Über gute Kommunikation kann man nicht reden, gute Kommunikation muss man machen. Wie geht das?
Über Kommunikation werden viele Worte gemacht. Aber anstatt über gelingende Kommunikation zu reden, sollte man lieber ganz praktisch dafür sorgen, dass Kommunikation gelingt. Klingt simpel, ist es aber nicht. Wenn es so einfach wäre, wie manche Bücher über Kommunikation uns weismachen wollen, nach dem Motto: Halte diese Regel ein oder jene, und sprich bitte genau so und so und nicht anders, dann könnte es jede und jeder. Kann sie aber nicht. Und er auch nicht.
Dieser Text ist keine Belehrung über Kommunikationsregeln (und schon gar keine Vorlesung über politisch korrektes Sprechen; die politische Korrektheit und der Verfasser dieses Textes wohnen nicht im gleichen Zimmer). Dieser Text will vielmehr die Frage beantworten, wie wir Kommunikationsprobleme praktisch lösen, anstatt über Regeln oder Modelle zu diskutieren.
Das Kernproblem wird bereits anhand eines einfachen Beispiels deutlich: Was tun Sie, wenn Sie kritisiert werden?
In der Regel rechtfertigt man sich oder äußert Gegenkritik. Oder? Bildhaft dargestellt sieht das so aus:
Die Kritik kommt, und man geht, was die „soziale Flughöhe“ betrifft, eine Etage nach unten — man rechtfertigt sich, man jammert vielleicht sogar ein bißchen. Wenn man jammert, signalisiert das dem Gegenüber: „Nicht weitermachen, die Person ist ja schon verletzt, tritt jetzt nicht noch nach…“ Wenn man sich rechtfertigt, hat man vielleicht nichts davon gewusst, oder man wurde zum Opfer von anderen usw. Ziel ist immer die eigene Entlastung. Und die Grenzen zwischen „tatsächlicher Betroffenheit“ und „Manipulation“ sind fließend. Eine Rechtfertigung unter Tränen, die schluchzend und leise, aber dennoch bestimmt, die Schuld jemandem anderen zuschreibt, ist mitunter nicht nur eine sachliche Rechtfertigung, sondern vielleicht auch eine Manipulation. Je subtiler und natürlicher die Technik daherkommt, desto effektiver ist sie. Ob ich etwas glaube oder nicht, ist weniger davon abhängig, wie wahr es ist, als vielmehr wie wahr es daherkommt, wie sehr ich es glauben möchte, und — wenn ich vom Thema wenig oder keine Ahnung habe — wie oft es gesagt wird. Wenn eine Rechtfertigung mit entsprechender Emotionalität „garniert“ wird, ist sie manipulativ. Wenn die Emotionen hingegen echt sind, tue ich dem Gegenüber Unrecht, wenn ich eine Manipulation vermute.
Diese Unterscheidung zu treffen, ist sehr schwer. Manche Bücher handeln von der Frage, ob man Lügen erkennen kann. Machen wir doch einmal eine Übung: Sie stellen mir zehn Fragen. Ich antworte. Sie schätzen ein, ob ich gelogen habe oder nicht. Hier finden Sie einen Artikel zu der Frage, ob und wie man Lügen erkennen kann.
Aber es gibt noch eine andere Strategie, denn manche würden wohl eher nicht auf die Idee kommen, sich zu rechtfertigen. Sie wählen den anderen Weg — und greifen an bzw. äußern ihrerseits Kritik. Auch diese Handlungsoption dient zunächst dem Selbstschutz, nach dem Motto: Ich frage mich gar nicht erst, ob an der Kritik etwas dran sein könnte, sondern ich greife gleich mal an, damit das Gegenüber sieht, dass man hier nicht einfach daherkommen und sagen kann, was man will. Was man vielleicht denkt: „Da ist schon was dran, aber das lasse ich mich nicht anmerken. Zugeben kann dies oder das später immer noch. Jetzt geht es erstmal darum zu zeigen, dass man es hier mit einem ebenbürtigen Gegner zu tun hat.“
Beide Wege — die Rechtfertigung und der Gegenangriff — sind „defensive“, also letztlich die eigene soziale Rolle oder auch die eigene soziale „Flughöhe“ verteidigende Strategien. Von Selbstreflexion zunächst keine Spur. Man lernt ja nur etwas, wenn etwas schief gegangen ist oder zum ersten Mal gelingt — aber allzu häufig schützen wir uns selbst davor zu lernen. Wir bestehen vor allem aus Erinnerungen und Gewohnheiten — die Annahme eines irgendwie wunderschönen und höchst individuellen Selbst ist mehr Folklore als Realität; wer sich selbst sucht, findet nichts, könnte man den Millionen von mehr oder minder extrovertierten Selbstsucher*innen in den sozialen Netzwerken zurufen. Aber das hören sie ohnehin nicht. 😉
Die Voraussetzung für Reflexion und Lernen ist die Fähigkeit zu ertragen, dass man falsch liegen könnte, also gleichsam selbst schon anzunehmen, dass man falsch liegen könnte. Man könnte sich also beispielsweise fragen, wie man anders über eine Situation denken könnte. Damit würde man die Autobahn der emotionalen Reaktion verlassen.
Die Autobahn der emotionalen Reaktion… Was ist damit gemeint?
Wir sind Säugetiere. Wir reagieren auf körpersprachliche Reize viel unmittelbarer und schneller, als auf Worte. Wir sind schon bspw. ängstlich oder wütend, bevor wir es merken. Unsere Fähigkeit zu denken und uns etwas vorzustellen, hängt an der Sprache. Die Fähigkeit zur Sprache ist im Zuge der Entstehung der Hominiden zuletzt entstanden. Vorher war: Reiz > Emotion > Reaktion. Die Emotion ist quasi eine reaktionsleitende Situationsbewertung. Jetzt ist: Reiz — Emotion — Reaktion (in den meisten Fällen) oder: Reiz — Emotion — Gedanke — Reaktion (in wenigen Fällen). Aber wenn es zu einem Gedanken kommt, dann braucht es eben auch die Fähigkeit, sich von den eigenen Emotionen soweit zu entsetzen, dass ihnen nicht gleich eine Reaktion folgt, sondern ein Gedanke folgen KANN, was einschließt, dass man sich eben auch vorstellen können muss, dass man falsch gelegen haben könnte.
Sehen Sie das Muster? Rechtfertigung und Gegenkritik sind mehr oder minder emotionsgeleitete, automatische Reaktionen, die in Zweifelsfall zu Frust (durch Rechtfertigung) oder zu Ärger und damit zum Gegenangriff (Gegenkritik) und damit nicht näher an das Ziel führen, während der „dritte Weg“ dafür sorgt, dass ich emotional weniger betroffen bin und damit handlungsfähig bleibe (mir also etwas einfallen lassen kann) — was einiges an Anstrengung erfordert, aber hilfreich ist.
Auf jenem „dritten Weg“ stelle ich mir Fragen wie:
- Wie könnte ich anders über die Situation denken?
- Was will die andere Seite wirklich?
- Was weiß ich noch nicht?
- Welche Optionen habe ich?
Anstatt mir Fragen zu stellen wie:
- Warum sind die so dumm?
- Was muss ich anders machen, damit ich die überzeugen kann?
- Warum bin ich so blöd, mich eigentlich darauf einzulassen?
Der dritte Weg führt weg von der (emotionalen) Bewertung hin zu einer Haltung, die immer wieder zu neuen Fragen führt: Wie kann ich anders denken? Welche Annahmen treffe ich ggf. nicht? Was weiß ich ggf. nicht? Was denkt eigentlich mein Gegenüber? Wie kann ich anders handeln? Welche Optionen habe ich? Ich bleibe also im Gespräch, und meine Haltung sorgt dafür, dass ich das Gespräch führe und nicht nur reagiere. Die nachfolgend abgebildete „Landkarte der Wahlmöglichkeiten“ von Marilee Adams illustriert diesen Zusammenhang (Zeichnung: Juliane Wedlich).
Überzeugung und Manipulation
Ich kann mich natürlich auch fragen, wie ich mein Gegenüber möglichst so beeinflussen kann, damit mein Gegenüber tut, was ich möchte. Dann verlasse ich den Bereich der authentischen Gesprächsführung und betrete den Bereich des mehr oder minder reinen Wirkungsinteresses. Dann kommt es sehr auf die Reihenfolge dessen an, was ich sage oder frage. Schauen wir uns zunächst ein — zugespitztes, übertriebenes, ins Gegenteil verkehrtes, ganz und gar nicht zum Nachahmen geeignetes — Beispiel an:
Wie manipuliere ich mein Kind so, dass es den anderen Part infrage stellt und sich auf meine Seite schlägt?
Angenommen, Sie haben ein Kind und sind vom anderen Elternteil getrennt. Und angenommen, Sie möchten Ihr Kind auf Ihre Seite ziehen. Idealerweise kommt es nicht dazu, weil das Kind ja Bindung zu beiden Eltern hat und auch beide Eltern braucht. Wenn ich den anderen Elternteil kritisiere, haue ich auch immer das „halbe Kind“ in die sprichwörtliche Pfanne, denn das Kind besteht nun einmal aus Eigenschaften und Impulsen beider Eltern, und ein Kind verdient — insbesondere, wenn es klein ist —, dass sich die elterlichen Zwistigkeiten ganz und gar nicht an ihm „abregnen“, sondern es bedarf der Unterstützung, Liebe und Struktur von beiden Seiten. Aber angenommen, der oder die Ex ist in meinen Augen der reinste „Sargnagel“, und ich möchte dies möglichst effektiv auch dem Kind vermitteln. Das Rezept ist folgendes:
- Ich stelle dem Kind Fragen, wie es beim anderen Elternteil war.
- Ich höre zu, bin empathisch, stelle weitere Fragen.
- Wenn das Kind anfängt, kritische Dinge zu äußern, ggf. sogar frustrierende Erlebnisse zu schildern oder gar von Angst zu reden, bestärke ich das Kind. „Würde mir genauso gehen.“ oder: „Du hast Recht. Das geht gar nicht.“ Um schließlich zu sagen: „Siehst Du, da weißt Du mal, wie es mir gegangen ist. Genauso ist die Mama. Mich hat sie auch gehauen, zum Beispiel auch, wenn ich Dich in Schutz genommen habe.“ Vielleicht hat die betreffende Mutter ihren Ex-Partner nie geschlagen, oder vielleicht wird man die Wahrheit nie erfahren. Aber ich bin immer noch erwachsen und habe mich meinem Kind gegenüber nicht zu verhalten, als ob ich selbst ein Kind wäre. Das ist aber der Kern einer sehr wirkungsvollen Manipulation: Ich stelle mich als Opfer dar und weise deutlich darauf hin, wer der oder die Schuldige ist.
Wie manipuliere ich mein Gegenüber so, dass es mir vertraut und vieles von dem, was ich sage, glaubt?
Das Beispiel der Manipulation von Kindern mag drastisch sein, zeigt aber das Grundmuster der Manipulation. Gegen Interesse können sich Menschen schlecht wehren. Echtes, ehrlich gemeintes Interesse öffnet Türen. Wenn ich meinem Gegenüber echtes Interesse (oder im Fall von Manipulation: gefühlt echtes Interesse) entgegenbringe, öffnet sich der Mensch in der Regel. Damit macht sich das Gegenüber auch verletzlich. Ich erfahre, die richtigen Fragen vorausgesetzt, etwas über die Motive, die Emotionen und die Bedürfnisse meines Gegenübers. Dann bestätige ich, was ich höre. Ich berichte von eigenen Erlebnissen, von Situationen, in denen ich ähnlich reagiert habe, oder ich gebe schlicht zu verstehen, dass es mir genauso gehen würde. Dadurch öffnet sich das Gegenüber noch weiter und beginnt, mir zu vertrauen. Ich lasse einige Zeit vergehen (je nach Anlass und Situation Minuten bis Wochen). Ich bleibe weiter interessiert. Interesse zeigt sich vor allem durch tatsächlich interessierte Fragen. Alle W‑Fragen eignen sich hier — außer Warum/Wieso/Weshalb.
Zu früh nach dem Warum zu fragen, kann beim Gegenüber Rechtfertigung und damit einen Rückzug auslösen. Ist bereits Vertrauen da und eine belastbare Beziehung aufgebaut, kann ich auch konfrontieren oder Warum-Fragen stellen. Ist noch kein Vertrauen da, führt eine Warum-Frage eher zur Irritation oder gar zum Abbruch der im Aufbau befindlichen Beziehung.
Wenn ich Vertrauen aufgebaut habe, folgen eine Reihe von Bestätigungen. Das gebildete Vertrauen wird gefestigt. Aus dem anfänglichen Zutrauen wird langsam tatsächlich gefestigtes — im manipulativen Fall: sich wenigstens für den Moment fest anfühlendes — Vertrauen. Ein Freund ist „gefühlt“ jemand, der einen mag, obwohl er einen kennt. Jeder Mensch macht Fehler, und eine tatsächlich gefühlte Akzeptanz für den „ganzen“ Menschen (= einschließlich der Fehler) ist sowohl die Grundlage für tatsächliches Vertrauen als auch die Grundlage für sehr wirksame Manipulation. Es kommt also auf die Absichten an — was in einem Vertriebsgespräch legitim sein mag, ist in anderen Kontexten vielleicht weniger erwünscht, aber deshalb nicht weniger wirksam.
Hinzu kommen verschiedene Effekte, die sich aus den Eigenheiten der menschlichen Informationsverarbeitung ergeben — zwei Beispiele:
- Häufigkeit: Wenn mein Gegenüber wenig oder keine Ahnung hat von dem, worüber ich spreche, sind Einfachheit und Wiederholung besonders wirksam. Ich sage, was ich zu sagen habe, in einfachen Hauptsätzen, und ich wiederhole die wichtigen Aspekte (Alleinstellungsmerkmale oder Schlussfolgerungen oder Handlungsaufforderungen) sehr oft. Mangelnde Kompetenz wird quasi durch Frequenz ersetzt — und mein Gehirn folgt der Frequenz bereitwillig, eben weil die Frequenz die Kompetenzlücke füllt. Deshalb ist politische Propaganda, wenn sie nur häufig genug dargebracht wird, bei Menschen mit niedriger politischer Beurteilungskompetenz umso wirksamer.
- Reihenfolge: Etwa so wie das Dreieck in der Geometrie die stabilste Figur darstellt, hat eine Abfolge von drei Argumenten eine starke Wirkung, und zwar in dieser Reihenfolge: das stärkste Argument zuerst, das schwächste in der Mitte und das zweitstärkste am Ende. Menschen neigen dazu, sich am besten an das zu erinnern, was am Anfang oder am Ende einer Ereigniskette stattgefunden hat. Sie können das an einem einfachen Beispiel nachvollziehen: Erinnern Sie sich an einen beeindruckenden Urlaub: Die ersten Tage und manche Erlebnisse oder Bilder aus den letzten Tagen sollten am besten „sitzen“. Fest steht: Das stärkste Argument sollte an erster Stelle stehen, damit es die ggf. vorhandene Wand durchbricht.
Wir haben bis jetzt drei Überzeugungstechniken behandelt: (1) Vertrauensaufbau durch Interesse, (2) Häufigkeit und (3) Reihenfolge der Argumente. Nun geht es um die wahrscheinlich wirksamste Manipulationstechnik, nämlich die Frage, wie ich Sympathie erzeuge.
Sympathie
Bei der Sympathie handelt es sich auf den ersten Blick um eine vollkommen intuitive Sache: jemand ist mir sympathisch oder nicht, und entscheiden hat mein Gehirn diese Frage in gefühlt 0,3 Sekunden. Oder?
Aber so, wie wir uns selbst ganz einzig und individuell vorkommen und es bei der Betrachtung großer Gruppen gar nicht sind (sondern uns dann doch nur anhand einiger weniger Merkmale unterscheiden und zu Gruppen zusammenfassen lassen), ist es auch mit der Sympathie: Was uns als ganz individuelle und einzigartige Sympathie — oder im Extremfall: „Seelenverwandtschaft“ — vorkommen mag, basiert im Grunde auf Ähnlichkeit.
Am Beispiel der Sympathie wird die Grenze zur Manipulation sehr deutlich.
Jemand ist mir sympathisch, wenn sie oder er zum Beispiel ähnlich alt ist und ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie ich. Oder das Gegenüber ist ähnlich alt und kleidet sich ähnlich wie ich. Oder ich bin irgendwo sehr weit weg im Urlaub und treffe jemanden aus Deutschland — daheim würden wir uns vielleicht „nicht einmal mit dem Hintern angucken“, wie man sagt; in der Fremde erscheinen wir uns aber ähnlich. Ähnlichkeiten in der Kleidung oder der Sprechweise, bei Erfahrungen, im Alter, oder etwa früher einmal den gleichen Arbeitgeber gehabt zu haben oder unter die selbe kollektive Diskriminierung gefallen zu sein — solche Dinge können sympathisch machen.
Nun stellen Sie sich einmal vor, dass jemand das weiß — und anwendet. Die Person kleidet sich vielleicht ähnlich, verwendet ähnliche Sprechweisen (Redewendungen, Dialekt, Ausdrucksweisen usw.), zeigt Interesse, stellt Fragen, berichtet von ähnlichen Erlebnissen, macht Komplimente, sieht alles positiv — und meint sogar, die Begegnung sei einzigartig. Welcome to the world of love bombing. Welcome to the world of effective manipulation. Ähnliche Kleidung kann Zufall sein. Ähnliche Sprechweise kann Zufall sein. Ähnliche Kleidung UND ähnliche Sprechweise können Zufall sein. Aber wenn ein weiterer Ähnlichkeitsfaktor hinzukommt oder behauptet wird, haben wir es ggf. mit der Grenze zur Manipulation zu tun.
Was machen Psychologen, wenn sie Gespräche führen? Sie stellen Fragen. Sie fassen das Gehörte zusammen und formulieren mit eigenen Worten, was sie verstanden haben. Sie visualisieren vielleicht noch irgendetwas. Sie halten Blickkontakt. Sie bestätigen, sie haben eine interessierte und zustimmende Körperhaltung, sie nicken.
Jetzt rechnen wir alles zusammen:
- ähnliche Kleidung
- Imitation der Sprechweise
- Interesse
- Blickkontakt
- Zustimmung
- Wiederholung dessen, was gesagt wurde, mit eigenen Worten
Klingt das irgendwie nach einem Wirksamkeitsrezept? Jetzt stellen Sie sich noch vor, dass zu all diesen Faktoren noch eine ähnliche Körpersprache kommt. Haben Sie einmal beobachtet, wie sich zwei Menschen verlieben? Oder erinnern Sie sich? Vier Phasen: Blickkontakt — Lächeln — (scheinbar) zufällige Berührungen — Gleichklang der Gesten. Das kann über Stunden oder Tage oder Wochen gehen, der Prozess ist zeitunabhängig, aber die Phasen folgen aufeinander. Am Ende ähnelt sich die Körpersprache stark. Haben Sie das vielleicht auch einmal bei einer Psychologin oder einem Vertriebler beobachtet? Immer im Fokus des Blicks, immer interessiert, immer Fragen stellend — UND IMMER: die Körpersprache imitierend.
All das kann natürlich auch ohne Manipulationsinteresse eingesetzt werden. Dann wäre es ggf. einfach nur hilfreich. Aber wenn es als Manipulationsstrategie eingesetzt wird, und wenn es gekonnt gemacht wird, dann ist Gegenwehr unwahrscheinlich.
Eine Testfrage könnte lauten: Sind Sie vielleicht einmal einem waschechten Narzissten auf den Leim gegangen? Erinnern Sie sich vielleicht daran, wie „selbstverständlich“ das alles geschehen ist und wie Sie eben nichts gemerkt haben? … Bei einem Großteil der Werbung geht es übrigens auch darum, im Idealfall nichts zu merken. 😉
Für eine vollständige und ausführliche Darstellung dieser und noch weiterer Faktoren lesen Sie entweder Robert Cialdini („Die Psychologie des Überzeugens“) oder Matthias Schranner („Verhandeln im Grenzbereich“).
Der zentrale Wirkungsfaktor der Deeskalation: Körpersprache
Wenn wir die bisherigen Erkenntnisse aus diesem Text zusammenfassen, wissen wir zunächst, wie es zur Eskalation kommt. Wir müssen nur „automatisch“ reagieren, also uns selbst schützen — durch entweder Rechtfertigung oder Gegenkritik/Gegenangriff. Wenn wir uns rechtfertigen, wird das Gegenüber das ggf. als Einladung verstehen, nachzulegen oder sogar „nachzutreten“. Wenn wir mit einem Gegenangriff reagieren, führt das wahrscheinlich zu einer weiteren Verstärkung der Kritik — jenem Wechselspiel aus Kritik und Gegenkritik. „Ja, aber…“ lautet die Grundformel solcher Dialoge, die in der Regel nur zu einer Wiederholung der Argumente mit steigender Frequenz und/oder Lautstärke führen.
Zudem wissen wir, was wir tun müssten, um aus einer Eskalationsdynamik „auszusteigen“: Wir müssten uns selbst und unsere eigenen Belange nicht so ernst nehmen und stattdessen eine Haltung des Interesses am Gegenüber einnehmen — und entsprechende Fragen stellen. Die Haltung (Interesse) ist dabei wichtiger als die Technik (Fragen). In der Regel gilt: Nur wenn die Haltung stimmt, gelingt auch die Kommunikationsabsicht.
Drittens wissen wir, welche Techniken wir verwenden können, um Wirkungsziele zu erreichen. Wenn wir uns aber einigen wollen, ist es nicht hilfreich, strategisch (= wirkungsorientiert) zu kommunizieren — denn vorgetäuschtes Interesse oder vorgetäuschte Authentizität schlagen ins Gegenteil um, wenn bemerkt wird, dass das alles nur „Masche“ und nicht ehrlich gemeint ist.
Das „eigentliche“ Wesen der Deeskalation geht über das bisher Besprochene hinaus. In der direkten Kommunikation kommt es weniger darauf an, was man sagt, als vielmehr darauf, wie man etwas sagt. Wir sind Säugetiere; unsere Fähigkeit zu sprechen ist viel jünger als der Umstand, Emotionen zu haben. Wir haben Emotionen eher und physischer, als uns bewusst wird. Wir ärgern uns zum Beispiel und reagieren aus dem Ärger heraus — die entsprechende Körpersprache eingeschlossen. Das Gegenüber reagiert mehr auf die Körpersprache als auf das, was wir sagen.
Was hilft hier?
Lassen Sie die Arme am Körper. Nicht wild und schnell gestikulieren. Sprechen Sie nicht schneller oder lauter als gewohnt bzw. als im Normalfall. Legen Sie eine „Verstehenspause“ ein — geben Sie Ihrem Gehirn also die Chance zu bemerken, dass Sie unter Druck stehen — und finden Sie dann jene Abkürzung auf jenen anderen Weg, auf dem man sich fragt, wie man anders denken könnte.
Indem Sie selbst ruhig bleiben — oder wieder ruhig werden — wirken Sie auch auf Ihr Gegenüber ein. Indem Sie selbst ruhiger werden, wird auch Ihr Gegenüber ruhiger. Indem Sie selbst Interesse zeigen, fühlt sich das Gegenüber verstanden. Wenn sich Ihr Interesse mit einer entsprechend neutralen oder ruhigen Körpersprache paart, wird auch das Gegenüber ruhiger, und die Eskalation ebbt ab. Sie wollen nichts und setzen der Kritik des Gegenübers nichts entgegen. Nicht diskutieren, sondern Fragen stellen. Das Gegenüber beantwortet die Fragen. Sie nicken, zeigen Verständnis, stellen weitere Fragen. Vielleicht „verbünden“ Sie sich sogar mit dem Widerstand. Aber in jedem Fall bleiben Sie ruhig. Auch Ihr Gegenüber wird dann ruhiger.
Umgang mit Emotionen
Wenn es denn so einfach wäre, werden jetzt manche Leserinnen oder Leser denken — und sie haben Recht. Die „Formel“ zu beschreiben, ist einfach. Bei der konkreten Umsetzung kommt es darauf an, wie man mit Emotionen umgeht — bzw. wie man mit Emotionen in potentiell belastenden oder eskalierenden Situationen umgeht. Hier kann man vier Typen voneinander unterscheiden. In der Praxis handelt es sich weniger um „reine Typen“, als vielmehr um „prototypische Reaktionsmuster“, denen man mehr oder weniger entsprechen kann, zudem gibt es verschiedene Mischvarianten.
Der Ritter:
Der Ritter versucht, belastende Ereignisse nicht an sich heran zu lassen. Er legt sich eine Rüstung zu, trainiert sich einen „Harnisch“ an. Die meisten Ereignisse prallen an dem Harnisch ab. Wenn aber im Laufe des Lebens phasenweise die Belastungen zunehmen, kann es sein, dass die Rüstung rostet. Oder das Erleben des Ereignisses ist so stark, dass es die Rüstung „durchschlägt“. Dann trifft es den Ritter direkt, dann hat er keine Abwehr mehr. Das äußert sich dann so, dass der Ritter nach einer belastenden Situation das Gegenüber abwertet. Er oder sie meckert dann über den Einsatz, den Antrag, das Problem o.ä. Und wird nicht fertig mit Meckern, im Gegenteil: das Meckern kann in Schimpfen übergehen. Bleiben diese Menschen unter Druck und ändert sich die Situation nicht, werden sie zynisch.
Der die Dinge mit nach Hause nimmt:
Viele Menschen gehen nicht direkt mit den Dingen um, die sie belasten. Sie verlagern die Verarbeitung — im häufigsten Fall nehmen sie die Dinge mit nach Hause und besprechen sie dort. In Seminaren hört man oft, dass man die Dinge nicht mit nach Hause nehmen soll; datenschutzrechtliche Belange sprechen auch dagegen. Aber nehmen wir das Beispiel einer Führungskraft: Eine Führungskraft kann das, was sie bewegt, schlecht mit ihren Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern besprechen. Führungskräfte sind oft buchstäblich allein mit ihren Problemen. Also besprechen sie ihre Probleme im letzten und intimsten Schutzraum, den sie haben: in ihrer Beziehung oder Ehe. So lange die Beziehung intakt ist, funktioniert das auch. Probleme entstehen in der Regel dann, wenn zuhause etwas „kaputt“ ist. Dann reagieren diese Menschen mit Rückzug. Sie versuchen, die Kontrolle über die belastende Situation wiederherzustellen, indem sie sich zurückziehen, die Anzahl der Einflüsse reduzieren usw. In der Regel wird solches Verhalten von Mitarbeiterseite als irritierend erlebt.
Der Zugewandte:
Dieser Typ macht sich normalerweise keine Sorgen um seine Emotionen — bis sie oder er sich Sorgen machen muss. In der Regel ist dieser Typ sehr empathisch — man versetzt sich in sein Gegenüber, man versucht, hilfreich zu sein, man fühlt mit. In belastenden Situationen merkt man aber, dass man die professionelle Distanz verloren und über die eigenen Grenzen hinaus agiert hat. Darauf reagiert man, indem man die professionelle Distanz wiederherstellt. So ergibt sich ein ebenso stetiges wie langsames Schwankungsmuster zwischen Empathie und Distanz, mit dem die Betroffenen im Laufe ihres Berufslebens nie wirklich fertig werden. Es handelt sich sehr wohl um einen Lernprozess — mit den Jahren wird man professioneller, erkennt man die Dynamik und seine eigenen Anteile an einer jeweiligen Situation eher — wirklich „weggehen“ wird dieses Muster aber kaum. Es gilt also, sich damit „anzufreunden“ und einen praktischen Umgang damit zu finden, der sich nicht zu stark an der Klientenseite „abregnet“.
Der Pragmatiker:
Es gibt ein Muster des Umgangs mit belastenden Erlebnissen, das tatsächlich wie ein Idealtyp aussieht. Die „Ritter“ versuchen oft, genau so zu wirken, bekommen es aber nicht hin und verlieren sich, wenn es sie trifft, in dem für sie typischen Gemecker oder eben direkt in Abwertung. Ganz anders die Pragmatiker, die sich sagen: „Naja, das ist jetzt ein Problem, aber das habe ich mir ja ausgesucht, als ich mich für diesen Beruf entschieden habe. Das gehört dazu. Also los. Augen zu und durch. Das wird schon. Das ist nicht die erste solche Situation, und es wird nicht die letzte sein.“ Diese Einstellung hilft tatsächlich, ruhig zu bleiben. Aber es scheint, als wäre diese Einstellung eher eine Frage der Persönlichkeit oder eben einer „inneren Entscheidung“ oder Haltung. Im Grunde haben diese Menschen irgendwann beschlossen, dass es eben so ist, wie es ist. Sie beschäftigen sich nur mit den Dingen, die sie beeinflussen können. Alles andere nehmen sie hin. Der Ritter tut so, als würde er es hinnehmen, und so lange seine Rüstung hält, tut er das auch, aber wenn der Schutzmechanismus kaputt ist, wirkt sich das direkt auf seine Emotion aus, und er ist ständig damit beschäftigt, sich durch „Gemecker“ oder „Abwertung“ wieder ins Gleichgewicht zu bringen (was mit zunehmendem Lebensalter oft immer weniger/schlechter gelingt). Der gleichmütige Pragmatiker hingegen hat sich irgendwann im Leben gesagt: „Du kannst nur beeinflussen, was Du beeinflussen kannst. Ideale helfen nichts. Sich aufzuregen, hilft auch nichts. Mach, was Du kannst, dort, wo Du bist, so gut es eben geht.“
Ob und wie Deeskalation gelingt, ist also nicht nur eine Frage der Haltung und der Technik, sondern auch eine Frage des (sehr persönlichen und wenig veränderbaren) Typs des Umgangs mit Eskalationen und Belastungen.
Die soeben beschriebenen Typen des emotionalen Umgangs mit belastenden Ereignissen habe ich mir nicht ausgedacht. Die Schilderung der Typen basiert auf Forschungsergebnissen von Peggy Szymenderski, die den Umgang mit belastenden Situationen bei Polizisten untersucht hat.
Allerdings meine ich, dass die dargestellten Muster des Umgangs mit belastenden Ereignissen nicht nur auf Polizisten zutreffen, sondern auch auf andere Einsatzkräfte (Rettungsdienst, Feuerwehr) und auch auf Angehörige von Behörden (bspw. Jobcenter, Jugendämter), wenn nicht auch auf Industriebetriebe, die unter 24h-Bedingungen operieren müssen, anwendbar sind.
In der Hoffnung, dass dieser Text zum Verständnis von Eskalation und Deeskalation beigetragen und auf Ihr Praxiswissen zum Umgang mit entsprechenden Situationen eingezahlt hat, bleibt zu sagen: Sollten Sie eine Schulung oder ein Training zum Thema Mitarbeitergespräche wünschen oder Handlungsbedarf bei der Bearbeitung von Konflikten in Teams oder zwischen Führungskräften sehen, zögern Sie nicht, uns anzurufen: 0174 68 55 023.
PS: Spezielle Infos zu Vorgehensweisen bei Problemen in Einsatzorganisationen finden Sie in den Videos auf feuerwehrcoach.org