Der nachfolgende Text stellt die wesentlichen Inhalte meines Vortrags auf dem Symposium Supervision und Coaching an der Dresden International University dar.
Industry@Heart
Als trügen wir die Industrie regelrecht im Herzen, gehen wir von Machbarkeit, Planbarkeit und Stabilität aus. Wir managen die Dinge. Aber managen kann man nur, was schon da ist (vgl. Hinterhuber 2011).
Was passiert aber, wenn sich die Welt ändert? Wie gehen wir damit um, wenn Wachstum nicht mehr so funktioniert wie bisher, wenn sich die Werte der nächsten Generation fundamental ändern, wenn die Vernetzung so ungekannte Ausmaße annimmt, dass unsere Kommunikationsgewohnheiten und unser soziales Gefüge regelrecht auf den Kopf gestellt werden?
„Wenn wir das jetzt noch machen, haben wir nachher Ruhe!“, lautet ein Spruch, den ich häufiger höre. Führungskräfte sagen ihn, um damit notwendige Kraftakte zu begründen und ihre Leute zum Durchhalten zu motivieren. Durchhalten? Was ist, wenn das nicht mehr hilft, sondern man sich etwas Neues ausdenken muss?
Dieser Text beschäftigt sich mit den gegenwärtigen großen Veränderungen. Wie viele andere Autoren (siehe bspw. Brynjolfsson & McAfee; Senge; Scharmer; Edmondson & Schein) gehe auch ich davon aus, dass wir in einer ungewissen, „verworrenen Welt“ (Hernes 2007) angekommen sind, in der vieles nicht mehr stimmt und man in bisher ungekanntem Ausmaße autonom handeln kann, bspw. in dem man ganz bewusst Tradition und Erbe ausschlägt (vgl. Sloterdijk 2014).
Die Frage, der ich hier konkret nachgehe, ist die, was diese Veränderungen für die vielen Formen von Hilfe bedeuten, die wir im Zuge der rasanten Steigerung unseres Wohlstands entwickelt haben. Ich verstehe den Hilfebegriff hier recht allgemein, indem ich mich auf Lehrer ebenso beziehe wie auf Sozialarbeiter, Psychologen, Supervisoren, Coaches oder Unternehmensberater. Ich möchte behaupten, dass etwas so grundlegend ins Wanken gekommen ist, dass wir nur mehr viel zu wenig wissen, um sichere Aussagen – etwa Organisationsdiagnosen – treffen zu können, geschweige denn richtige Methoden zu wählen.
Unsere Gewohnheiten stammen aber noch aus der alten Welt. Wir fragen gern nach Tools, wir wenden gern Methoden an. Wir fühlen uns gern sicher. Aber langsam: Bevor ich dieser Behauptung weiter nachgehe, lassen Sie uns zunächst schauen, wie es dazu gekommen ist.
Primat der Methode
Erlauben Sie mir einen kleinen historischen Exkurs, der bei Martin Luther beginnt und bei Frederick Winslow Taylor endet:
Der Protestantismus hat die Gestaltbarkeit der irdischen Verhältnisse gleichsam auf die Erde geholt. Gehen Katholiken noch von einer vom Menschen nicht zu beeinflussenden höheren Ordnung und von einer Allmächtigkeit Gottes aus, hat die Allmächtigkeit bei den Protestanten Risse bekommen. Im Katholizismus begeht man Sünden und beichtet. Dann ist zwar nicht automatisch alles gut, sondern man wird angehalten, auf seine Taten zu achten, aber im Protestantismus muss man sich bereits durch seine Taten bewähren. Man beichtet nicht mehr, sondern begeht seine Taten direkt aus dem Glauben heraus und kann sich bereits während seines Lebens an seinen Taten messen lassen. Gott ist im Protestantismus weniger vergebend, der Mensch ist weniger fehlbar, man kann bereits auf Erden »gut« sein – eine Vorstellung, die sich dem Katholiken in seiner menschlichen Unvollkommenheit im Angesicht der göttlichen Allmacht verschließt. Insofern, und das haben mir viele Christen, denen ich das bisher erzählt habe, nicht verziehen, erscheint der Protestantismus als ein notwendiger Vorläufer des Sozialismus: hätten die Protestanten Gott nicht auf die Erde geholt, hätten sie es nicht ermöglicht, dass der Mensch bereits „hier unten“ an seinen Werken gemessen werden kann, dass er »gut« sein kann, wenn er nur den rechten Glauben hätte, dann wäre der Welt vielleicht das eine oder andere »gute« und »richtige« Theoriegebäude erspart geblieben. Aber das bleibt für alle Zeit im Reich der Vermutungen.
Dieses war der erste Streich. Es folgte sogleich der zweite: Nachdem Gott einmal auf die Erde geholt war, haben wir ihn, folgen wir Friedrich Nietzsche, getötet. Die Irrationalität der menschlichen Existenz wurde mit zunehmender „Rationalisierung“ nicht mehr mit Gott – Nietzsche versteht unter dem Gottesbegriff eine idealisierte Projektion der positiven Eigenschaften eines Volkes und vergleicht vor diesem Hintergrund stärkere Gottesbilder wie das des Islam mit dem aus seiner Sicht schwachen, vergebenden Gottesbild des Christentums – erklärt. An Gottes Stelle trat die Wissenschaft; der Unwägbarkeit des Lebens wurde die Methode entgegengestellt.
„Unterschätzen wir dies nicht: wir selbst, wir freien Geister, sind bereits eine ‚Umwerthung aller Werthe‘, eine leibhafte Kriegs- und Siegs-Erklärung an alle alten Begriffe von ‚wahr‘ und ‚unwahr‘. Die werthvollsten Einsichten werden am spätesten gefunden; aber die werthvollsten Einsichten sind die Methoden. Alle Methoden, alle Voraussetzungen unsrer jetzigen Wissenschaftlichkeit haben Jahrtausende lang die tiefste Verachtung gegen sich gehabt, auf sie hin war man aus dem Verkehre mit ‚honnetten‘ Menschen ausgeschlossen, – man galt als ‚Feind Gottes‘, als Verächter der Wahrheit, als ‚Besessener‘. Als wissenschaftlicher Charakter war man Tschandala … Wir haben das ganze Pathos der Menschheit gegen uns gehabt – ihren Begriff von dem, was Wahrheit sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll: jedes „du sollst“ war bisher gegen uns gerichtet … Unsre Objekte, unsre Praktiken, unsre stille vorsichtige misstrauische Art – Alles schien ihr vollkommen unwürdig und verächtlich.“ (Friedrich Nietzsche: Der Antichrist; Quelle im Volltext)
Nach der „Hinrichtung“ Gottes war die Irrationalität aus der Welt verschwunden. Vermeintlich. Wäre da nicht Freud gewesen. Freud hat die Unwägbarkeit des Lebens, die Ambivalenzen des menschlichen Daseins gleichsam in den Menschen hineinprojiziert – in Gestalt der Triebe. Nachdem außen keine Instanz mehr da war, mit der man die Irrationalität, das Unwägbare, das Ambivalente, die spätnächtlichen existentiellen Fragen erklären konnte, nachdem alles rationalisiert wurde, hat Freud mit der Trieblehre ein Konzept geschaffen, mit dem vieles wieder erklärbar wurde. Es sei die Erziehung, der ewige Konflikt des Ichs, wenn es zwischen inneren Antrieben und äußeren Beschränkungen vermitteln müsse. Gleichzeitig schuf Freud mit der Psychoanalyse eine Methode, mit der das Ich als rationale Instanz Herr der (Trieb-)Lage werden kann. Vielleicht erklärt das einen Teil der großen Popularität zunächst der Psychoanalyse in ihrer Zeit und dann der Psychologie insgesamt in unseren Tagen – ein komplettes Erklärungsmodell auf individueller Ebene in Verbindung mit einer Methode. Psychologische Interventionen sind dementsprechend in der Regel darauf ausgerichtet, das Individuum zu stärken – sie fördern die Autonomie eines Menschen. Das erklärt wiederum, warum viele psychologische Interventionen kulturspezifisch westlich sind und in gemeinschaftsorientierteren Kulturen nicht in der uns gewohnten Weise funktionieren. Ich habe das insbesondere in der Supervision mit Sozialarbeitern, die mit afghanischen Flüchtlingen arbeiten, festgestellt. Gerade lösungsorientierte Gesprächskonzepte scheinen an ihre Grenzen zu kommen, weil Begriffe wie „ich“, „Ziel“ oder „Lösung“ ganz andere Bedeutungen haben. So wird viel häufiger im „wir“ gesprochen, und Ziele sind nicht unbedingt eine zentrale Kategorie des Denkens, was die Arbeit an Zielen bzw. an den Wegen dahin obsolet macht.
Methoden an der Grenze?
Am konsequentesten wird der Siegeszug der Methode bei den Management-Theorien deutlich:
Frühe Management-Theoretiker wie Ford oder Fayol suchten in der Regel nach Handlungsmustern und Prinzipien, die den Erfolg oder Misserfolg einer Unternehmung erklären sollten. So formulierte Fayol beispielsweise, dass Autorität, die Einheit der Leitung und Disziplin sowie elf weitere Prinzipien für den Erfolg einer Organisation ausschlaggebend seien. Man stellte später fest, dass diese Prinzipien zwar manchen Erfolg erklären konnten, es aber auch Fälle gab, die selbst bei Einhaltung der Prinzipien nicht von Erfolg gekrönt waren, und umgekehrt, dass manche vieles falsch machten und trotzdem Erfolg hatten. Dann kam Frederick Winslow Taylor und revolutionierte die prinzipienbasierten – letztlich also auf best practice beruhenden Management-Modelle, indem er sie durch eine an die Königsmethode der Wissenschaft, das Experiment, angelehnte Methode ersetzte. Taylor beobachtete den Arbeitsprozess systematisch und variierte verschiedene Größen so lange, bis die optimalste Variante herauskam. So fand er beispielsweise heraus, dass ein durchschnittlicher Arbeiter mit einer 9,5‑Kilogramm-Schaufel mehr schaffte als mit einer 7,5- oder 11-Kilogramm-Schaufe. Taylors Grundannahme war, dass die Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern vereinbar seien, und zwar durch den Lohn – jeder wolle seinen Nutzen maximieren, weshalb man vermittels des Lohns schon eine beide Seiten zufriedenstellende Variante finden werde. Dieses Menschenbild ist als homo oeconomicus in die Geschichte eingegangen und gilt in weiten Bereichen noch heute. Der große Verdienst Taylors war der Ersatz der – immer widerlegbaren und im Einzelfall nie ganz gültigen – Prinzipien durch die Methode.
Nun ist, will man den einleitenden Darstellungen folgen, die Welt im Wandel. Die Industrialisierung hat einerseits ein nie gekanntes Ausmaß an Wohlstand ermöglicht, andererseits bringt sie den Planeten an die Grenze seiner Regenerationsfähigkeit oder darüber hinweg. Es sei deshalb an der Zeit, nicht mehr den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Natur insgesamt. Dieser „Shift“ bringt uns weg von dem Bild, dass wir uns die Erde untertan machen sollen, hin zu dem Bild, dass wir Teil eines großen Ganzen sein sollen. Aber wie soll das gehen? Es gibt dazu eine ganze Reihe von Texten – angefangen von brillant recherchierten, sehr nachdenklichen und „leisen“ Texten wie „The mortal sea“ von Jeffrey Bolster bis hin zu solchen mit einem beinahe missionarisch-klagenden Ton wie „The necessary revolution“ von Peter Senge.
Anti-Communities?
Halten wir einstweilen fest: Erst ist uns Gott abhanden gekommen. Dann begann die Vorherrschaft der Methode. Nun merken wir, dass wir damit an die Grenze gekommen sind – wirtschaftlich, weil wir den Planeten überlasten, und persönlich, weil wir ein bisher ungekanntes Maß an Autonomie und Individualisierung erreicht haben.
Nicht umsonst sagt Peter Senge in der ihm eigenen, klagenden Art, dass Soziale Netzwerke Anti-Communities seien, weil jeder zu jeder Zeit das Netzwerk verlassen könne. Wirkliche Beziehungen entstünden aber nur dort, wo Menschen in unmittelbaren Austausch träten („get stuck with each other“). Diese unmittelbaren Beziehungen seien dann Voraussetzung für die Übernahme tatsächlicher Verantwortung.
Expertenrat, wissenschaftliche Untersuchungen, Trial & Error
Wir leben also in einer denkbar unsicheren Situation. Alles geht. Scheinbar. Zunächst. Die Frage ist, was dann passiert.
In unsicheren Situationen wählt man entweder den Expertenrat. Wenn es (noch) keine beratenden Experten gibt, fragt man die Wissenschaft. Weiß die auch keinen Weg, probiert man herum. Ein Blick in die Zeitung genügt: Wir sind in vielen Branchen beim Probieren angelangt:
Am deutlichsten wird dies in der Schule: Kaum einer weiß, wie Schule wirklich funktionieren kann. Der Sehnsucht nach der guten alten Zeit der Disziplin steht eine viel zu radikale „Wir schaffen den ganzen alten Mist ab!“-Mentalität gegenüber. Ein schöner Mittelweg, die die guten Aspekte beider Welten vereint, scheint nicht in Sicht.
Zweitens blicke man ins Gesundheitswesen und in die Öffentliche Verwaltung: Man versucht dort seit Jahren, Strukturen und Prozesse mittels betriebswirtschaftlicher Methoden zu reformieren. Ergebnis ist ein weitgehendes Durchwursteln von einer Paradoxie zur nächsten. Glaubt man Peter Drucker, dann erlebt die Industrie gerade das, was in der Landwirtschaft bereits vor längerer Zeit passiert ist – eine Steigerung der Produktivität bei stark abnehmenden Beschäftigungszahlen. Die Gegenwart sei bereits zum weitaus größten Teil von Dienstleistungen geprägt, das Problem dabei sei jedoch, so Drucker, dass unsere zentralen Instrumente wie bspw. Planung und Buchhaltung auf Modellen industrieller Logik beruhen. Wir haben diese Modelle auch auf Dienstleistungen, ja sogar die öffentliche Verwaltung übertragen, ohne jedoch die Geldflüsse Leistungen zuordnen zu können. Man weiß, wie viel hineingeht und wie viel wieder herauskommt, man weiß auch, wofür Geld ausgegeben wird, aber man kann Geld und Leistung nicht vernünftig zueinander bringen.
Drittens liefert ein Blick auf die psychische Verfasstheit von Führungskräften und Mitarbeitern gute Belege: Die Führungskräfte und Mitarbeiter vieler Unternehmen kommen nicht mehr hinterher, werden krank, landen im Burnout. Man kann die Burnout-Diskussion für eine Blase halten. Und es wird auch eine Reihe von Spaßvögeln geben, die unter dem Deckmantel einer Schein-Diagnose ein wie auch immer geartetes Leben führen. Aber wer mal Burnout gehabt hat, kennt die bittere Konsequenz des „bigger, better, faster, more“-Modus’. Viele halten kaum mehr Schritt, und das liegt nicht daran, dass sie etwa dumm seien. Man schaue in die Lebensmittelindustrie, man beobachte manche Automobilzulieferer, man frage Paketzusteller. Der zynische Kommentar eines Managers, mit dem ich kürzlich sprach, die Hälfte der Führungskräfte in seinem Unternehmen leide an Burnout, das sei normal, und wer sich daran nicht gewöhnen könne, der müsse gehen, spricht für sich.
Was ist hier nun zu tun?
Das Problem liegt womöglich bereits in der Frage an sich. Wir leben in einer Kultur des Tuns und Mitteilens (Edgar Schein). Unsere Annahmen gehen von Machbarkeit aus. Wir sind es gewohnt, uns gegenseitig mitzuteilen, was wir tun und lassen sollen. Wenn wir ein Problem haben, suchen wir uns Rat, lesen Untersuchungen oder probieren im Notfall herum. Aber es geht immer darum, etwas zu machen.
Wir haben Tools, die wir erlernen und beherrschen können. Dadurch werden die Dinge machbar. Wir enttwickeln neue Tools, um die Dinge noch besser zu beherrschen.
Tooligans
Schauen wir uns den Begriff des Tools einmal etwas genauer an: Die Metapher des Werkzeugs impliziert Instrumentalität, Anwendbarkeit, Machbarkeit, Beherrschung. Diesbezüglich wäre zum Einen zu fragen, ob wir den Begriff des Tools überhaupt auf die Arbeit mit Menschen anwenden können. Dennoch vergeht kaum ein Training oder Coaching, ohne dass sich Kunden bei mir nach den richtigen Tools zum Umgang mit schwierigen Situationen erkundigen. Als ob es so einfach wäre!
Zum Anderen habe ich die Vermutung, dass die oben beschriebenen Veränderungen bereits soweit fortgeschritten sind, dass die Werkzeuge, die wir aus jener Zeit mitgebracht haben, nicht mehr funktionieren, ganz ähnlich wie Peter Drucker meint, wir übertrügen betriebswirtschaftliche Techniken auf das Gesundheitswesen, ohne die erbrachten Leistungen jemals dem Geldfluss zuordnen zu können.
Der Begriff des Tools will also nicht recht passen, denn am Ende überstrahlt die Industrie-Metapher die durchaus vorhandenen positiven Aspekte des Begriffs: indem wir Coaching-Tools beherrschen, optimieren wir Menschen. Dass der Mensch optimierbar sei, ist – vor einem humanistischen Hintergrund – eine geradezu klägliche Annahme. Aber die vielen Selbstaufwertungsseminare oder auch Buchtitel wie „Kinder können kaufen“ zeigen, wie weit wir die Industrie-Metapher in unsere innere Welt hineingelassen haben.
Tooligans sind nun solche Berater, Coaches, Lehrer und so weiter, die sich verschiedener Werkzeuge bedienen, nur weil diese funktionieren, unabhängig vom Sinn. Anstatt Fragen zu stellen, halten diese Kollegen ihren Kunden ihre – meist glänzenden – Tools vor die Nase. Ob es tatsächlich hilft, ist eine andere Frage, die zumeist auch nicht mittels der Evaluationsbögen der Tooligans beantwortet werden kann. Denn wer erhält schon Antworten über die tatsächliche Wirkung einer Methode, wenn die Teilnehmer eines Seminars direkt am Ende der wunderbar unterhaltsamen zwei Tage einen Fragebogen ausfüllen? Bei dieser gängigen Form der Seminarevaluation erhält man zumeist nur ein Bild der Stimmung am Ende des Seminars. Und die ist eher abhängig vom Essen während der Veranstaltung und von der Ausstrahlung und Unterhaltsamkeit des Vortänzers. Von „Wirkung“ könnte man vielleicht nach einigen Wochen, vielleicht sogar Monaten sprechen.
Von der Verflüssigung der Methoden
Die Frage bleibt, was nun hilft. Tools an sich sind ja zunächst weder falsch noch richtig. Tools entfalten ihre Wirkung erst in den Händen bzw. durch die Worte derer, die sie einsetzen. Die Frage ist also, was vor den Tools kommt. Die Antwort darauf liegt im Begriff der Prozessorientierung. Wenn die „Ausgangslagen“, also die zu bearbeitenden Probleme, Fragestellungen, Abläufe etc. immer komplexer werden, dann ist es schwierig, einfache Lösungen zu liefern. Zwar gibt es Fälle, wo Hilfe tatsächlich so einfach ist – man bekommt eine spezielle, sehr konkrete Frage und liefert eine Spezialistenantwort. Voraussetzung ist allerdings, dass die Hilfe benötigende Seite sowohl das Problem beschreiben kann als auch weiß, was die Lösung ist und wer die Lösung liefern kann. Ein Schüler, der ein Problem mit einer Sachaufgabe hat, geht zu seinem Lehrer, weil der ein Spezialist dafür ist. Ein verschuldeter Mann geht zu einer Schuldnerberatung, um ein Konzept für den Umgang mit seinen Gläubigern zu entwickeln. Ein Unternehmen ruft bei einem IT-Dienstleister an, um eine neue Buchhaltungssoftware zu kaufen. In all diesen Fällen ist das Problem klar, und der Spezialist kann direkt helfen.
Was ist aber mit Problemen, bei denen zwar klar ist, dass etwas nicht mehr funktioniert, aber weder klar ist, was eigentlich das Problem ist, noch, was im konkreten Fall helfen würde? Was ist beispielsweise mit einem Operationsteam, in dem es nach dem Wechsel des leitenden Chirurgen zu einem Anstieg der Fehlerrate kommt? Woran liegt es, dass eine Software, nachdem sie programmiert wurde, von den Mitarbeitern eines Unternehmens geflissentlich ignoriert wird? Was ist, wenn der bereits angesprochene Schüler mit der Sachaufgabe nicht klarkommt und sich in der Folge zeigt, dass die Hilfe, die ihm der Lehrer angedeihen lässt, nicht bewirkt, dass der Schüler mit diesem Aufgabentyp besser umgehen kann? (Zu den drei möglichen Helferrollen siehe Schein 2010.)
In diesen Fällen ist bereits die Ursachenanalyse sehr schwierig, geschweige denn zu klären, was hilft und wer ein geeigneter Helfer sein könnte. In diesen Fällen hilft tatsächlich, zunächst in eine Art Prozessklärung einzusteigen und sich vermittels einer möglichst „naiven“, nondirektiven, explorierenden Gesprächshaltung ein Bild vom Problem zu machen („Humble Inquiry“). Es wird erst langsam klar, was das Problem überhaupt ist. So kann beispielsweise deutlich werden, dass sich der neue leitende Chirurg keine Zeit genommen hat, Beziehungen zu seinem Team aufzubauen. Untersuchungen belegen, dass es bei steigender Komplexität von Abläufen bei gleichzeitig hohem Risiko (wie das in Krankehäusern und bei Airlines der Fall ist) vor allem auf die Qualität der Beziehungen zwischen den Akteuren ankommt. Hierarchiereduzierende Vertrauensbildung bzw. die gefühlte psychologische Sicherheit (Edmondson 1999) entscheidet darüber, ob eine Schwester den leitenden Arzt auf einen möglichen Fehler aufmerksam macht oder nicht. Vorgesetzte werden zunehmend abhängiger von ihren Mitarbeitern, und das Ausmaß, wie die Vorgesetzten diesen Umstand verstehen und bei ihren Führungshandlungen berücksichtigen, ist eine – wenn nicht die – entscheidende Variable, wenn es um die Anpassungs- und Lernfähigkeit von Organisationen geht.
Amy Edmondson und Edgar Schein weisen in ihrem Buch „Teaming“ darauf hin, dass die Zeit der statischen Phasenmodelle der Teamentwicklung vorbei ist. Heute geht es vielmehr um stetes Lernen, um „Teamwork on the fly“ begleitet von häufigen Personalwechseln, sich fallspezifisch ändernden Abläufen etc. Man hat schlicht keine Zeit mehr, die Teammitglieder kennenzulernen, sondern braucht Methoden, die sowohl Kennenlernen und Beziehungsaufbau als auch Koordination gleichsam „fließend“ ermöglichen. Edmondson nennt die folgenden fünf Aspekte:
Speaking up: Damit sind eine proaktive Grundhaltung und eine ebenso direkte wie ehrliche Art der Kommunikation gemeint. Konkret funktioniert das, indem die Akteure Fragen stellen, Fehler benennen und anerkennen, wichtige Themen ansprechen und Ideen erläutern.
Experimenting: Damit ist die Ermöglichung iterativer Handlungsmuster gemeint. Es geht darum, die Unsicherheit und die – bei neuen Personen oder schnellen Änderungen – Ungewohntheit der Interaktionen zwischen den beteiligten Personen anzuerkennen und bei der Erörterung von Möglichkeiten und bei der Planung einen gewissen Spielraum für Versuch und Irrtum zuzulassen.
Reflecting: Hier geht es zunächst um das Beobachten von Prozessen und ihren Ergebnissen und Wirkungen. Hinzu kommen das Hinterfragen und Diskutieren der Beobachtungen. Wichtig ist, dass für diese Reflexionen ein der Taktung der Arbeit angemessener Rhythmus gefunden wird. Das kann ein tägliches 15minütiges Teammeeting sein, es kann sich auch um ein wöchentliches Treffen von anderthalb Stunden handeln. Bei weniger drängenden Aufgaben mit geringerer Kommunikations- und Kooperationsdichte kann auch ein monatliches Treffen genügen. (Lesen Sie auch diesen Beitrag über die Gestaltung effektiver Besprechungen.)
Listening intently: Gut zuzuhören ist harte Arbeit. In diesem Sinne geht es darum, möglichst viel zu investieren, um das Wissen, die Erfahrung, die Ideen und Meinungen anderer Menschen aus dem Team und vor allem von Angehörigen anderer Arbeitsbereiche zu verstehen.
Integrating: Mit diesem Punkt ist ein Ansatz gemeint, der versucht, durch Synthese verschiedene Fakten, Standpunkte und Sichtweisen zu integrieren, um so neue Möglichkeiten zu schaffen. Im Grunde geht es hier um eine dem so genannten Harvard-Konzept der Verhandlungsführung nicht unähnliche Grundhaltung bzw. Art der Gesprächsführung.
Anstelle einer Zusammenfassung
Im Grunde ist die Prozessorientierung nicht neu. Aber sie erlebt durch die Zunahme von Komplexität und Vernetzung eine Art Renaissance. Wenn man die „frei schwebende Aufmerksamkeit“ des Gestaltansatzes, die nondirektive Gesprächshaltung von Rogers oder den unstrukturierten Beginn klassischer T‑Gruppen betrachtet, findet man genügend Ideen und Konzepte, die auf das Lernen aus dem Prozess heraus setzen. Kein anderer hat dieses Konzept so gut auf den Punkt gebracht wie Edgar Schein mit seinem neuen Buch „Humble Inquiry“. Letztlich geht es darin um eine Technik des „Sich-in-den-Prozess-kippen-Lassens“, wie ich das in Anlehnung an Rogers und Schein nennen.