Beginnen wir mit einer Beobachtung: In meinen Lehrveranstaltungen können Studenten ihre Hausarbeitsthemen in der Regel selbst entwickeln und vorschlagen oder – im selteneren Fall – aus einer Liste wählen. Dabei fällt mir auf, dass der Anteil der auf Selbstreflexion gerichteten Themen stark angestiegen ist. War vor zehn Jahren noch geschätzt eine von zehn Arbeiten selbstreflexionsorientiert, sind es heute deutlich mehr als die Hälfte. Gleichzeitig nimmt der Betreuungsaufwand bzgl. dieser Arbeiten zu. Es scheint, als würden die betreffenden jungen Leute nach Selbstreflexion streben, diese aber nicht erreichen, ja durch das Streben danach sogar davon abgelenkt werden. Nach manchen Gesprächen habe ich das Gefühl, dass es nicht um Selbstreflexion geht, sondern um eine Selbstbetrachtung aus einer seltsamen, zunächst wenig greifbaren „dritten“ Perspektive. An der Perspektive von außen ist erst einmal nichts Ungewöhnliches – man braucht eine gewisse „Distanzierung“ (und die Schilderungen anderer), um sich selbst reflektieren zu können. Das Seltsame an der von mir beobachteten Perspektive ist, dass sie nur selten kritisch oder lernend in Bezug auf eigene Handlungen daherkommt, sondern bestätigend, festigend. Als bräuchten die betreffenden jungen Leute eine Stimme von außen, die sagt: ja, Du bist gut so, wie Du bist. Gleichzeitig erheben diese Menschen aber auch selbst den Anspruch, gut so zu sein. So dreht sich die Sache im Kreis, und wir haben es mit einer Art „Selbstbestätigung aus sich selbst heraus“ zu tun. Oder anders formuliert: es scheint, als würde man die Verdrängung externalisieren. Der Unterschied zur „normalen“ Verdrängung oder auch zur Projektion ist, das letztere einfach stattfinden – etwas, das ein Mensch nicht in sein Selbstkonzept integrieren möchte, findet nicht mehr statt oder wird quasi in anderen Personen wiederentdeckt und kritisiert. Dieser Prozess läuft nun aber „doppelt“ ab: ich verdränge bereits etwas, behaupte, dass ich gut so bin und bestätige mir dann meine Version der Dinge gleichsam selbst von außen, indem ich mich ja selbst reflektiert habe.
Solche Mechanismen sind aus der Supervision mit Angehörigen von Helferberufen bekannt, etwa wenn man sich gegenseitig doppelt oder dreifach überlagernde Abwehrmechanismen vorfindet. So bemerkt man in einer Fallreflexion möglicherweise eine gewisse Identifikation einer Beraterin mit ihrer Klientin in einer Paarberatung mit einer Frau und ihrem Lebensgefährten. Nehmen wir an, die Identifikation kann herausgearbeitet und reflektiert werden. Ergebnis ist vielleicht eine neutralere Haltung der betreffenden Beraterin im Umgang mit dem Fall und eine gewisse Orientierung an Methoden, die auch in der Mediation Anwendung finden, also etwa Abwechslung bei Befragungen (bspw. Einigung darauf, wer beginnt, dann immer abwechselnd) oder eine platzmäßig „gerechte“ Aufteilung des Whiteboards bei der Visualisierung. Solche „kleinen Dinge“ unterstützen die neutrale Haltung ungemein. Was aber durch eine solche Reflexion möglicherweise verdeckt wird und im Falle des Vorhandenseins wirklich schwer ansprechbar ist, sind grundlegende Annahmen der Beraterin über die Natur von Beziehungen, über Trennungen, über Geschlechterrollen und so weiter. So sind mir immer wieder Kolleginnen und Kollegen in verschiedenen Helferberufen begegnet, die – mehr oder weniger unbewusst – in eine Richtung beraten, coachen und so weiter. Wenn etwa eine Lehrerin zur Kur fährt, dort einem freundlichen Therapeuten begegnet, der sie versteht und alles auf der Grundlage ihrer Sichtweise bespricht, weil er ja – bei aller Professionalität – Verständnis haben muss und auch nur die eine Seite der Medaille kennen kann, dann kann die Folge sein, dass die betreffende Lehrerin noch vor ihrer Rückkehr beim Scheidungsanwalt anruft. Es gibt (häufiger) Familienberater, die eher „auf Trennung“ beraten, und (seltener) andere, die eher „auf Familienerhalt“ beraten. Ein erster Schritt wäre, dass man sich damit auseinandersetzt, in welche Richtung man ggf. berät, und sich fragt, was den eigenen Modellen an Annahmen zugrunde liegt. Dann wäre schon viel gewonnen. Als dann wären da noch die der Profession zugrunde liegenden Tendenzen, also die Annahmen, die innerhalb der Disziplin selbstverständlich (und damit: nicht hinterfragbar) sind, die man also bereits mit dem Studium aufsaugt und die implizit beinahe allen Methoden innewohnen. Hier sei eine – aufgrund des Formats „Blogtext“ leider viel zu kurze – Annäherung versucht:
Nachdem Gott an Relevanz verloren hatte und die Normen der Gemeinschaft lockerer wurden, haben Psychologen dafür gesorgt, dass diejenigen Dinge, die wir vorher „im Himmel“ verortet hatten – also das, was größer und mächtiger war als wir, aber auch das Schicksalhafte, das Unwägbare, das Nichterklärbare – auf die Erde geholt und im Menschen selbst verortet wurden. Denn nichts anderes stellen einige der zentralen psychoanalytischen Konzepte dar – so ist der Freudsche „Trieb“ beispielsweise ein halbwegs metaphysisch anmutendes Postulat, freilich hinreichend plausibel, als dass es sich zu einer für lange Zeit zentralen Kategorie der Psychologie aufschwingen konnte. Trotzdem bleibt es eine Behauptung, mit der viele der Fragen zur Ambivalenz und bisweilen auch Unerträglichkeit des Daseins beantwortet werden können. Ein Detail dieser Veränderung der Projektion weg von „oben“ (Gott) hin nach „innen“ (Triebe) ist die damit einhergehende Individualisierung. Es ist quasi „mein“ Triebschicksal: MEINE Mama hat dies oder das nicht richtig gemacht, diesen oder jenen Konflikt nicht ausgetragen, und das hat sich so und so auf MICH ausgewirkt. Verschwunden war das „Wenn Ihr nicht…, dann werdet Ihr…“, das vor noch nicht allzu langer Zeit allsonntäglich von der Kanzel herunterdonnerte. Das „Ihr“ wich dem „Ich“.
Damit einher geht eine Abwertung der Belange der Gruppe und damit der Traditionen. Bescheidenheit oder gar Demut vor den Belangen der Familie (im weiteren Sinne auch der Traditionen) ist gerade nicht, was die Psychologie kann; dazu müsste man in die Kirche gehen, aber das machen die meisten eben nicht (mehr). Psychologen sind am Ende dazu da, alles und jede Handlung zu verstehen und gemeinsam mit dem Individuum nach Lösungen zu suchen. ICH verhalte mich zu MEINEM Leben, finde MEINE Prioritäten, treffe EIGENE Entscheidungen und so weiter.
Doch zurück zum eigentlichen Thema, zu dem, was ich als eins der „großen Missverständnisse unserer Zeit“ ansehe, zumindest innerhalb des westlichen Kulturkreises:
Ich fürchte, dass viele junge Menschen einem fundamentalen Missverständnis bezüglich des Begriffs der Selbstverwirklichung aufsitzen. Ich möchte Selbstverwirklichung hier lediglich als die Versuche verstehen, die Menschen starten, um ihrem Leben einen Sinn zu geben und eben diesen Sinn zu verwirklichen. Das Problem dabei: Selbstverwirklichung kann kein absichtlicher Prozess sein, sondern ist nur zu erreichen, indem man die Aktivitäten nicht auf sich selbst, sondern eben auf den Sinn – und damit auf die Situation und den anderen Menschen – richtet. Sinn als Selbstzweck geht nicht. Selbstverwirklichung als Selbstzweck geht nicht. Ein Ich braucht immer den anderen – wie weit weg auch immer, aber die oder der andere ist die Richtung oder der „Geber“ des Sinns. Sinn kann man sich, so gedacht, nicht „nehmen“. Sinn „bekommt“ man, oder man „findet“ ihn, aber man kann ihn nicht behaupten oder aus sich selbst heraus generieren. Erst indem man sich selbst verliert, im Sinn aufgeht, findet man Sinn und damit Selbstverwirklichung (David Brooks), nicht indem man sich selbst sucht und – in diesem Fall zwingend – nichts findet (ein wenig ironisch: Schnipo Schranke – „Ich suche ständig nach mir selbst, doch da ist nichts weit und breit“).
Ansonsten sitzt man dem großen – und kaum hinterfragten – Versprechen unserer Zeit auf – der Gaukelei, man könne alles erreichen, wenn man es nur wolle. Versteht man den menschlichen Willen tatsächlich so, ist man bei Zielen und allen weiteren ökonomisch geprägten Kategorien des Coachings und wie die neuen, häufig aus der Psychologie hervorgegangenen Selbstvergewisserungspraktiken alle heißen. Die Psychologie war es, die das Individuum – wissenschaftlich fundiert – in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt hat.
Wir lernen, was Sinn ist, wenn wir Lebensläufe von Menschen betrachten, denen es gelungen ist, ihrem Leben einen Sinn zu verleihen (Charlotte Bühler). David Brooks hat das kürzlich in einzigartiger Weise vorgemacht.
Die eingangs angesprochenen Studenten nehmen quasi die Perspektive anderer auf sich selbst ein, betrachten sich durch die (angenommene, unterstellte) Perspektive anderer Menschen auf sich selbst. Aber es sind eben nicht die anderen, sondern sie selbst. Sie machen sich damit selbst zum Primat, zu einem „Ersten“ und werden genau dadurch nie erreichen, was sie eigentlich intendieren – wissen, wie man ein gutes Leben führt, wie man etwas „richtig“ macht und so weiter.
Früher haben das die Gemeinschaft und die Traditionen geregelt, heute müssen wir alles immer selbst entscheiden. Niemand nimmt uns die Entscheidungen mehr ab. Wir haben Gott und die Gemeinschaft als Maßstäbe eliminiert, was eine Befreiung war.
Wirklich?
Wir bezahlen dafür einen entsetzlichen Preis, indem wir dazu verurteilt sind, uns selbst immer wieder abzunabeln, immer wieder selbst zu entscheiden. Als Hilfsmittel holen wir uns den Blick von außen: Welchen Eindruck macht das, wenn ich jetzt so handle? Wie kommt das rüber? Genau dadurch kommen wir nicht zu uns selbst.
Das Missverständnis hat noch eine andere, womöglich „fiesere“ Ebene: viele von uns verwechseln ihre Kinder mit Projekten. Was ich damit meine, ist, dass viele der heutigen Eltern ihre Kinder nicht mehr behandeln wie Kinder – also Wesen, die etwas lernen müssen, die erst einmal Werte übernehmen müssen, damit sie später selbst Position beziehen können.
Unsere Aufgabe ist es, einen Sinn zu finden. Nach Viktor Frankl liegt der Sinn darin, in einem jeweils gegebenen Augenblick etwas anders zu machen, etwas zu verändern. Damit ich aber überhaupt etwas verändern will, muss mir erst einmal etwas behauptet werden. Ich kann das später für richtig oder falsch oder teilweise richtig oder teilweise falsch halten, oder ich kann in irgend eine denkbare Richtung abbiegen, ganz egal. Ich brauche als Kind erst einmal eine Leitung, damit ich später überhaupt etwas will – und nicht alles gleichzeitig. Denn wer immer alles hatte, was er oder sie wollte, der oder die weiß nichts über Wollen, Haben oder Sein. Die- oder derjenige ist ganz und gar BIG ME geworden, und BIG ME besteht nur aus Bedürfnissen. Ich kann alles haben, alles werden, alles sein, und das zu jeder Zeit. Das ist, was die Vielfalt der Möglichkeiten (pädagogisch korrekt formuliert: Lernen geschieht selbstgesteuert) suggeriert und als Verhaltensspur bei denen hinterlässt, die wenige oder gar keine Grenzen mehr erfahren haben.
Natürlich geschieht Lernen (auch) selbstgesteuert. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Es kommt auf die Details an: Ich muss bei der Sauberkeitserziehung keinen Druck machen wie in Zeiten der autoritären Erziehung. Ich kann warten, bis das Kind sagt: „Ich brauche keine Windel mehr.“ Aber wenn ich das Kind nicht auf den Topf setze und ihm vermittle, was ich will und für richtig halte, wird das Kind nicht darauf kommen, keine Windel mehr zu wollen. Dann trägt es mit fünf Jahren immernoch nachts eine Windel und braucht den Schnuller. Dann muss ich mich auch nicht wundern, wenn mein Kind eine ganze Armee von Seelenklempnern und Sprachverbesserern in Anspruch nimmt. Im Grunde laborieren diese Berufsgruppen heute oft an den Folgen fehlender Erziehung herum. In Zeiten autoritärer Erziehung waren die Methoden oft grundfalsch, nämlich voller Einschüchterung und Gewalt. Das Problem heute: sie fehlen nicht selten ganz und gar.
Es ist schon sehr interessant, dass die Anzahl der Arbeiten zum Thema Selbstreflexion so entscheidend gestiegen ist. Vielleicht ist dies auch ein Spiegel für die Interessen der vielzitierten Generation Y.