Methoden zur Selbstreflexion: Wie man die Lücke zwischen beabsichtigten und tatsächlichen Handlungen schließen kann

Wer kennt es nicht: wenn man in einer kom­pli­zier­ten, emo­tio­nal auf­ge­la­de­nen Situa­ti­on steckt oder vor einer beson­ders schwie­ri­gen Ent­schei­dung steht, dann han­delt man oft auto­ma­tisch, und hin­ter­her ärgert man sich und sagt sich, eigent­lich hät­te ich anders han­deln müs­sen und nicht so.

Bei­spiels­wei­se im Mit­ar­bei­ter­ge­spräch: man führt dem betref­fen­den Kol­le­gen erst ein­mal vor Augen, was er alles falsch gemacht hat und was man eigent­lich von ihm erwar­tet. Hin­ter­her fällt einem aber ein, dass der Kol­le­ge auch noch ganz ande­re Din­ge tut, und dass die­se Din­ge viel bes­ser lau­fen. Aber genau das hat man ihm natür­lich nicht gesagt.

Oder man neh­me pri­va­te Situa­tio­nen: wie oft erlebt man, dass man eigent­lich etwas Gutes sagen möch­te, es aber dann doch ganz anders sagt und es noch nega­ti­ver ankommt?

Oder in der Erzie­hung: wie oft gibt es Situa­tio­nen, in denen man hin­ter­her fest­stellt, wie zu han­deln eigent­lich klü­ger gewe­sen wäre? Die Emo­tio­na­li­tät ver­hin­dert, dass wir in ange­spann­ten Situa­tio­nen so han­deln, wie wir uns das bewusst über­le­gen. Das affek­ti­ve Sys­tem mit den auto­ma­ti­schen Hand­lun­gen ist viel schnel­ler und spon­ta­ner als die bewuss­ten Handlungsimpulse.

Es gibt also oft eine Lücke zwi­schen dem, was man inten­diert oder was ange­mes­sen wäre, und dem, was man tat­säch­lich tut.

Eine gan­ze Legi­on von Semi­nar­an­bie­tern, Trai­nern, Coa­ches und Dozen­ten lebt von die­ser Lücke. Man erzählt sei­nen Kun­den, wie es rich­tig wäre, prä­sen­tiert Model­le, ver­deut­licht am prak­ti­schen Bei­spiel, macht ein paar Übun­gen. Nur hel­fen die­se For­ma­te in der Regel nichts: Die meis­ten Men­schen wis­sen, was zu tun rich­tig wäre, aber unter Druck funk­tio­niert es den­noch nicht. Die in den Trai­nings und Schu­lun­gen ver­mit­tel­ten Tech­ni­ken rei­chen nicht. Die Lücke zwi­schen opti­ma­lem und tat­säch­li­chem Ver­hal­ten gibt es trotzdem.

So ler­nen Eltern, die von einem Psy­cho­lo­gen wis­sen wol­len, wie sie ihrem Kind das Bei­ßen abge­wöh­nen kön­nen, dass sie ihr Kind in die­sen Momen­ten ein­fach igno­rie­ren sol­len. Gesagt, getan, den­ken die Eltern sich und mer­ken spä­ter, dass es gar nicht so ein­fach ist. Da sind hef­ti­ge Emo­tio­nen im Spiel, und man war bis­her gewohnt, das Kind hef­tig zu ermah­nen, wenn es gebis­sen hat. Aus einem sol­chen Gewohn­heits­mus­ter muss man erst ein­mal herauskommen.

Am Ende geht es dar­um, Gewohn­hei­ten zu ver­än­dern, aus­ge­tram­pel­te, ver­trau­te Pfa­de zu ver­las­sen, auf die uns unse­re Emo­tio­nen immer wie­der ganz auto­ma­tisch füh­ren. Die Ver­än­de­rung von Gewohn­hei­ten braucht Zeit und Refle­xi­on. Wenn wir uns selbst im Weg ste­hen, ist es nicht damit getan, das zu mer­ken und zu wis­sen, wie es rich­tig wäre.

Das ist nur der Anfang. Der Weg zur Ver­än­de­rung – oder bes­ser: zum Umler­nen von Gewohn­hei­ten – ist ein lang­sa­mer Pro­zess der (Selbst-)Beobachtung, der Refle­xi­on, des Erpro­bens und Ein­übens neu­er Handlungsmuster.

Wenn es ein­fach wäre, könn­te es jeder. Und wer schon ein­mal ver­sucht hat, eine alte Gewohn­heit abzu­le­gen oder eine fest­ge­fah­re­ne Situa­ti­on zwi­schen zwei Kol­le­gen oder in einer pri­va­ten Bezie­hung wie­der in Bewe­gung zu brin­gen, weiß, wie schwer das sein und wie lan­ge das dau­ern kann.

Das inne­re Team

Eine wun­der­ba­re Metho­de, den soeben ange­spro­che­nen Pro­zess der Selbst­be­ob­ach­tung und der Refle­xi­on in Gang zu set­zen, ist das „inne­re Team“ (Beschrei­bun­gen las­sen sich u. a. auch direkt bei Schulz von Thun fin­den). Das inne­re Team (oder: inne­re Kon­fe­renz) ist eine Metho­de zur Inter­ven­ti­on in schwie­ri­gen Kon­flikt- und Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen mit dem Ziel der Selbst­klä­rung in inner­lich ambi­va­len­ten bzw. „mul­ti­va­len­ten“ Situa­tio­nen. Der Ansatz ist denk­bar ein­fach: die „inne­ren Stim­men“ (oder weni­ger miss­ver­ständ­lich: die inne­ren Hand­lungs­im­pul­se) wer­den wie eine Art inne­res Mit­ar­bei­ter­team im Rah­men einer Kon­fe­renz ange­hört. Die­ser Aus­tausch der inne­ren Impul­se bil­det die Grund­la­ge für eine fun­dier­te Entscheidung.

1. Schritt: Wer nimmt an der Kon­fe­renz teil?
Benen­nung der inne­ren Impul­se; Beschrei­bung, Cha­rak­te­ri­sie­rung, Sym­bo­li­sie­rung und Dar­stel­lung; das „Ich“ bleibt Ober­haupt bzw. Diskussionsleiter

2. Schritt: Die Stim­men erzählen:
Anhö­rung der ein­zel­nen Stim­men (unter­bre­chungs­frei); ggf. typi­sche Aus­sa­gen auf­schrei­ben und der Dar­stel­lung hinzufügen

3. Schritt: Diskussion:
der Dis­kus­si­on frei­en Lauf las­sen (zumin­dest für eine Wei­le); das Gespräch darf eska­lie­ren und sich im Kreis dre­hen; Über­gang zum nächs­ten Schritt:
das „Ich“ wird zuneh­mend zum Moderator

4. Schritt: Strukturierung:
der Dis­kus­si­ons­lei­ter fasst zusam­men und bringt Struk­tur in die Dis­kus­si­on; Auf­for­de­rung zur Lösungssuche

5. Schritt: Lösungs­su­che und Vorschläge:
die­se Pha­se ähnelt einem kon­struk­ti­ven Brain­stor­ming; Leit­fra­gen: Was sind Zie­le und Inter­es­sen hin­ter den ein­zel­nen Stim­men? Las­sen sich Gemein­sam­kei­ten oder Ver­hand­lungs­po­si­tio­nen her­aus­ar­bei­ten? (etwa: „Unter wel­chen Bedin­gun­gen wärst Du bereit…?“)

6. Schritt: Inte­grier­te Stellungnahme:
der Dis­kus­si­ons­lei­ter fasst die ein­zel­nen Stim­men wert­schät­zend zusam­men; dann ver­lässt der Dis­kus­si­ons­lei­ter („Ich“) die Mode­ra­to­ren­rol­le und trifft eine „inte­grier­te Ent­schei­dung“; Kon­sens ist sel­ten, wes­halb irgend­wann der Moment der Ent­schei­dung kommt

War­ri­or, Lover, Drea­mer and Thinker

Die so struk­tu­rier­te „Ver­hand­lung mit sich selbst“ kann sehr sinn­voll sein, führt sie doch zu aus­ge­wo­ge­ne­ren Hand­lun­gen und über­leg­te­ren Ent­schei­dun­gen. Nun kann es aber recht lan­ge dau­ern, bis man alle inne­ren Impul­se gefun­den, benannt und in die Dis­kus­si­on mit­ein­an­der gebracht hat. Der ame­ri­ka­ni­schen Ver­hand­lungs­exper­tin Eri­ca Ari­el Fox kommt das Ver­dienst zu, ein Modell geschaf­fen zu haben, das sol­che inne­ren Ver­hand­lun­gen ein­fa­cher und intui­ti­ver bzw. leich­ter ver­ständ­lich macht.

Fol­gen wir Eri­ca Fox, dann sind es vor allem vier inne­re Impul­se, die von beson­de­rer Bedeu­tung sind. Sie hat die­se „inne­ren Typen“ auf der Grund­la­ge der Jung­schen Arche­ty­pen kon­zi­piert und benannt. Arche­ty­pen las­sen sich als kol­lek­tiv geteil­te „Urbil­der“ oder „Urty­pen“ mensch­li­cher Hand­lungs­mus­ter oder Rol­len ver­ste­hen. Die vier Impul­se sind der Krie­ger, der Lie­ben­de, der Träu­mer und der Denker.

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In schwie­ri­gen Situa­tio­nen soll­te man sich die Zeit gön­nen fest­zu­stel­len, wer von den vie­ren am lau­tes­ten ist, wer lei­ser ist und wer kaum zu hören ist. Gera­de unter Druck steht – je nach Per­sön­lich­keit und bis­he­ri­gen Erfah­run­gen – zumeist ein Aspekt im Vor­der­grund und ande­re spie­len eine weni­ger bedeut­sa­me Rol­le oder wer­den ausgeblendet.

Als ich kürz­lich mit einer Grup­pe von Ret­tungs­as­sis­ten­ten arbei­te­te, freu­te ich mich über die hand­fes­te Art, mit der Wit­ze erzählt wur­den. Ins­ge­samt strahl­ten die Her­ren eine gewis­se „herz­li­che Här­te“ aus, die je nach The­ma durch­aus auch in „sar­kas­ti­sche Distanz“ kip­pen konn­te. Als das Gespräch auf Part­ner­schaft und Ehe kam, zeig­te sich, dass nur noch ein gerin­ger Teil der Anwe­sen­den in ers­ter Ehe leb­te. Der Job, der ja vor allem die Anfor­de­rung mit sich bringt, auch in sehr schwie­ri­gen Situa­tio­nen und unter hohem psy­chi­schem Druck feh­ler­freie Arbeit zu leis­ten, hat­te die Her­ren mit den Jah­ren hart gemacht. Das bringt den Krie­ger mit all sei­nen prak­ti­schen Kom­pe­ten­zen in den Vor­der­grund und ver­drängt mit den Jah­ren die “wei­che­ren” Antei­le der See­le. Es ging in dem Semi­nar vor allem um den rich­ti­gen Umgang mit Aus­zu­bil­den­den, und eine Fra­ge war, wie man Aus­zu­bil­den­den bei der Bewäl­ti­gung der ers­ten belas­ten­de­ren Arbeits­er­fah­run­gen hel­fen kön­ne. Ich frag­te dann, wie die Anwe­sen­den das sei­ner­zeit gelernt hat­ten. Eini­ge mein­ten: “Augen zu und durch. Es ist eine Gewohn­heits­fra­ge. Wir müs­sen unter Druck funk­tio­nie­ren. Wenn Du zu einem Unfall mit Toten kommst, fragt Dich kei­ner, wie es Dir geht.” Ich sag­te dann: Aber Sie kön­nen Ihre Azu­bis nach­her fra­gen, wie es Ihnen geht. In einem nächs­ten Schritt haben wir dann das Modell von Eri­ca Fox angewendet.

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Die Übung ist denk­bar ein­fach: Man neh­me vier Stüh­le, bestim­me, wel­cher Stuhl wel­che Rol­le ver­kör­pert und reflek­tie­re dann sei­ne Erfah­run­gen oder anste­hen­de Ent­schei­dun­gen aus den vier Blick­win­keln. Die Abbil­dun­gen zei­gen die wesent­li­chen Eigen­schaf­ten der vier inne­ren Rollen/Stimmen/Handlungsimpulse. Wer genau hin­sieht, wird klas­si­sche Per­sön­lich­keits­ty­po­lo­gien wie etwa die „Grund­for­men der Angst“ nach Fritz Rie­mann oder die heu­te sehr ver­brei­te­ten Per­sön­lich­keits­mo­del­le mit den vier Ver­hal­tens­di­men­sio­nen Domi­nanz, Initia­ti­ve, Ste­tig­keit und Gewis­sen­haf­tig­keit (bspw. DISG oder das per­so­log-Per­sön­lich­keits­mo­dell) wie­der­erken­nen. Das Schö­ne an dem Modell von Eri­ca Fox ist, dass es kei­ne Behaup­tun­gen auf­stellt, wel­cher Typ man sei, und war­um man sich so und nicht anders ver­hal­te. Viel­mehr sorgt das Modell für Refle­xi­on und Aus­ge­wo­gen­heit und bringt die inne­ren Gegen­sät­ze oder „Mul­ti­va­len­zen“ auf sehr posi­ti­ve Wei­se ans Licht. Jeder Mensch trägt nach die­sem Modell alle vier (und ver­mut­lich noch mehr) Aspek­te in sich, und eine Ent­schei­dung ist plötz­lich kei­ne Typen­fra­ge mehr, son­dern eine bewuss­te und fun­dier­te Wahl.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.