Beim Begriff der „Pflichtverwahrlosung“ handelt es sich vermutlich um ein im deutschen Sprachgebrauch neues Wort. Zumindest kannte Google, Stand: 30.12.2024, den Begriff nicht. Wahrscheinlich kommt der amerikanische Begriff „dereliction of duty“ nach H.R. McMaster dem, was hier beschrieben werden soll, am nächsten. Allerdings wird die „Pflichtverwahrlosung“ hier nicht von McMasters Begriff abgeleitet, sondern resultiert aus einer Reihe von Beobachtungen und Erfahrungen in Organisationen, die als Folge lang anhaltender, defensiver und oft auch inkompetenter Verhaltensmuster von Vorgesetzten verstanden werden können. Dabei ist wichtig zu betonen, dass das, was hier als „Pflichtverwahrlosung“ bezeichnet werden soll, oft als eine Art zunächst „unbeabsichtigter Pflichtverweigerung“ beginnt und anfangs eher einer „defensiven Hilflosigkeit“ entspricht als einer „bewussten Tat“ (die eher dem Begriff der Sabotage entsprechen würde).
Wir beginnen mit einem Beispiel, das eine allererste exemplarische Annäherung darstellt. Anschließend wird ausführlich erläutert, wie es zur Pflichtverwahrlosung kommt und um was es sich genau handelt.
Erste Annäherung anhand eines Beispiels
Zwei Führungskräfte, die eigentlich miteinander reden müssten, sprechen nicht mehr miteinander. Der eine ist ein Maschinenführer, der „seine“ Maschinen besser kennt als seine Familie. Er hört, sieht und „fühlt“ die Probleme seiner Maschinen, wenn es welche gibt. Der andere ist der leitende Ingenieur des Betriebs. Der leitende Ingenieur hat oft gute Ideen, und er denkt nicht nur an die betreffenden Maschinen, sondern an das „große Ganze“, also den Produktionsprozess. Er formuliert seine Vorschläge allerdings so, dass nicht nur Außenstehende sie kaum verstehen, sondern auch der Maschinenführer nicht. Aus Sicht des Maschinenführers wisse der leitende Ingenieur „alles besser“, habe aber „keine Ahnung von den Maschinen“. Aus Sicht des leitenden Ingenieurs „baut sich der Maschinenführer auf und hat die große Klappe“. Der eine ist ein eher direkter Typ, der andere eher ein „Industrieintellektueller“. Man ist mehrere Male aneinandergeraten; man hat mehrfach voneinander bestimmte Änderungen verlangt. Am Ende kommt der leitende Ingenieur oft eher ins Werk als der Maschinenführer, ändert etwas an den Einstellungen der Maschinen, damit die Sache läuft. Der Maschinenführer kommt auf Arbeit, sieht, dass etwas geändert wurde, und ändert die Parameter nach seinem Wissen, damit die Sache läuft. Die Ausschussquote ist, wie sie ist; die Schuldzuweisungen sind ebenso gegenseitig wie laut. Der Produktionsleiter des Unternehmens bittet den Geschäftsführer um ein Budget für eine Intervention, so könne es nicht weitergehen. Dadurch kommt ein Organisationsentwickler ins Spiel.
Der Organisationsentwickler redet zunächst mit beiden Parteien einzeln und versucht, die Lage, das Problem und die jeweils individuelle Sichtweise zu verstehen. Er fragt beide Seiten jeweils einzeln: Mit wem müssten Sie an einer Lösung des Problems arbeiten? Beide Seiten geben ähnliche Antworten. Nächste Frage: Was erwarten Sie denn, was der jeweils andere tun müsste, damit die Probleme gelöst werden? Wiederum ähnliche Antworten. Dritte Frage: Und wer müsste den ersten Schritt machen? — Und was wäre, wenn Sie den ersten Schritt machen müssten — was würden Sie dann tun?
Diese und weitere Fragen waren bereits die Intervention, die es brauchte. In der nachfolgenden gemeinsamen Aussprache hat der Organisationsentwickler nur die folgenden Fragen gestellt:
- Was ist Ihnen im Zuge Ihres Einzelgesprächs jeweils klar geworden?
- Was möchten Sie ggf. ändern? Was wünschen Sie sich?
- Wie müsste Ihre Zusammenarbeit oder Ihre Kommunikation aussehen, damit Sie auf Ihren Führungspositionen möglichst gut auf den „Zweck der Organisation“ (verkaufbare Produkte) einzahlen?
- Was können Sie selbst dazu tun?
- Was hat Sie verletzt?
- Wofür möchten Sie sich ggf. entschuldigen?
- Welche Erwartungen und Wünsche haben Sie aneinander?
- Wie müsste Ihre Beziehung aussehen?
- Und anhand welcher Gewohnheiten, Regeln, Besprechungen o.ä. könnte man feststellen, dass es funktioniert?
- Wozu wollen Sie sich konkret verabreden?
Viel mehr brauchte es nicht, um die Lage in das gewünschte Fahrwasser zu bringen. Die gegenseitigen Vorurteile gingen zurück, indem man in der Folge der Intervention wieder mehr das direkte Gespräch suchte, über Irritationen und Sprüche hinwegzusehen lernte und vor allem lernte, sich gegenseitig Fragen zu stellen, anstatt das Gespräch mit einer Kritik, einem Vorwurf oder einer Schuldfrage zu beginnen. Die „eigentliche Intervention“ bestand letztlich in der Erinnerung daran, dass man in einem Betrieb gemeinsam auf den Zweck des Betriebes „einzahlen“ soll, also Handlungen so koordinieren soll, dass das Bestmögliche im Sinne dieses Zwecks dabei herauskommt. Die Einsicht, dass man quasi dazu „irgendwie verpflichtet“ ist, hatte in diesem (eher einfachen) Fall bereits geholfen. Die aufgelisteten Fragen waren dabei nur Mittel zum Zweck. Ziel war die Erinnerung an die besagte Verpflichtung zum Einzahlen auf den Zweck der Organisation. Idealerweise existiert diese Verpflichtung als eine Art „Selbstverpflichtung“, die einen nicht nur dazu bringt, seine Aufgaben so gut wie möglich zu erledigen, sondern gemeinsam mit anderen an einem möglichst reibungsarmen Ablauf zu arbeiten, ggf. Ideen einzubringen usw. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass so eine Lage mit einem einzigen längeren Termin — zwei Einzelgesprächen und einer Aussprache — geklärt ist. Das kann als ein eher seltener Fall bzw. als vergleichsweise schnelle Intervention angesehen werden. In der Regel sind solche Interventionen aufwendiger und erfordern mehrere Termine.
Wie entsteht Pflichtverwahrlosung?
Worum es sich bei Pflichtverwahrlosung handelt, wird klar, wenn wir uns genau anschauen, wie es dazu kommt. Anhand der folgenden Darstellungen lässt sich die Entstehung des Phänomens nachvollziehen.
Der Normalfall: Gelingende Kommunikation
Normalerweise wissen wir recht intuitiv, wie Kommunikation funktioniert — einschließlich der Handlungsmöglichkeiten für den Fall, dass es einmal nicht klappt. Wenn es eskaliert, entschuldigen wir uns oder zeigen andere Demutsgesten. Ein möglicher Spruch: „Es tut mir sehr Leid, dass es gestern eskaliert ist. Dafür, wie ich das gesagt habe, möchte ich mich entschuldigen. Darüber, was ich gesagt habe, würde ich gern noch einmal reden.“
Phase 1: Kommunikationsprobleme (Verhärtung)
Manchmal klappt das mit der Deeskalation aber nicht (mehr). Dann wird plötzlich sehr deutlich, was fehlt, wenn Kommunikation nicht gelingt. Im Grunde leben wir in einer Zeit, in der sich vieles beschleunigt und gleichzeitig komplexer wird. Im beruflichen Umfeld nehmen sowohl die „technologische Dichte“ (immer komplexere Anlagen) als auch die „Regelungsdichte“ (bspw. gesetzliche Regelungen) zu — bei gleichzeitig sich beschleunigenden Innovationszyklen. Auch wenn Maschinen immer mehr selbst können und manche Berufsbilder durch Innovationen marginalisiert werden — die Abhängigkeit von gelingender Kommunikation nimmt angesichts dieser Entwicklungen dennoch zu. Bei höherer technologischer und regelungsbezogener „Dichte“ gibt es auch mehr Abstimmungsbedarf, was gelingende Kommunikation umso bedeutsamer macht. Wenn Kommunikation nicht gelingt, ist dies im Normalfall nur von kurzer Dauer — jemand fragt sich, was die Eskalation bringen soll und zeigt eine Demutsgeste (wodurch die Kommunikation wieder in den Bereich des Gelingens zurückgebracht wird). Wenn das jedoch nicht erfolgt, hat das in der Regel einen Grund — entweder die Emotionen wallen so auf, dass Demutgesten unwahrscheinlich werden und man sich „festdiskutiert“. Das merkt man daran, dass die jeweils eigene Position immer von Neuem wiederholt wird — vielleicht mit anderen Worten, aber mit steigendem Tonfall, aber es kommt zu keinem „Nachdenken“ mehr, sondern zu einer Festigung („Verbarrikadierung“) der eigenen Position. Oder es gibt gleichsam „strategische“ (verdeckte) Gründe für das Festhalten an der eigenen Position. Dass es in der Kommunikation mal „blitzt“, ist ganz normal. Dass man nicht gleich wieder „runterkommt“ oder runterkommen will, ist auch ganz normal. Manchmal ist man ja wirklich verletzt. Eine andauernde Eskalation hängt entweder wie gesagt an starken Emotionen — oder an dem Willen, bei der eigenen Position zu bleiben und nicht einzulenken. Oft ist es eine Mischung — da war erst eine starke emotionale Reaktion, und dann bleibt man quasi aus „strategischen“ Gründen dabei, weil man ja eine Rechtfertigung hat, selbst nicht mehr die Initiative ergreifen zu können. Das tut man aber eben nicht ohne einen gewissen Grund. Man „nutzt“ quasi den emotionalen Zustand und konserviert ihn — man habe es ja oft genug probiert und nichts erreicht, weshalb man nun eben dabei bleiben „müsse“. In der Regel ist eine solche „Nutzung“ gar nicht so bewusst, wie es hier zunächst vielleicht erscheinen mag. Der häufigste Grund dafür sind unbewusste Selbstschutz-Mechanismen. Nach dem einfachen Rezept: Man möchte nicht hören, dass man Teil des Problems ist und einen Teil der Verantwortung trägt; man möchte lieber hören, dass man richtig liege, recht habe usw. — weshalb man bei seiner Version der Dinge bleibt… Es gibt wenig, was den Menschen seine Kommunikation mehr verzerren und manipulieren lässt, als der Selbstschutz. Man möchte die soziale Flughöhe, die eigenen Geltungsansprüche usw. um jeden Preis halten. Um jeden Preis bedeutet: auch und vor allem um den Preis der Selbsteinsicht. Denn in der Kommunikation gibt es „letztendliches Rechthaben“ ganz selten; in den meisten Fällen liegt die Verantwortung unter den beteiligen Seiten verteilt — und liegt die „Wahrheit“ zwischen den Positionen oder — stark zugespitzt — „tot im Garten“.
Frühes Intervenieren sichert die besten Ergebnisse
In der Regel schaffen es die Beteiligten von allein nicht mehr, aus der Verhärtungsdynamik auszusteigen. Hier braucht es Hilfe von außen. Erfolgt die „Intervention“ von außen aber rechtzeitig, und schafft es die jeweilige Person, auf allen beteiligten Seiten einen gewissen Respekt zu erzeugen (im Sinne des Zutrauens, dass die betreffende Person — im Extremfall auch mehrere Personen — hilfreich sein kann/können), dann hat eine moderierte Aussprache oder Mediation oder Teamentwicklung in dieser Phase die besten Chancen auf Erfolg.
Phase 2: Schweigen, Abbruch der direkten Kommunikation, Grüppchenbildung, Reden übereinander statt miteinander
Während die Beteiligten in der ersten Eskalationsphase noch miteinander reden, es aber nicht mehr schaffen, Demutsgesten zu zeigen und die Angelegenheit damit zu deeskalieren, sondern die jeweils eigene Position und die damit verbundenen Forderungen immer wieder von Neuem formulieren (mit anderen Worten, mit ansteigender Tonlage o.ä.), und während man in dieser ersten Phase noch vergleichsweise „leicht“ von außen intervenieren kann, spitzt sich die Lage bei ausbleibender Veränderung/Deeskalation mit der Zeit weiter zu, und dann beginnt die zweite Phase. In dieser Phase hören die Beteiligten auf, miteinander zu kommunizieren. Sie geben ihre jeweiligen Versuche auf, die andere Seite doch noch zu einem Einlenken zu bewegen. Stattdessen werden sie versuchen, ihnen jeweils nahestehende Personen von „ihrer“ Wahrheit zu überzeugen. Grüppchen entstehen. Man redet nunmehr vor allem übereinander, weniger oder gar nicht mehr miteinander. Je weiter eine Lage in diese Phase gerät, desto schwieriger wird es, noch zu intervenieren. Irgendwann „verhärtet“ die Sache vollends, und man meint zwar noch, sich einigen zu wollen, aber man verbindet diese Einlassung mit Forderungen, deren Erfüllung, je länger es dauert, immer unrealistischer werden: „Ich würde ja…, aber die andere Seite müsste zuerst. Ich bin nicht schuld, schauen Sie mal, was die andere Seite alles gemacht und gefordert hat…“ Das ist die „typische Konfliktlage“: Die eine Seite meint, im Recht zu sein und legitimiert die eigenen Forderungen mit dem Verhalten der Gegenseite — und umgekehrt. In der Regel liegen beide Seiten nicht falsch, ist an beiden Schilderungen etwas dran, kann man Teile beider Forderungen irgendwie nachvollziehen. (Anmerkung: „In der Regel“ bedeutet, dass keine bewusste Manipulation oder irgendwie bewusst verdeckte Zuspitzung vorliegt; das wäre ein anderer Fall, der an späterer Stelle noch dargestellt wird.) Wenn man hier nicht bald einen Zugang findet, eskaliert die Sache noch weiter.
Wie aber könnte so ein Zugang aussehen? Im Falle des Streites eines sich trennenden Paares, das Kinder hat, kann man den Versuch über die Kinder starten: „Wenn ich Sie recht verstehe, dann wollen Sie dies, und Sie begründen das so und so. Und wenn ich Sie (das Gegenüber) richtig verstehe, dann wollen Sie jenes, und Sie begründen das so und so. Ich frage Sie jetzt: Was würde passieren, wenn wir genau so weitermachen, wie wir jetzt diskutieren? Sie hatten ja gesagt, dass Sie sich „eigentlich“ einigen wollen. Ich möchte fragen: Sind wir auf dem Weg in diese Richtung? Nähern wir uns dem an, wenn wir so weiter miteinander sprechen?“ Später fragt man dann nach den Interessen der Kinder: „Und sagen Sie bitte einmal, was würden Ihre Kinder wollen, wenn sie hier wären? Oder anders gefragt: Was wäre gut für Ihre Kinder? Alles, was wir hier machen, soll ja auf das Wohl Ihrer gemeinsamen Kinder einzahlen.“
Es geht letztendlich darum, „hinter“ die jeweils vorgetragenen Positionen oder Forderungen zu kommen und die dahinter liegenden Interessen zu finden. Wenn es nicht gelingt, die Interessen hinter den Positionen zu finden, bleibt der Interventionsversuch erfolglos. Manchmal gibt es nur die Positionen, dann kann man sich recht sicher sein, dass es sich um mehr oder weniger rein „strategische“ Forderungen handelt und dass die Bereitschaft zum Einlenken bzw. zur gemeinsamen Verantwortungsübernahme recht gering ausgeprägt ist.
Die Folge ist dann die: Die betreffenden Führungskräfte kommen in eine Lage, in der sie nicht mehr gemeinsam auf den Zweck der Organisation einzahlen können oder wollen, ihre Handlungen nicht mehr miteinander koordinieren können oder wollen. Was wir am Schicksal der gemeinsamen Kinder eines strittigen Paares dargestellt haben, sieht unter Führungskräften nicht viel anders aus: Was im ersteren Fall die Kinder sind, ist im letzteren Fall der Zweck der Organisation. Indem ich zulasse, dass das Verhalten einer einzelnen anderen Person oder einer Gruppe für meine Handlungen bedeutsamer wird, als es das gemeinsame Einzahlen auf den Zweck der Organisation ist, indem ich zum Beispiel verweigere, auf die andere Seite zuzugehen, weil ich eine Begründung habe (die andere Seite nicht auf mich zugekommen ist, obwohl es ihre Pflicht gewesen wäre o.ä.) lasse ich es (oft völlig unbeabsichtigt) zu, dass persönliche Belange plötzlich ebenso wichtig oder — im zeitlich länger andauernden Fall — sogar wichtiger werden als der Zweck der Organisation. Dieser Prozess ist oft schleichend; Probleme gibt es ja immer — aber wann die auf der persönlichen Ebene entstehenden Probleme die „Relevanzgrenze“ in Bezug auf den Zweck der Organisation überschreiten, ist eine interessante Frage — und ist vielleicht eine der interessantesten Fragen in Bezug auf die Frage nach dem Funktionieren vor Organisationen überhaupt. Immer dann, wenn eine Kommunikationsblockade aufgrund persönlicher Belange entsteht, oder wenn die handelnden Personen nicht mehr bereit sind, die Sache zu klären, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass es „nichts bringt“, dann haben Organisationen ein Problem.
Das Charakteristische an der zweiten Phase ist, dass sie automatisch abläuft. Im Normalfall merkt man nicht, wenn man die Grenze von der Verhärtung (Phase 1) in die Polarisierung (Phase 2: Grüppchenbildung; nicht mehr miteinander, sondern vor allem übereinander reden) überschreitet. Innerhalb der Phase 2 gibt es wiederum einen Übergang, nämlich den von „die Sache kann noch bearbeitet werden, aber nur noch mit Hilfe von außen“ hin zu „die Sache kann nicht mehr bearbeitet werden“, weil man zu lange gewartet hat, zu tief drin steckt, öffentlich sehr hohe Forderungen formuliert hat, im Falle eines Einlenkens also sein Gesicht verlieren würde, usw.
Der Schritt, zu dem es nicht kommt — oder: Die in der Regel fehlende Phase 3
Normalerweise würde diese Dynamik weiterlaufen, bis „Phase 3“ erreicht würde. Charakteristisch für Phase 3 wären Dinge, die man sich gegenseitig „tut“ — mit dem Ziel, dem Gegenüber nun wirklich weh zu tun. Allerdings hätte das einen „doppelten“ Preis. Man würde der anderen Seite nicht nur weh tun, sie aktiv in Verruf bringen, ihr etwas zufügen o.ä. Der Preis liegt erstens in der Gefahr, dass man auffliegt und sein Gesicht verliert, weil nun der eigene Anteil an der Täterschaft nicht mehr zu leugnen wäre (vorher war man ja, zumindest rhetorisch, eher das Opfer). Zweitens liegt der Preis auch im Risiko des Inkaufnehmens eigenen Schadens — „Taten“ haben in der Regel auch Konsequenzen; wenn ich etwas „tue“, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ich auch selbst etwas abkriege.
Man nehme quasi den Akkuschrauber und ein paar dicke, lange Schrauben und drehe diese Schrauben an irgendeinem sehr späten Abend und vielleicht mit „sieben Bier im Turm“ in die Seitenwände der Reifen des Autos des verhassten Gegenübers. Aber nein: Genau das tun wir eben in den meisten Fällen dann doch nicht, und das ist auch gut so — weil man (a) nicht sein Gesicht verlieren will und (b) potentiellen eigenen Schaden ungern in Kauf nehmen möchte, nur um der anderen Seite zu schaden, geht man nicht so weit. Man belässt es dabei, „böse zu reden“ und geht nicht in die nächste Stufe der Eskalation, wodurch der Konflikt kurz unter der Übergangsschwelle hin zu „wir tun uns gegenseitig was und nehmen die Konsequenzen in Kauf“ einfriert. Wir tun dann eben doch nichts wirklich Böses, wir belassen es beim Drohen, wir reden nicht mehr miteinander, wir fordern, gehen aber gleichzeitig nicht mehr auf die andere Seite zu.
Was in der Praxis anstelle von Phase 3 passiert: Pflichtverwahrlosung
Wenn dies in einem Unternehmen passiert, muss man spätestens jetzt feststellen, dass die Beteiligten nicht mehr aktiv auf den Zweck der Organisation einzahlen (und dazu wahrscheinlich auch nicht mehr in der Lage sind). Wobei man an dieser Stelle anerkennen muss, dass die Beteiligten keineswegs meinen, dass sie nicht mehr auf den Zweck der Organisation einzahlen — sie wollen ja (Absichtserklärung), sie können nur nicht, weil die jeweils andere Seite eben nicht mitmacht (Begründung für die Nichtumsetzung der Absicht, die selbstredend auch der _Pflicht_entspricht) — und so weiter.
In der Regel sind solche Zuschreibungen gegenseitiger Natur — und damit stabil: Beide Seiten erkennen im Fehlen entsprechender Handlungen der jeweiligen Gegenseite den Grund oder die Rechtfertigung dafür, es an eigenen Handlungen fehlen zu lassen.
Das hat oft seine Geschichte: Ich habe etwas probiert, habe auf meine Weise eine gewisse Geste gezeigt; die entsprechende (von mir erwartete) Antwort erfolgte (wiederholt) nicht, also werde ich keine Versuche mehr starten. Vielleicht ganz ähnlich auf der Gegenseite: Da mag es Gesten gegeben haben, die ich nicht mehr bemerkt habe, oder die ich nicht mehr bemerken wollte: „Von wegen: Ausgerechnet jetzt kommen die damit, das hätte ihnen eher einfallen können!“ Wiederum und so weiter.
Die Gretchenfrage: Wer soll nun aus so einem Kreislauf aussteigen, zumal der ja stabil ist, weil jede Seite ihre Sichtweise und Handlungsweise mit ihren Erfahrungen mit der Gegenseite rechtfertigen kann.
So etwas kann zur Gewohnheit werden: Beide Seite bleiben in ihren jeweiligen „Komfortzonen“, niemand muss etwas ändern. Gleichzeitig fragt sich auch niemand mehr wirklich, was eigentlich für die Organisation besser wäre. Spätestens jetzt haben die Eigeninteressen (oder: Selbstschutzinteressen) oder die persönlichen Rechtfertigungen — man wolle ja, aber man könne nicht — die Relevanz des Organisationszwecks überflügelt.
Noch einmal, nur um nicht missverstanden zu werden: Dabei handelt es sich in der Regel nicht um eine Einzeltat; in der Regel bringt man sich gegenseitig, also miteinander oder kollektiv, dorthin. Es handelt sich um ein Phänomen, das sich in der Regel aus der Interaktion ergibt.
Die Konsequenz: Es gibt kein gemeinsames Einzahlen auf den Zweck der Organisation mehr. Die Beteiligten zeigen eine gewisse „prophylaktische Zurückhaltung“ — sie tun weniger, handeln nicht mehr proaktiv, halten sich zurück; im Eskalationsfall zeigen sie ggf. defensive Argumentationsmuster, „rhetorische Abwehr“ könnte man das nennen; ggf. werden in Diskussionen immer filigranere (rhetorische) Fallen gestellt: „Aber letztes Jahr am Dienstag, da hast Du…, und danach haben wir nie mehr darüber gesprochen. Wie kommst Du jetzt dazu, dass ich ausbaden soll, was Du damals verbockt hast?!“
Spätestens jetzt ist die Pflicht, gemeinsam auf den Zweck der Organisation einzuzahlen, völlig aus dem Blick der Beteiligten geraten. Spätestens jetzt begehen die Beteiligten eine gewisse (unbeabsichtigte, unbewusste) Pflichtverweigerung, weil es nicht mehr zur — eigentlich notwendigen — gemeinsamen Koordination von Handlungen kommt.
Und nun stelle man sich vor, dass dieser Zustand eine Weile anhält. Alle Beteiligten haben ja immerhin gute Begründungen, warum sie ggf. nicht mehr proaktiv kommunizieren, also auf die jeweils andere(n) Seite(n) zugehen usw. Was ergibt sich daraus? Wie könnte man die Konsequenz nennen?
Was ist Pflichtverwahrlosung?
Pflichtverwahrlosung ist zunächst kein aktiver Vorgang, sondern eine Folge. Am Anfang stehen kommunikative Probleme. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, kommunikativen Problemen in der Phase der Entstehung oder in den Phasen der Eskalation zu begegnen. Führungskräfte haben aus dem Zweck der Organisation heraus am Ehesten die Pflicht (sie sind ja Führungskräfte), hier aktiv zu werden; tun sie es — aus welchen Gründen auch immer — nicht, begehen sie gewissermaßen eine (zunächst unbeabsichtigte) Pflichtverweigerung. Die Pflichtverwahrlosung ergibt sich erst mit der Zeit daraus.
Zu einer Pflichtverwahrlosung kommt es erst in der Folge der Dynamik aus jenen unbeabsichtigten Pflichtverweigerungen:
Was man ggf. sagt: „Weil der andere dies oder das nicht… will ich auch nicht…“
Was man dabei ggf. denkt: Dabei wäre es meine Pflicht. Aber ich habe vielleicht schon „gefühlt sieben Versuche“ gestartet, und mein Gegenüber hat nicht…
Die rechtfertigenden Varianten beginnen mit: „Ich habe schon so oft…“ oder: „Ich habe so lange gewartet, habe mich so lange zurückgehalten…“ oder: „Sehen Sie? Was soll ich nach so einem Satz noch sagen?“
Indem beide Seiten plausible Gründe (= die Handlungen der jeweils anderen Seite) für das eigene Nichthandeln haben, stabilisiert sich das zu einem Muster — und wird zur Pflichtverwahrlosung, quasi weil (verständliche) gegenseitige Gründe zu einer Art gemeinsamer Rechtfertigung zur Nichtkommunikation (und damit zur Nichtübernahme von Verantwortung) werden.
Pflichtverwahrlosung ist keine Absicht, sie ist eine Folge. Sie ergibt sich aus zunächst eher unbeabsichtigten Reaktionen, sie ist also eine Folge von Reaktionen, indem sie sich indirekt aus zunächst verständlichen Reaktionen ergibt, in der Folge aber eine gewisse Nichtübernahme von Verantwortung bedeutet. Die Pflichtverwahrlosung besteht quasi im Hinnehmen der Folgen zunächst verständlichen Handelns. Indem ich aus verständlichen Gründen handele, wie ich handele, schaffe ich unbeabsichtigt die Voraussetzungen für jene „Verwahrlosung“ bzw. „kollektive Verantwortungslosigkeit“.
So, wie am Anfang eines Konfliktes nicht klar ist, ob er eskaliert, sondern die Eskalation eine Folge des Ausbleibens bestimmter deeskalierender, demütiger o.ä. Handlungen ist, so ist die Pflichtverweigerung wiederum nicht etwa eine „logische“ Folge der Eskalation, sondern sie tritt nur ein, wenn die Eskalation fortgeschritten ist UND verschiedene Deeskalationsschritte nichts gebracht haben UND man nun nicht mehr weiß, was man machen soll, das eigene Nichthandeln aber mit den Handlungen oder Nichthandlungen der Gegenseite rechtfertigt — und sich daraus ein Muster ergibt, das sich mit der Zeit stabilisiert.
Man kann hier von (zunächst) ebenso unbeabsichtigter wie gemeinsamer Verantwortungslosigkeit sprechen — und in der Folge eben von „Pflichtverwahrlosung“, nach dem Motto: „Ich mache nicht, was eigentlich angebracht wäre, weil die Gegenseite auch nicht macht, was eigentlich richtig wäre.“ Oder: „Ich habe es drei Mal probiert, jetzt reicht es. Ich mache mich ja hier nicht zum Deppen.“ Oder, oder. Wenn alle beteiligten Seiten aufgrund der so entstandenen „prophylaktischen Zurückhaltung“ nicht tun, was sie tun müssten, wird die Sache zum Mechanismus, zur Routine.
Bisher hat unsere Argumentation vor allem einen Pfad verfolgt, nämlich den der Erklärung des Phänomens „Pflichtverwahrlosung“. Die Pflichtverwahrlosung ergibt sich nach der bisherigen Erklärung vor allem aus einer zunächst vielleicht unbewussten, mindestens aber unabsichtlichen „Verweigerung“, auf die jeweils andere(n) Seite(n) zuzugehen. Wenn beide/alle Seiten eine solche Pflichtverweigerung begehen, wird daraus ein stabiles Muster, das letztlich zu dem führt, was hier Pflichtverwahrlosung genannt wird.
Es gibt noch, und darauf muss hingewiesen werden, denn damit haben wir uns hier noch gar nicht beschäftigt, den Fall der BEWUSSTEN Pflichtverletzung. Das wäre der Fall, wenn jemand gleichsam „plant“, nicht auf den Zweck der Organisation einzuzahlen, sondern andere, vom Organisationszweck abweichende Ziele zu verfolgen (bspw. reine Eigeninteressen oder das Ziel, einer anderen Führungskraft bewusst zu schaden oder das Ziel, der Organisation bewusst zu schaden). Dann wäre wahrscheinlich eher der Begriff der „Sabotage“ angemessen, denn die verfolgten Interessen stehen quasi in diesem Fall von vornherein im Konflikt mit den Interessen der Organisation. Sabotage ist bewusst und absichtlich; sie ist keine Verweigerung, die mit einer gewissen Hilflosigkeit beginnt, sondern sie ist eine Entscheidung zur Störung oder Zerstörung. Sie ist keine „Verwahrlosung“ infolge Unterlassens, sondern eine Tat. Die Folgen von Sabotage können denen von Pflichtverwahrlosung allerdings gleichen oder ähneln. Worum es sich genau handelt, wird immer erst bei genauem Hinsehen und Zuhören, umfassender Involviertheit in die Lage und tiefgehender Analyse klar.
Was wir hier unter dem Stichwort „Pflichtverwahrlosung“ diskutiert haben, hat zunächst eine unbewusste, irgendwie selbstschutz-orientierte Dimension. Die Sache beginnt quasi als individueller Abwehr- oder Selbstschutzmechanismus. Wir haben hoffentlich deutlich gemacht, dass es aber dabei nicht bleibt, sondern dass die Sache auch einen kollektiven Charakter bekommt, wenn man sich (unausgesprochen) einig ist, dass man einerseits eine Sache nicht weiter eskalieren, sondern sich und seine Positionen — letztlich sein „Gesicht“ — schützen will. Dann bekommt die Sache eine habituelle Dimension, wird zur Gewohnheit, zum Besitz der Gruppe. Eine „Verweigerung“ mag ein eher individuelles Phänomen sein; als „Verwahrlosung“ ist es ein kollektives, gemeinsames Phänomen. Es handelt sich bei der Pflichtverwahrlosung um ein Phänomen der „kollektiven Verantwortungslosigkeit“, bei der alle Beteiligten aufeinander zeigen können und genügend Belege finden, warum die anderen hätten etwas machen müssen und man selbst eigentlich gar nichts machen konnte.
PS: Das Beitragsbild wurde mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz erstellt.