Über die Auswirkungen der Nutzung von Medien und dabei insbesondere der sozialen Netzwerke auf das menschliche Denken wird derzeit viel diskutiert. Weniger Beachtung findet dabei die Frage, warum soziale Netzwerke so ausgiebig genutzt werden. Meine Antwort aus psychologischer Sicht lautet wie folgt: Soziale Netzwerke sind deshalb so populär, weil sie die durch zunehmende Abschottung dünner werdenden Beziehungsnetze im realen Lebensraum durch Beziehungen im virtuellen Raum ersetzen. Die Ursache dafür sehe ich in dem während der vergangenen 200 Jahre immens gestiegenen Wohlstand. Der individuelle Lebensraum hat sich deutlich vergrößert, allerdings sind dadurch auch die Abstände zwischen den Menschen größer geworden. Lebte man früher mit mehreren Generationen unter einem Dach, und lebten nicht selten ganze Familien in einem Zimmer, und gab es also immer eine Art permanenten sozialen Grundrauschens, so kann heute davon keine Rede mehr sein. Singlehaushalte, Kleinfamilien und kinderlose Paare prägen das Bild. Vor diesem Hintergrund erscheint die Aufmerksamkeitszerstäubung, zu der die intensive Nutzung des Internets und besonders der sozialen Netzwerke angeblich führt, in einem ganz anderen Licht: Wir holen uns mit Facebook ein Stück Höhle oder Dorf zurück. Die Bedürfnisse des Menschen sind im Grunde die selben wie ehedem geblieben, nur die Umwelt hat sich rasant verändert.
Ich habe das in etwas ausführlicherer Form und verbunden mit der Frage, welche ethischen Bedenken sich mit Blick auf den Erfolg sozialer Netzwerke ergeben, in einem Artikel aufgeschrieben, der kürzlich in einem Tagungsband des Internationalen Hochschulinstituts Zittau im Rainer-Hampp-Verlag erschienen ist.
Jörg Heidig