einen von den anderen auf den ersten Blick nicht unterscheiden; es sind ja zunächst alles Menschen, die irgendwie in unserer Gesellschaft leben.
Jetzt kommen wir zu einer der Gretchenfragen unserer Zeit: Ist der Protest „legitim“ und kommen die Radikaleren nur hinzu? Oder stehen die Radikaleren schon immer bereitwillig auf der Straße und laden die erst neulich zur Empörung Gekommenen ein, radikaler zu werden?
An dieser Frage entzünden sich all die Belehrungen, dass man die Demokratie verteidigen und den Anfängen wehren müsse und den Radikalen keinen Raum überlassen dürfe. Aber: Allein die Frage zu stellen, ob Protest „legitim“ sei, ist schon — ja, was eigentlich? Arrogant? Autoritär? Gemein?
Damit meine ich weniger den Umgang mit tatsächlich Radikalen, die gern alles auf den Kopf stellen würden und auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Wenn jemand eine Flüchtlingsunterkunft anbrennen will, helfen keine Gespräche, dann hilft nur die Polizei. Aber wenn alle möglichen Leute, die protestieren, kollektiv der Radikalität verdächtigt werden, nur weil sie nicht schnell genug einen politisch korrekten Besinnungsaufsatz herbeten und sich gleichsam prophylaktisch distanzieren, dann gehen uns die Unterscheidungsmöglichkeiten verloren, und dann können wir nicht mehr zwischen Skepsis, Protest und Radikalität unterscheiden. Skepsis und Protest müssen möglich sein und dürfen in den öffentlichen Diskussionen nicht von vornherein unter dem Vorzeichen der Radikalität verhandelt werden. Es scheint tatsächlich ein Ausdruck der heute populären „belehrsamen Arroganz“ zu sein, wenn man eine — quasi prophylaktisch vorgetragene — Distanzierung verlangt. Skepsis und Protest sind vielleicht einfach nur ein Ausdruck dessen, dass man von der aktuellen Politik die Nase voll hat.
Was passiert aber, wenn dann trotzdem weitergemacht wird — und die Skepsis und der Protest mit Belehrungen abgetan werden?
Corona, hohe Energiepreise, Inflation, signifikante Preissteigerungen auch in anderen Bereichen — und dann auch noch das Heizgesetz.
Es geht hier nicht um das Heizgesetz an und für sich. Es geht auch nicht darum, ob die Liste vollständig ist oder ob es etwa „legitim“ sei, das so zu sehen. Ich versuche hier nicht, eine objektive Ereigniskette zu beschreiben, sondern ich versuche, den Prototypen einer Reaktion darzustellen. Ob es nun in jedem einzelnen Fall das Heizgesetz war oder nicht, spielt keine Rolle. Irgendwann gab es bei vielen Menschen jenen „Tropfen auf den heißen Stein“, der sie dazu gebracht hat, sich abzuwenden.
Die Folge ist Reaktanz. Wenn jemand etwas von mir will, das ich nicht nachvollziehen kann, und wenn er dann auch noch Überzeugungsdruck ausübt, nun, dann mache ich irgendwann das Gegenteil. Durch die Reaktanz gewinnt die Emotion die Oberhand. Ich entscheide dann ggf. nicht mehr besonders rational, sondern ich folge meiner emotionalen Abwehrhaltung.
Die unerwünschte Nebenwirkung: Ich werde toleranter gegenüber Positionen, die radikaler sind als meine eigene Position. Ich lehne diese Positionen vielleicht eigentlich ab. Aber weil ich jene anderen Dinge emotional noch viel stärker ablehne und vor allem Belehrung sehe wie bspw. den Hinweis, dass man ja undemokratisch sei, wenn man protestiere, dann entscheide ich mich vielleicht, die radikaleren Positionen für „irgendwie doch ganz cool“ zu halten, einfach nur, weil die betreffenden Leute keine Angst haben, ihre Meinung zu sagen.
So oder so ähnlich könnte ein „Weg in die Reaktanz“ aussehen: „Irgendwann habe ich etwas vielleicht gut oder mindestens akzeptabel gefunden. Dann sind aber Umstände eingetreten, nach denen ich etwas nicht mehr nachvollziehen konnte. Ich habe nichts gesagt. Dann ist die Situation nicht besser geworden, im Gegenteil. Das, was ich einerseits für den Boden der Tatsachen halte, und was andererseits politisch passiert, weicht in meinen Augen noch weiter voneinander ab. Ich sage trotzdem nichts. Aber mein Verständnis für diejenigen, die etwas sagen, wächst weiter. Manchmal sind mir diese Leute zu laut, zu radikal, manchmal wollen diese Leute auch Sachen, die ich gar nicht will. Aber mittlerweile bin ich so wütend, dass ich lieber die anderen bevorzuge, als noch länger bei dem zuzusehen, was gerade vor sich geht. Alle möglichen Leute belehren mich, man müsse die Demokratie verteidigen. Aber wenn bei der Demokratie herauskommt, dass man, wenn man protestiert, auch noch Belehrungen abfasst, dann müsst Ihr Euch nicht wundern, wenn die Leute anfangen, an der Demokratie insgesamt zu zweifeln. Spätestens als auch noch die Bauernproteste radikal unterwandert sein sollten, hat es mir endgültig gereicht. Ihr könnt machen, was Ihr wollt, habe ich mir gesagt. Ich zweifle nicht an der Demokratie, aber Ihr werdet schon sehen, was bei der nächsten Wahl herauskommt.“
Die beste Wahlkämpferin für die Partei, die viele am liebsten aus dem demokratischen Bus schmeißen würden, ist die Reaktanz.
Jörg Heidig
PS: Man muss diesen Text nicht mögen. Ich will etwas beschreiben, das viele nicht sehen oder vielleicht auch nicht sehen wollen. Meines Erachtens ist mit Reden einstweilen Schluss, die Reaktanz ist mittlerweile zu stark. Zudem will ich meinen, dass „mehr vom Selben“, also noch mehr Brandmauer-Rhetorik, Belehrungen, Überzeugungsdruck usw., die Dynamik nur noch weiter verstärken wird. Wenn ich das, was ich hier aufgeschrieben habe, laut sage, bekomme ich normalerweise Ärger. Ich habe auch schon die Unterstellung gehört, genau dieser einen „unerwünschten“ Partei nahezustehen. Na bitte: Unterstellungen wie diese machen die Zusammenhänge und Wirkungen, die ich hier beschreiben will, umso deutlicher. Andererseits muss man anerkennen, dass die Situation nicht ungefährlich ist. Wer genau liest, sieht ggf. einige Parallelen zu der Situation in den USA. Ich habe kurz nach dem Überfall auf das Capitol einmal die Befürchtung gelesen, dass bei einem nächsten Mal ggf. nicht so lange gewartet wird, bis man „stürmt“. Aber indem wir die Unterschiede zwischen Skepsis und Protest auf der einen und tatsächlicher Radikalität auf der anderen Seite durch allzu viele Unterstellungen, Zuschreibungen, Belehrungen usw. verwischen, machen wir die Sache nicht besser, sondern liefern einen zwar vielleicht unbeabsichtigten, aber dennoch wirksamen Beitrag zur Eskalation. Gute Absicht schützt nicht davor, dass das Gegenteil des Beabsichtigten bewirkt wird.
Bild: Das Beitragsbild wurde ursprünglich mit Hilfe künstlicher Intelligenz erzeugt (der Esel in Uniform, der irgendwie aussieht, als wäre er einem Gemälde von Eugene Delacroix entsprungen) und später nachbearbeitet (Briefmarken-Optik und schwarzer Hintergrund).