Über die Erfahrung der Einheit von Theorie und Stil

Seit psy­cho­lo­gisch begrün­de­te Inter­ven­tio­nen immer mehr zum „Pro­dukt“ wer­den, kann in vie­len Publi­ka­tio­nen eine gewis­se „Ent­klei­dung“ der Metho­den beob­ach­tet wer­den – es geht oft nicht mehr um die Theo­rie dahin­ter, son­dern schlicht um den Wir­kungs­zu­sam­men­hang. Was übrig bleibt, ist ein Kata­log mit mehr oder weni­ger brauch­ba­ren Metho­den. Der Weg ist ver­lo­ckend, und ich muss zuge­ben, dass ich ihm für eini­ge Jah­re recht gern gefolgt bin: es geht ja in der Pra­xis häu­fig um eine gute Idee. Zum frag­li­chen Zeit­punkt muss die Intui­ti­on einen Zusam­men­hang zwi­schen vor­ge­fun­de­ner Situa­ti­on und metho­di­schem Erfah­rungs­wis­sen her­stel­len. Viel­leicht denkt man noch ein wenig „um die Ecke“, hat einen Ein­fall, was genau in die­ser Situa­ti­on pas­sen könn­te, und wan­delt eine vor­han­de­ne Metho­de situa­ti­ons­spe­zi­fisch ab oder ent­wi­ckelt aus dem Pro­zess her­aus eine ganz eige­ne, nur für die­se Situa­ti­on pas­sen­de Metho­de. Letz­te­res macht mir gro­ße Freu­de, und manch­mal, wenn es wirk­lich gut gepasst hat, ärge­re ich mich, dass ich die Metho­den nicht auf­ge­schrie­ben habe.

Nach eini­gen Jah­ren, in denen ich vie­le Erfah­run­gen sam­meln konn­te und ich das Gefühl bekam, dass mei­ne Intui­ti­on lang­sam bes­ser wur­de, begann ich zu ahnen, dass da außer Wis­sen, Erfah­rung und Intui­ti­on noch etwas ande­res sein muss­te. Aus­lö­ser war die Begeg­nung mit Edgar Schein, des­sen bestechend kla­re Art, kom­ple­xe Vor­gän­ge in Orga­ni­sa­tio­nen zu ana­ly­sie­ren sowie Model­le und Inter­ven­tio­nen zu ent­wi­ckeln, mich mit der Ehr­furcht eines Schü­lers erfüll­te. Von eini­gen sei­ner Bücher hat­te ich den Ein­druck, sie sei­en kon­se­quen­te Wei­ter­ent­wick­lun­gen der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­psy­cho­lo­gie, ohne so genannt zu wer­den – bis ich begriff, dass die gemein­sa­men Wur­zeln bei Kurt Lewin und Carl Rogers zu suchen sind. Gleich­zei­tig hat­te ich das Gefühl, dass zu einer sol­chen Qua­li­tät des Den­kens mehr als Wis­sen und Erfah­rung gehört. Dann sag­te jemand zu mir: „Hören Sie auf, Bücher aus­zu­quet­schen, fan­gen Sie an zu lesen!“ Zunächst begriff ich gar nichts, dann ärger­te ich mich. Aber mit der Zeit, mit wei­te­ren Erfah­run­gen, zu denen auch zwei grö­ße­re Feh­ler in Bera­tungs­pro­jek­ten gehör­ten, mit dem Schrei­ben die­ses Blogs und mit der Lek­tü­re von Geor­ge Her­bert Mead, Her­bert Blu­mer und immer wie­der Chris Argy­ris und Edgar Schein kam ich lang­sam, zunächst ohne es zu mer­ken, zu einer Art eige­ner „Meta­theo­rie“. Eine sol­che Meta­theo­rie ist weni­ger psy­cho­lo­gisch als viel­mehr phi­los­phisch, sie ist kein Stand­punkt, für den man sich ent­schei­det, und von dem aus man argu­men­tiert, es ist viel­mehr eine Hal­tung, eine Art zu ver­ste­hen und sich Begrif­fe zu machen – eine Art, wie man Wis­sen ent­ste­hen las­sen kann.

Eine der Fol­gen war, dass ich kaum mehr in Metho­den dach­te, son­dern in der Regel zu einer Art „infor­mel­ler Pro­zess­steue­rung“ – am ehes­ten den Begrif­fen der Super­vi­si­on oder der Mode­ra­ti­on nahe­kom­mend – über­ging. Team­ent­wick­lun­gen wur­den nun nicht mehr geplant – es kam auf den Pro­zes­sein­stieg an, der in der Regel aus der Fra­ge: „Wie kann ich hilf­reich sein?“ bestand – der Rest ergab sich wie von selbst. Ob offen mode­rier­ter Aus­tausch, Grup­pen­ar­beit, reflec­ting team, Ein­satz von Auf­stel­lungs­me­tho­den, Fall­re­fle­xi­on oder die Ana­ly­se der Arbeits- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­zes­se – die Metho­de ergab sich in der Regel aus dem Pro­zess selbst. Frei­lich waren Intui­ti­on, Wis­sen und Erfah­rung noch gefragt – aber die „Meta­theo­rie“ lenk­te nun in gewis­ser Wei­se das, was zu gesche­hen hat­te. Stil und (Meta-)Theorie wur­den gewis­ser­ma­ßen zu einer Einheit.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt als Dozent tätig und hatte viele Jahre Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.