Pflichtverwahrlosung

Beim Begriff der „Pflicht­ver­wahr­lo­sung“ han­delt es sich ver­mut­lich um ein im deut­schen Sprach­ge­brauch neu­es Wort. Zumin­dest kann­te Goog­le, Stand: 30.12.2024, den Begriff nicht. Wahr­schein­lich kommt der ame­ri­ka­ni­sche Begriff „dere­lic­tion of duty“ nach H.R. McMas­ter dem, was hier beschrie­ben wer­den soll, am nächs­ten. Aller­dings wird die „Pflicht­ver­wahr­lo­sung“ hier nicht von McMas­ters Begriff abge­lei­tet, son­dern resul­tiert aus einer Rei­he von Beob­ach­tun­gen und Erfah­run­gen in Orga­ni­sa­tio­nen, die als Fol­ge lang anhal­ten­der, defen­si­ver und oft auch inkom­pe­ten­ter Ver­hal­tens­mus­ter von Vor­ge­setz­ten ver­stan­den wer­den kön­nen. Dabei ist wich­tig zu beto­nen, dass das, was hier als „Pflicht­ver­wahr­lo­sung“ bezeich­net wer­den soll, oft als eine Art zunächst „unbe­ab­sich­tig­ter Pflicht­ver­wei­ge­rung“ beginnt und anfangs eher einer „defen­si­ven Hilf­lo­sig­keit“ ent­spricht als einer „bewuss­ten Tat“ (die eher dem Begriff der Sabo­ta­ge ent­spre­chen würde).

Wir begin­nen mit einem Bei­spiel, das eine aller­ers­te exem­pla­ri­sche Annä­he­rung dar­stellt. Anschlie­ßend wird aus­führ­lich erläu­tert, wie es zur Pflicht­ver­wahr­lo­sung kommt und um was es sich genau handelt.

Erste Annäherung anhand eines Beispiels

Zwei Füh­rungs­kräf­te, die eigent­lich mit­ein­an­der reden müss­ten, spre­chen nicht mehr mit­ein­an­der. Der eine ist ein Maschi­nen­füh­rer, der „sei­ne“ Maschi­nen bes­ser kennt als sei­ne Fami­lie. Er hört, sieht und „fühlt“ die Pro­ble­me sei­ner Maschi­nen, wenn es wel­che gibt. Der ande­re ist der lei­ten­de Inge­nieur des Betriebs. Der lei­ten­de Inge­nieur hat oft gute Ideen, und er denkt nicht nur an die betref­fen­den Maschi­nen, son­dern an das „gro­ße Gan­ze“, also den Pro­duk­ti­ons­pro­zess. Er for­mu­liert sei­ne Vor­schlä­ge aller­dings so, dass nicht nur Außen­ste­hen­de sie kaum ver­ste­hen, son­dern auch der Maschi­nen­füh­rer nicht. Aus Sicht des Maschi­nen­füh­rers wis­se der lei­ten­de Inge­nieur „alles bes­ser“, habe aber „kei­ne Ahnung von den Maschi­nen“. Aus Sicht des lei­ten­den Inge­nieurs „baut sich der Maschi­nen­füh­rer auf und hat die gro­ße Klap­pe“. Der eine ist ein eher direk­ter Typ, der ande­re eher ein „Indus­trie­in­tel­lek­tu­el­ler“. Man ist meh­re­re Male anein­an­der­ge­ra­ten; man hat mehr­fach von­ein­an­der bestimm­te Ände­run­gen ver­langt. Am Ende kommt der lei­ten­de Inge­nieur oft eher ins Werk als der Maschi­nen­füh­rer, ändert etwas an den Ein­stel­lun­gen der Maschi­nen, damit die Sache läuft. Der Maschi­nen­füh­rer kommt auf Arbeit, sieht, dass etwas geän­dert wur­de, und ändert die Para­me­ter nach sei­nem Wis­sen, damit die Sache läuft. Die Aus­schuss­quo­te ist, wie sie ist; die Schuld­zu­wei­sun­gen sind eben­so gegen­sei­tig wie laut. Der Pro­duk­ti­ons­lei­ter des Unter­neh­mens bit­tet den Geschäfts­füh­rer um ein Bud­get für eine Inter­ven­ti­on, so kön­ne es nicht wei­ter­ge­hen. Dadurch kommt ein Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­ler ins Spiel.

Der Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­ler redet zunächst mit bei­den Par­tei­en ein­zeln und ver­sucht, die Lage, das Pro­blem und die jeweils indi­vi­du­el­le Sicht­wei­se zu ver­ste­hen. Er fragt bei­de Sei­ten jeweils ein­zeln: Mit wem müss­ten Sie an einer Lösung des Pro­blems arbei­ten? Bei­de Sei­ten geben ähn­li­che Ant­wor­ten. Nächs­te Fra­ge: Was erwar­ten Sie denn, was der jeweils ande­re tun müss­te, damit die Pro­ble­me gelöst wer­den? Wie­der­um ähn­li­che Ant­wor­ten. Drit­te Fra­ge: Und wer müss­te den ers­ten Schritt machen? — Und was wäre, wenn Sie den ers­ten Schritt machen müss­ten — was wür­den Sie dann tun?

Die­se und wei­te­re Fra­gen waren bereits die Inter­ven­ti­on, die es brauch­te. In der nach­fol­gen­den gemein­sa­men Aus­spra­che hat der Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­ler nur die fol­gen­den Fra­gen gestellt:

  • Was ist Ihnen im Zuge Ihres Ein­zel­ge­sprächs jeweils klar geworden?
  • Was möch­ten Sie ggf. ändern? Was wün­schen Sie sich?
  • Wie müss­te Ihre Zusam­men­ar­beit oder Ihre Kom­mu­ni­ka­ti­on aus­se­hen, damit Sie auf Ihren Füh­rungs­po­si­tio­nen mög­lichst gut auf den „Zweck der Orga­ni­sa­ti­on“ (ver­kauf­ba­re Pro­duk­te) einzahlen?
  • Was kön­nen Sie selbst dazu tun?
  • Was hat Sie verletzt?
  • Wofür möch­ten Sie sich ggf. entschuldigen?
  • Wel­che Erwar­tun­gen und Wün­sche haben Sie aneinander?
  • Wie müss­te Ihre Bezie­hung aussehen?
  • Und anhand wel­cher Gewohn­hei­ten, Regeln, Bespre­chun­gen o.ä. könn­te man fest­stel­len, dass es funktioniert?
  • Wozu wol­len Sie sich kon­kret verabreden?

Viel mehr brauch­te es nicht, um die Lage in das gewünsch­te Fahr­was­ser zu brin­gen. Die gegen­sei­ti­gen Vor­ur­tei­le gin­gen zurück, indem man in der Fol­ge der Inter­ven­ti­on wie­der mehr das direk­te Gespräch such­te, über Irri­ta­tio­nen und Sprü­che hin­weg­zu­se­hen lern­te und vor allem lern­te, sich gegen­sei­tig Fra­gen zu stel­len, anstatt das Gespräch mit einer Kri­tik, einem Vor­wurf oder einer Schuld­fra­ge zu begin­nen. Die „eigent­li­che Inter­ven­ti­on“ bestand letzt­lich in der Erin­ne­rung dar­an, dass man in einem Betrieb gemein­sam auf den Zweck des Betrie­bes „ein­zah­len“ soll, also Hand­lun­gen so koor­di­nie­ren soll, dass das Best­mög­li­che im Sin­ne die­ses Zwecks dabei her­aus­kommt. Die Ein­sicht, dass man qua­si dazu „irgend­wie ver­pflich­tet“ ist, hat­te in die­sem (eher ein­fa­chen) Fall bereits gehol­fen. Die auf­ge­lis­te­ten Fra­gen waren dabei nur Mit­tel zum Zweck. Ziel war die Erin­ne­rung an die besag­te Ver­pflich­tung zum Ein­zah­len auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on. Idea­ler­wei­se exis­tiert die­se Ver­pflich­tung als eine Art „Selbst­ver­pflich­tung“, die einen nicht nur dazu bringt, sei­ne Auf­ga­ben so gut wie mög­lich zu erle­di­gen, son­dern gemein­sam mit ande­ren an einem mög­lichst rei­bungs­ar­men Ablauf zu arbei­ten, ggf. Ideen ein­zu­brin­gen usw. Es ist kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich, dass so eine Lage mit einem ein­zi­gen län­ge­ren Ter­min — zwei Ein­zel­ge­sprä­chen und einer Aus­spra­che — geklärt ist. Das kann als ein eher sel­te­ner Fall bzw. als ver­gleichs­wei­se schnel­le Inter­ven­ti­on ange­se­hen wer­den. In der Regel sind sol­che Inter­ven­tio­nen auf­wen­di­ger und erfor­dern meh­re­re Ter­mi­ne.

Wie entsteht Pflichtverwahrlosung?

Wor­um es sich bei Pflicht­ver­wahr­lo­sung han­delt, wird klar, wenn wir uns genau anschau­en, wie es dazu kommt. Anhand der fol­gen­den Dar­stel­lun­gen lässt sich die Ent­ste­hung des Phä­no­mens nachvollziehen.

Der Normalfall: Gelingende Kommunikation

Nor­ma­ler­wei­se wis­sen wir recht intui­tiv, wie Kom­mu­ni­ka­ti­on funk­tio­niert — ein­schließ­lich der Hand­lungs­mög­lich­kei­ten für den Fall, dass es ein­mal nicht klappt. Wenn es eska­liert, ent­schul­di­gen wir uns oder zei­gen ande­re Demuts­ges­ten. Ein mög­li­cher Spruch: „Es tut mir sehr Leid, dass es ges­tern eska­liert ist. Dafür, wie ich das gesagt habe, möch­te ich mich ent­schul­di­gen. Dar­über, was ich gesagt habe, wür­de ich gern noch ein­mal reden.“

Phase 1: Kommunikationsprobleme (Verhärtung)

Manch­mal klappt das mit der Dees­ka­la­ti­on aber nicht (mehr). Dann wird plötz­lich sehr deut­lich, was fehlt, wenn Kom­mu­ni­ka­ti­on nicht gelingt. Im Grun­de leben wir in einer Zeit, in der sich vie­les beschleu­nigt und gleich­zei­tig kom­ple­xer wird. Im beruf­li­chen Umfeld neh­men sowohl die „tech­no­lo­gi­sche Dich­te“ (immer kom­ple­xe­re Anla­gen) als auch die „Rege­lungs­dich­te“ (bspw. gesetz­li­che Rege­lun­gen) zu — bei gleich­zei­tig sich beschleu­ni­gen­den Inno­va­ti­ons­zy­klen. Auch wenn Maschi­nen immer mehr selbst kön­nen und man­che Berufs­bil­der durch Inno­va­tio­nen mar­gi­na­li­siert wer­den — die Abhän­gig­keit von gelin­gen­der Kom­mu­ni­ka­ti­on nimmt ange­sichts die­ser Ent­wick­lun­gen den­noch zu. Bei höhe­rer tech­no­lo­gi­scher und rege­lungs­be­zo­ge­ner „Dich­te“ gibt es auch mehr Abstim­mungs­be­darf, was gelin­gen­de Kom­mu­ni­ka­ti­on umso bedeut­sa­mer macht. Wenn Kom­mu­ni­ka­ti­on nicht gelingt, ist dies im Nor­mal­fall nur von kur­zer Dau­er — jemand fragt sich, was die Eska­la­ti­on brin­gen soll und zeigt eine Demuts­ges­te (wodurch die Kom­mu­ni­ka­ti­on wie­der in den Bereich des Gelin­gens zurück­ge­bracht wird). Wenn das jedoch nicht erfolgt, hat das in der Regel einen Grund — ent­we­der die Emo­tio­nen wal­len so auf, dass Demut­ges­ten unwahr­schein­lich wer­den und man sich „fest­dis­ku­tiert“. Das merkt man dar­an, dass die jeweils eige­ne Posi­ti­on immer von Neu­em wie­der­holt wird — viel­leicht mit ande­ren Wor­ten, aber mit stei­gen­dem Ton­fall, aber es kommt zu kei­nem „Nach­den­ken“ mehr, son­dern zu einer Fes­ti­gung („Ver­bar­ri­ka­die­rung“) der eige­nen Posi­ti­on. Oder es gibt gleich­sam „stra­te­gi­sche“ (ver­deck­te) Grün­de für das Fest­hal­ten an der eige­nen Posi­ti­on. Dass es in der Kom­mu­ni­ka­ti­on mal „blitzt“, ist ganz nor­mal. Dass man nicht gleich wie­der „run­ter­kommt“ oder run­ter­kom­men will, ist auch ganz nor­mal. Manch­mal ist man ja wirk­lich ver­letzt. Eine andau­ern­de Eska­la­ti­on hängt ent­we­der wie gesagt an star­ken Emo­tio­nen — oder an dem Wil­len, bei der eige­nen Posi­ti­on zu blei­ben und nicht ein­zu­len­ken. Oft ist es eine Mischung — da war erst eine star­ke emo­tio­na­le Reak­ti­on, und dann bleibt man qua­si aus „stra­te­gi­schen“ Grün­den dabei, weil man ja eine Recht­fer­ti­gung hat, selbst nicht mehr die Initia­ti­ve ergrei­fen zu kön­nen. Das tut man aber eben nicht ohne einen gewis­sen Grund. Man „nutzt“ qua­si den emo­tio­na­len Zustand und kon­ser­viert ihn — man habe es ja oft genug pro­biert und nichts erreicht, wes­halb man nun eben dabei blei­ben „müs­se“. In der Regel ist eine sol­che „Nut­zung“ gar nicht so bewusst, wie es hier zunächst viel­leicht erschei­nen mag. Der häu­figs­te Grund dafür sind unbe­wuss­te Selbst­schutz-Mecha­nis­men. Nach dem ein­fa­chen Rezept: Man möch­te nicht hören, dass man Teil des Pro­blems ist und einen Teil der Ver­ant­wor­tung trägt; man möch­te lie­ber hören, dass man rich­tig lie­ge, recht habe usw. — wes­halb man bei sei­ner Ver­si­on der Din­ge bleibt… Es gibt wenig, was den Men­schen sei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on mehr ver­zer­ren und mani­pu­lie­ren lässt, als der Selbst­schutz. Man möch­te die sozia­le Flug­hö­he, die eige­nen Gel­tungs­an­sprü­che usw. um jeden Preis hal­ten. Um jeden Preis bedeu­tet: auch und vor allem um den Preis der Selbst­ein­sicht. Denn in der Kom­mu­ni­ka­ti­on gibt es „letzt­end­li­ches Recht­ha­ben“ ganz sel­ten; in den meis­ten Fäl­len liegt die Ver­ant­wor­tung unter den betei­li­gen Sei­ten ver­teilt — und liegt die „Wahr­heit“ zwi­schen den Posi­tio­nen oder — stark zuge­spitzt — „tot im Garten“.

Frühes Intervenieren sichert die besten Ergebnisse

In der Regel schaf­fen es die Betei­lig­ten von allein nicht mehr, aus der Ver­här­tungs­dy­na­mik aus­zu­stei­gen. Hier braucht es Hil­fe von außen. Erfolgt die „Inter­ven­ti­on“ von außen aber recht­zei­tig, und schafft es die jewei­li­ge Per­son, auf allen betei­lig­ten Sei­ten einen gewis­sen Respekt zu erzeu­gen (im Sin­ne des Zutrau­ens, dass die betref­fen­de Per­son — im Extrem­fall auch meh­re­re Per­so­nen — hilf­reich sein kann/können), dann hat eine mode­rier­te Aus­spra­che oder Media­ti­on oder Team­ent­wick­lung in die­ser Pha­se die bes­ten Chan­cen auf Erfolg.

Phase 2: Schweigen, Abbruch der direkten Kommunikation, Grüppchenbildung, Reden übereinander statt miteinander

Wäh­rend die Betei­lig­ten in der ers­ten Eska­la­ti­ons­pha­se noch mit­ein­an­der reden, es aber nicht mehr schaf­fen, Demuts­ges­ten zu zei­gen und die Ange­le­gen­heit damit zu dees­ka­lie­ren, son­dern die jeweils eige­ne Posi­ti­on und die damit ver­bun­de­nen For­de­run­gen immer wie­der von Neu­em for­mu­lie­ren (mit ande­ren Wor­ten, mit anstei­gen­der Ton­la­ge o.ä.), und wäh­rend man in die­ser ers­ten Pha­se noch ver­gleichs­wei­se „leicht“ von außen inter­ve­nie­ren kann, spitzt sich die Lage bei aus­blei­ben­der Veränderung/Deeskalation mit der Zeit wei­ter zu, und dann beginnt die zwei­te Pha­se. In die­ser Pha­se hören die Betei­lig­ten auf, mit­ein­an­der zu kom­mu­ni­zie­ren. Sie geben ihre jewei­li­gen Ver­su­che auf, die ande­re Sei­te doch noch zu einem Ein­len­ken zu bewe­gen. Statt­des­sen wer­den sie ver­su­chen, ihnen jeweils nahe­ste­hen­de Per­so­nen von „ihrer“ Wahr­heit zu über­zeu­gen. Grüpp­chen ent­ste­hen. Man redet nun­mehr vor allem über­ein­an­der, weni­ger oder gar nicht mehr mit­ein­an­der. Je wei­ter eine Lage in die­se Pha­se gerät, des­to schwie­ri­ger wird es, noch zu inter­ve­nie­ren. Irgend­wann „ver­här­tet“ die Sache voll­ends, und man meint zwar noch, sich eini­gen zu wol­len, aber man ver­bin­det die­se Ein­las­sung mit For­de­run­gen, deren Erfül­lung, je län­ger es dau­ert, immer unrea­lis­ti­scher wer­den: „Ich wür­de ja…, aber die ande­re Sei­te müss­te zuerst. Ich bin nicht schuld, schau­en Sie mal, was die ande­re Sei­te alles gemacht und gefor­dert hat…“ Das ist die „typi­sche Kon­flikt­la­ge“: Die eine Sei­te meint, im Recht zu sein und legi­ti­miert die eige­nen For­de­run­gen mit dem Ver­hal­ten der Gegen­sei­te — und umge­kehrt. In der Regel lie­gen bei­de Sei­ten nicht falsch, ist an bei­den Schil­de­run­gen etwas dran, kann man Tei­le bei­der For­de­run­gen irgend­wie nach­voll­zie­hen. (Anmer­kung: „In der Regel“ bedeu­tet, dass kei­ne bewuss­te Mani­pu­la­ti­on oder irgend­wie bewusst ver­deck­te Zuspit­zung vor­liegt; das wäre ein ande­rer Fall, der an spä­te­rer Stel­le noch dar­ge­stellt wird.) Wenn man hier nicht bald einen Zugang fin­det, eska­liert die Sache noch weiter.

Wie aber könn­te so ein Zugang aus­se­hen? Im Fal­le des Strei­tes eines sich tren­nen­den Paa­res, das Kin­der hat, kann man den Ver­such über die Kin­der star­ten: „Wenn ich Sie recht ver­ste­he, dann wol­len Sie dies, und Sie begrün­den das so und so. Und wenn ich Sie (das Gegen­über) rich­tig ver­ste­he, dann wol­len Sie jenes, und Sie begrün­den das so und so. Ich fra­ge Sie jetzt: Was wür­de pas­sie­ren, wenn wir genau so wei­ter­ma­chen, wie wir jetzt dis­ku­tie­ren? Sie hat­ten ja gesagt, dass Sie sich „eigent­lich“ eini­gen wol­len. Ich möch­te fra­gen: Sind wir auf dem Weg in die­se Rich­tung? Nähern wir uns dem an, wenn wir so wei­ter mit­ein­an­der spre­chen?“ Spä­ter fragt man dann nach den Inter­es­sen der Kin­der: „Und sagen Sie bit­te ein­mal, was wür­den Ihre Kin­der wol­len, wenn sie hier wären? Oder anders gefragt: Was wäre gut für Ihre Kin­der? Alles, was wir hier machen, soll ja auf das Wohl Ihrer gemein­sa­men Kin­der einzahlen.“

Es geht letzt­end­lich dar­um, „hin­ter“ die jeweils vor­ge­tra­ge­nen Posi­tio­nen oder For­de­run­gen zu kom­men und die dahin­ter lie­gen­den Inter­es­sen zu fin­den. Wenn es nicht gelingt, die Inter­es­sen hin­ter den Posi­tio­nen zu fin­den, bleibt der Inter­ven­ti­ons­ver­such erfolg­los. Manch­mal gibt es nur die Posi­tio­nen, dann kann man sich recht sicher sein, dass es sich um mehr oder weni­ger rein „stra­te­gi­sche“ For­de­run­gen han­delt und dass die Bereit­schaft zum Ein­len­ken bzw. zur gemein­sa­men Ver­ant­wor­tungs­über­nah­me recht gering aus­ge­prägt ist.

Die Fol­ge ist dann die: Die betref­fen­den Füh­rungs­kräf­te kom­men in eine Lage, in der sie nicht mehr gemein­sam auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ein­zah­len kön­nen oder wol­len, ihre Hand­lun­gen nicht mehr mit­ein­an­der koor­di­nie­ren kön­nen oder wol­len. Was wir am Schick­sal der gemein­sa­men Kin­der eines strit­ti­gen Paa­res dar­ge­stellt haben, sieht unter Füh­rungs­kräf­ten nicht viel anders aus: Was im ers­te­ren Fall die Kin­der sind, ist im letz­te­ren Fall der Zweck der Orga­ni­sa­ti­on. Indem ich zulas­se, dass das Ver­hal­ten einer ein­zel­nen ande­ren Per­son oder einer Grup­pe für mei­ne Hand­lun­gen bedeut­sa­mer wird, als es das gemein­sa­me Ein­zah­len auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ist, indem ich zum Bei­spiel ver­wei­ge­re, auf die ande­re Sei­te zuzu­ge­hen, weil ich eine Begrün­dung habe (die ande­re Sei­te nicht auf mich zuge­kom­men ist, obwohl es ihre Pflicht gewe­sen wäre o.ä.) las­se ich es (oft völ­lig unbe­ab­sich­tigt) zu, dass per­sön­li­che Belan­ge plötz­lich eben­so wich­tig oder — im zeit­lich län­ger andau­ern­den Fall — sogar wich­ti­ger wer­den als der Zweck der Orga­ni­sa­ti­on. Die­ser Pro­zess ist oft schlei­chend; Pro­ble­me gibt es ja immer — aber wann die auf der per­sön­li­chen Ebe­ne ent­ste­hen­den Pro­ble­me die „Rele­vanz­gren­ze“ in Bezug auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on über­schrei­ten, ist eine inter­es­san­te Fra­ge — und ist viel­leicht eine der inter­es­san­tes­ten Fra­gen in Bezug auf die Fra­ge nach dem Funk­tio­nie­ren vor Orga­ni­sa­tio­nen über­haupt. Immer dann, wenn eine Kom­mu­ni­ka­ti­ons­blo­cka­de auf­grund per­sön­li­cher Belan­ge ent­steht, oder wenn die han­deln­den Per­so­nen nicht mehr bereit sind, die Sache zu klä­ren, weil sie die Erfah­rung gemacht haben, dass es „nichts bringt“, dann haben Orga­ni­sa­tio­nen ein Problem.

Das Cha­rak­te­ris­ti­sche an der zwei­ten Pha­se ist, dass sie auto­ma­tisch abläuft. Im Nor­mal­fall merkt man nicht, wenn man die Gren­ze von der Ver­här­tung (Pha­se 1) in die Pola­ri­sie­rung (Pha­se 2: Grüpp­chen­bil­dung; nicht mehr mit­ein­an­der, son­dern vor allem über­ein­an­der reden) über­schrei­tet. Inner­halb der Pha­se 2 gibt es wie­der­um einen Über­gang, näm­lich den von „die Sache kann noch bear­bei­tet wer­den, aber nur noch mit Hil­fe von außen“ hin zu „die Sache kann nicht mehr bear­bei­tet wer­den“, weil man zu lan­ge gewar­tet hat, zu tief drin steckt, öffent­lich sehr hohe For­de­run­gen for­mu­liert hat, im Fal­le eines Ein­len­kens also sein Gesicht ver­lie­ren wür­de, usw.

Der Schritt, zu dem es nicht kommt — oder: Die in der Regel fehlende Phase 3

Nor­ma­ler­wei­se wür­de die­se Dyna­mik wei­ter­lau­fen, bis „Pha­se 3“ erreicht wür­de. Cha­rak­te­ris­tisch für Pha­se 3 wären Din­ge, die man sich gegen­sei­tig „tut“ — mit dem Ziel, dem Gegen­über nun wirk­lich weh zu tun. Aller­dings hät­te das einen „dop­pel­ten“ Preis. Man wür­de der ande­ren Sei­te nicht nur weh tun, sie aktiv in Ver­ruf brin­gen, ihr etwas zufü­gen o.ä. Der Preis liegt ers­tens in der Gefahr, dass man auf­fliegt und sein Gesicht ver­liert, weil nun der eige­ne Anteil an der Täter­schaft nicht mehr zu leug­nen wäre (vor­her war man ja, zumin­dest rhe­to­risch, eher das Opfer). Zwei­tens liegt der Preis auch im Risi­ko des Inkauf­neh­mens eige­nen Scha­dens — „Taten“ haben in der Regel auch Kon­se­quen­zen; wenn ich etwas „tue“, ist es nicht unwahr­schein­lich, dass ich auch selbst etwas abkriege.

Man neh­me qua­si den Akku­schrau­ber und ein paar dicke, lan­ge Schrau­ben und dre­he die­se Schrau­ben an irgend­ei­nem sehr spä­ten Abend und viel­leicht mit „sie­ben Bier im Turm“ in die Sei­ten­wän­de der Rei­fen des Autos des ver­hass­ten Gegen­übers. Aber nein: Genau das tun wir eben in den meis­ten Fäl­len dann doch nicht, und das ist auch gut so — weil man (a) nicht sein Gesicht ver­lie­ren will und (b) poten­ti­el­len eige­nen Scha­den ungern in Kauf neh­men möch­te, nur um der ande­ren Sei­te zu scha­den, geht man nicht so weit. Man belässt es dabei, „böse zu reden“ und geht nicht in die nächs­te Stu­fe der Eska­la­ti­on, wodurch der Kon­flikt kurz unter der Über­gangs­schwel­le hin zu „wir tun uns gegen­sei­tig was und neh­men die Kon­se­quen­zen in Kauf“ ein­friert. Wir tun dann eben doch nichts wirk­lich Böses, wir belas­sen es beim Dro­hen, wir reden nicht mehr mit­ein­an­der, wir for­dern, gehen aber gleich­zei­tig nicht mehr auf die ande­re Sei­te zu.

Was in der Praxis anstelle von Phase 3 passiert: Pflichtverwahrlosung

Wenn dies in einem Unter­neh­men pas­siert, muss man spä­tes­tens jetzt fest­stel­len, dass die Betei­lig­ten nicht mehr aktiv auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ein­zah­len (und dazu wahr­schein­lich auch nicht mehr in der Lage sind). Wobei man an die­ser Stel­le aner­ken­nen muss, dass die Betei­lig­ten kei­nes­wegs mei­nen, dass sie nicht mehr auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ein­zah­len — sie wol­len ja (Absichts­er­klä­rung), sie kön­nen nur nicht, weil die jeweils ande­re Sei­te eben nicht mit­macht (Begrün­dung für die Nicht­um­set­zung der Absicht, die selbst­re­dend auch der _Pflicht_entspricht) — und so weiter.

In der Regel sind sol­che Zuschrei­bun­gen gegen­sei­ti­ger Natur — und damit sta­bil: Bei­de Sei­ten erken­nen im Feh­len ent­spre­chen­der Hand­lun­gen der jewei­li­gen Gegen­sei­te den Grund oder die Recht­fer­ti­gung dafür, es an eige­nen Hand­lun­gen feh­len zu lassen.

Das hat oft sei­ne Geschich­te: Ich habe etwas pro­biert, habe auf mei­ne Wei­se eine gewis­se Ges­te gezeigt; die ent­spre­chen­de (von mir erwar­te­te) Ant­wort erfolg­te (wie­der­holt) nicht, also wer­de ich kei­ne Ver­su­che mehr star­ten. Viel­leicht ganz ähn­lich auf der Gegen­sei­te: Da mag es Ges­ten gege­ben haben, die ich nicht mehr bemerkt habe, oder die ich nicht mehr bemer­ken woll­te: „Von wegen: Aus­ge­rech­net jetzt kom­men die damit, das hät­te ihnen eher ein­fal­len kön­nen!“ Wie­der­um und so weiter.

Die Gret­chen­fra­ge: Wer soll nun aus so einem Kreis­lauf aus­stei­gen, zumal der ja sta­bil ist, weil jede Sei­te ihre Sicht­wei­se und Hand­lungs­wei­se mit ihren Erfah­run­gen mit der Gegen­sei­te recht­fer­ti­gen kann.

So etwas kann zur Gewohn­heit wer­den: Bei­de Sei­te blei­ben in ihren jewei­li­gen „Kom­fort­zo­nen“, nie­mand muss etwas ändern. Gleich­zei­tig fragt sich auch nie­mand mehr wirk­lich, was eigent­lich für die Orga­ni­sa­ti­on bes­ser wäre. Spä­tes­tens jetzt haben die Eigen­in­ter­es­sen (oder: Selbst­schutz­in­ter­es­sen) oder die per­sön­li­chen Recht­fer­ti­gun­gen — man wol­le ja, aber man kön­ne nicht — die Rele­vanz des Orga­ni­sa­ti­ons­zwecks überflügelt.

Noch ein­mal, nur um nicht miss­ver­stan­den zu wer­den: Dabei han­delt es sich in der Regel nicht um eine Ein­zel­tat; in der Regel bringt man sich gegen­sei­tig, also mit­ein­an­der oder kol­lek­tiv, dort­hin. Es han­delt sich um ein Phä­no­men, das sich in der Regel aus der Inter­ak­ti­on ergibt.

Die Kon­se­quenz: Es gibt kein gemein­sa­mes Ein­zah­len auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on mehr. Die Betei­lig­ten zei­gen eine gewis­se „pro­phy­lak­ti­sche Zurück­hal­tung“ — sie tun weni­ger, han­deln nicht mehr pro­ak­tiv, hal­ten sich zurück; im Eska­la­ti­ons­fall zei­gen sie ggf. defen­si­ve Argu­men­ta­ti­ons­mus­ter, „rhe­to­ri­sche Abwehr“ könn­te man das nen­nen; ggf. wer­den in Dis­kus­sio­nen immer fili­gra­ne­re (rhe­to­ri­sche) Fal­len gestellt: „Aber letz­tes Jahr am Diens­tag, da hast Du…, und danach haben wir nie mehr dar­über gespro­chen. Wie kommst Du jetzt dazu, dass ich aus­ba­den soll, was Du damals ver­bockt hast?!“

Spä­tes­tens jetzt ist die Pflicht, gemein­sam auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ein­zu­zah­len, völ­lig aus dem Blick der Betei­lig­ten gera­ten. Spä­tes­tens jetzt bege­hen die Betei­lig­ten eine gewis­se (unbe­ab­sich­tig­te, unbe­wuss­te) Pflicht­ver­wei­ge­rung, weil es nicht mehr zur — eigent­lich not­wen­di­gen — gemein­sa­men Koor­di­na­ti­on von Hand­lun­gen kommt.

Und nun stel­le man sich vor, dass die­ser Zustand eine Wei­le anhält. Alle Betei­lig­ten haben ja immer­hin gute Begrün­dun­gen, war­um sie ggf. nicht mehr pro­ak­tiv kom­mu­ni­zie­ren, also auf die jeweils andere(n) Seite(n) zuge­hen usw. Was ergibt sich dar­aus? Wie könn­te man die Kon­se­quenz nennen?

Was ist Pflichtverwahrlosung?

Pflicht­ver­wahr­lo­sung ist zunächst kein akti­ver Vor­gang, son­dern eine Fol­ge. Am Anfang ste­hen kom­mu­ni­ka­ti­ve Pro­ble­me. Es gibt eine Rei­he von Mög­lich­kei­ten, kom­mu­ni­ka­ti­ven Pro­ble­men in der Pha­se der Ent­ste­hung oder in den Pha­sen der Eska­la­ti­on zu begeg­nen. Füh­rungs­kräf­te haben aus dem Zweck der Orga­ni­sa­ti­on her­aus am Ehes­ten die Pflicht (sie sind ja Füh­rungskräf­te), hier aktiv zu wer­den; tun sie es — aus wel­chen Grün­den auch immer — nicht, bege­hen sie gewis­ser­ma­ßen eine (zunächst unbe­ab­sich­tig­te) Pflichtver­wei­ge­rung. Die Pflichtver­wahr­lo­sung ergibt sich erst mit der Zeit daraus.

Zu einer Pflicht­ver­wahr­lo­sung kommt es erst in der Fol­ge der Dyna­mik aus jenen unbe­ab­sich­tig­ten Pflicht­ver­wei­ge­run­gen:
Was man ggf. sagt: „Weil der ande­re dies oder das nicht… will ich auch nicht…“
Was man dabei ggf. denkt: Dabei wäre es mei­ne Pflicht. Aber ich habe viel­leicht schon „gefühlt sie­ben Ver­su­che“ gestar­tet, und mein Gegen­über hat nicht…
Die recht­fer­ti­gen­den Vari­an­ten begin­nen mit: „Ich habe schon so oft…“ oder: „Ich habe so lan­ge gewar­tet, habe mich so lan­ge zurück­ge­hal­ten…“ oder: „Sehen Sie? Was soll ich nach so einem Satz noch sagen?“

Indem bei­de Sei­ten plau­si­ble Grün­de (= die Hand­lun­gen der jeweils ande­ren Sei­te) für das eige­ne Nicht­han­deln haben, sta­bi­li­siert sich das zu einem Mus­ter — und wird zur Pflicht­ver­wahr­lo­sung, qua­si weil (ver­ständ­li­che) gegen­sei­ti­ge Grün­de zu einer Art gemein­sa­mer Recht­fer­ti­gung zur Nicht­kom­mu­ni­ka­ti­on (und damit zur Nicht­über­nah­me von Ver­ant­wor­tung) werden.

Pflicht­ver­wahr­lo­sung ist kei­ne Absicht, sie ist eine Fol­ge. Sie ergibt sich aus zunächst eher unbe­ab­sich­tig­ten Reak­tio­nen, sie ist also eine Fol­ge von Reak­tio­nen, indem sie sich indi­rekt aus zunächst ver­ständ­li­chen Reak­tio­nen ergibt, in der Fol­ge aber eine gewis­se Nicht­über­nah­me von Ver­ant­wor­tung bedeu­tet. Die Pflichtver­wahr­lo­sung besteht qua­si im Hin­neh­men der Fol­gen zunächst ver­ständ­li­chen Han­delns. Indem ich aus ver­ständ­li­chen Grün­den han­de­le, wie ich han­de­le, schaf­fe ich unbe­ab­sich­tigt die Vor­aus­set­zun­gen für jene „Ver­wahr­lo­sung“ bzw. „kol­lek­ti­ve Verantwortungslosigkeit“.

So, wie am Anfang eines Kon­flik­tes nicht klar ist, ob er eska­liert, son­dern die Eska­la­ti­on eine Fol­ge des Aus­blei­bens bestimm­ter dees­ka­lie­ren­der, demü­ti­ger o.ä. Hand­lun­gen ist, so ist die Pflicht­ver­wei­ge­rung wie­der­um nicht etwa eine „logi­sche“ Fol­ge der Eska­la­ti­on, son­dern sie tritt nur ein, wenn die Eska­la­ti­on fort­ge­schrit­ten ist UND ver­schie­de­ne Dees­ka­la­ti­ons­schrit­te nichts gebracht haben UND man nun nicht mehr weiß, was man machen soll, das eige­ne Nicht­han­deln aber mit den Hand­lun­gen oder Nicht­hand­lun­gen der Gegen­sei­te recht­fer­tigt — und sich dar­aus ein Mus­ter ergibt, das sich mit der Zeit stabilisiert.

Man kann hier von (zunächst) eben­so unbe­ab­sich­tig­ter wie gemein­sa­mer Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit spre­chen — und in der Fol­ge eben von „Pflicht­ver­wahr­lo­sung“, nach dem Mot­to: „Ich mache nicht, was eigent­lich ange­bracht wäre, weil die Gegen­sei­te auch nicht macht, was eigent­lich rich­tig wäre.“ Oder: „Ich habe es drei Mal pro­biert, jetzt reicht es. Ich mache mich ja hier nicht zum Dep­pen.“ Oder, oder. Wenn alle betei­lig­ten Sei­ten auf­grund der so ent­stan­de­nen „pro­phy­lak­ti­schen Zurück­hal­tung“ nicht tun, was sie tun müss­ten, wird die Sache zum Mecha­nis­mus, zur Routine.

Bis­her hat unse­re Argu­men­ta­ti­on vor allem einen Pfad ver­folgt, näm­lich den der Erklä­rung des Phä­no­mens „Pflicht­ver­wahr­lo­sung“. Die Pflicht­ver­wahr­lo­sung ergibt sich nach der bis­he­ri­gen Erklä­rung vor allem aus einer zunächst viel­leicht unbe­wuss­ten, min­des­tens aber unab­sicht­li­chen „Ver­wei­ge­rung“, auf die jeweils andere(n) Seite(n) zuzu­ge­hen. Wenn beide/alle Sei­ten eine sol­che Pflicht­ver­wei­ge­rung bege­hen, wird dar­aus ein sta­bi­les Mus­ter, das letzt­lich zu dem führt, was hier Pflicht­ver­wahr­lo­sung genannt wird.

Es gibt noch, und dar­auf muss hin­ge­wie­sen wer­den, denn damit haben wir uns hier noch gar nicht beschäf­tigt, den Fall der BEWUSSTEN Pflicht­ver­let­zung. Das wäre der Fall, wenn jemand gleich­sam „plant“, nicht auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ein­zu­zah­len, son­dern ande­re, vom Orga­ni­sa­ti­ons­zweck abwei­chen­de Zie­le zu ver­fol­gen (bspw. rei­ne Eigen­in­ter­es­sen oder das Ziel, einer ande­ren Füh­rungs­kraft bewusst zu scha­den oder das Ziel, der Orga­ni­sa­ti­on bewusst zu scha­den). Dann wäre wahr­schein­lich eher der Begriff der „Sabo­ta­ge“ ange­mes­sen, denn die ver­folg­ten Inter­es­sen ste­hen qua­si in die­sem Fall von vorn­her­ein im Kon­flikt mit den Inter­es­sen der Orga­ni­sa­ti­on. Sabo­ta­ge ist bewusst und absicht­lich; sie ist kei­ne Ver­wei­ge­rung, die mit einer gewis­sen Hilf­lo­sig­keit beginnt, son­dern sie ist eine Ent­schei­dung zur Stö­rung oder Zer­stö­rung. Sie ist kei­ne „Ver­wahr­lo­sung“ infol­ge Unter­las­sens, son­dern eine Tat. Die Fol­gen von Sabo­ta­ge kön­nen denen von Pflicht­ver­wahr­lo­sung aller­dings glei­chen oder ähneln. Wor­um es sich genau han­delt, wird immer erst bei genau­em Hin­se­hen und Zuhö­ren, umfas­sen­der Invol­viert­heit in die Lage und tief­ge­hen­der Ana­ly­se klar.

Was wir hier unter dem Stich­wort „Pflicht­ver­wahr­lo­sung“ dis­ku­tiert haben, hat zunächst eine unbe­wuss­te, irgend­wie selbst­schutz-ori­en­tier­te Dimen­si­on. Die Sache beginnt qua­si als indi­vi­du­el­ler Abwehr- oder Selbst­schutz­me­cha­nis­mus. Wir haben hof­fent­lich deut­lich gemacht, dass es aber dabei nicht bleibt, son­dern dass die Sache auch einen kol­lek­ti­ven Cha­rak­ter bekommt, wenn man sich (unaus­ge­spro­chen) einig ist, dass man einer­seits eine Sache nicht wei­ter eska­lie­ren, son­dern sich und sei­ne Posi­tio­nen — letzt­lich sein „Gesicht“ — schüt­zen will. Dann bekommt die Sache eine habi­tu­el­le Dimen­si­on, wird zur Gewohn­heit, zum Besitz der Grup­pe. Eine „Ver­wei­ge­rung“ mag ein eher indi­vi­du­el­les Phä­no­men sein; als „Ver­wahr­lo­sung“ ist es ein kol­lek­ti­ves, gemein­sa­mes Phä­no­men. Es han­delt sich bei der Pflicht­ver­wahr­lo­sung um ein Phä­no­men der „kol­lek­ti­ven Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit“, bei der alle Betei­lig­ten auf­ein­an­der zei­gen kön­nen und genü­gend Bele­ge fin­den, war­um die ande­ren hät­ten etwas machen müs­sen und man selbst eigent­lich gar nichts machen konnte.

Jörg Hei­dig

PS: Das Bei­trags­bild wur­de mit Hil­fe einer künst­li­chen Intel­li­genz erstellt.

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.