Eine unter Psychologen immer wieder sehr kontrovers geführte Debatte betrifft die Frage nach dem Verhältnis zwischen genetischen und umweltbedingten Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Persönlichkeit. Welche Einflüsse stärker sind, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten. Man findet mächtige Belege für beide Einflüsse.
Doch beginnen wir zunächst mit einer Definition: „Persönlichkeit ist die Struktur jener Charakteristika einer Person, die für ein konsistentes Muster bei der Wahrnehmung von Gefühlen, im Denken und Verhalten verantwortlich ist. Persönlichkeit ist das gebündelte Wissen über sich selbst. Es fügt die Wahrnehmung, die Gefühle, das Denken und das Verhalten zusammen und gibt der Person die Gewissheit der Einzigartigkeit und Ganzheit.“ (Grob & Jaschinski 2003, S. 196) Wenn Psychologen vom Begriff der Persönlichkeit sprechen, dann beziehen sie sich also auf zeitlich relativ stabile, individuelle Muster des Erlebens und Verhaltens. Die Psychologie der Persönlichkeit versucht, Annahmen über Struktur und Funktion individueller Persönlichkeiten zu beschreiben. Diese hypothetischen Aussagen erfüllen die Hauptfunktionen von Theorien (Beschreibung, Erklärung und Vorhersage). Persönlichkeitstheorien ermöglichen also das Verständnis der Entwicklung, des Aufbaus und der Eigenschaften individueller Persönlichkeiten und lassen Vorhersagen über die Verhaltensweisen eines Individuums unter bestimmten Bedingungen zu.
Darüber, wie die Persönlichkeit entsteht, streiten sich zwei große Theorieschulen – die eine betont die genetische Festlegung, die andere die Prägung durch die Umwelt.
Genetische Festlegung: Vertreter dieser Perspektive sehen die Persönlichkeit als Ergebnis evolutionärer Prozesse an. Verhaltensweisen wie Altruismus oder das Zeigen von Gefühlen können evolutionär erklärt werden – etwa zur Sicherung der Existenz oder zur Weitergabe der Gene). Der moderate Standpunkt dieser Perspektive lässt sich so zusammenfassen: Weil die Angehörigen einer Art Gene teilen, ähneln sich Verhaltensweisen, bspw. das Sozialverhalten oder das Aufzuchtverhalten. Ein bekannter Vertreter dieser Perspektive ist David Buss. Die radikalere Variante dieser Denkrichtung (bspw. Avshalom Caspi) sieht die Persönlichkeit fast gänzlich durch Gene determiniert.
Prägung durch die Umwelt: Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint Persönlichkeit als Ergebnis der Interaktion eines sich entwickelnden Individuums mit der Umwelt. Verhalten wird als Ergebnis von Erfahrungen und Lernprozessen verstanden (bspw. Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit). Als die wichtigsten Einflussfaktoren der Umwelt wurden die Familie (Eltern, Geschwister), die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur und sozialen Schicht sowie die Interaktion mit Gleichaltrigen identifiziert. (Für diesen und den vorangegangenen Absatz vgl. Grob & Jaschinski 2003, S. 196f.)
Der Unterschied zwischen beiden Sichtweisen wird anhand des Beispiels der Betrachtung von Geschlechterunterschieden bei der neuronalen Verarbeitung sexueller Reize deutlich: Während die Vertreter der genetischen Festlegung die Bedeutung des Selektionsprozesses betonen, heben die Verfechter des Umwelteinflusses die Bedeutung des Sozialisationsprozesses hervor.
Selektion: Die Geschlechter unterscheiden sich in Bezug auf die Art und das Ausmaß der
„Investition“ in die Fortpflanzung. Dementsprechend sollte das Geschlecht mit der geringeren Investition bezüglich der Partnerwahl und ‑werbung wettbewerbsorientierter, sexuell leichter erregbar und insgesamt motivierter in Bezug auf sexuelle Aktivität sein, wofür sich Belege finden lassen: Angehörige des biologisch männlichen Geschlechts reagieren stärker auf visuelle sexuelle Reize als Angehörige des weiblichen Geschlechts, die sich aufgrund der ungleich höheren Investition weniger an visuellen Reizen, sondern mehr an „langfristigeren Aspekten“ wie sozialem Status, genetischer Fitness, Fähigkeit zu langfristigen Bindungen orientieren.
Sozialisation: Die soziale Konstruktion der Sexualität wird hier als der bestimmende Faktor für Geschlechterunterschiede angesehen. Unterschiede in der Verarbeitung sexueller Reize entstehen deshalb, weil eine Person im Laufe des Lebens verschiedene
Assoziationen zwischen positiven oder negativen Gefühlen und sexuellen Reizen lernt. Eine sehr konsequente Interpretation dieses Ansatzes: Frauen und Männer sollten in gleicher Weise auf sexuelle Reize reagieren, wenn sie die gleiche Geschichte positiver oder negativer Orientierungen in Bezug auf Sexualität erlebt haben. (Für diesen und den vorangegangenen Absatz und für Belege zu der im ersteren Absatz dargestellten „Investitionshypothese“ siehe Hamann 2006, S. 185f.)
Die einschlägige Forschung liefert, wie bereits erwähnt, Belege für beide Perspektiven.
Beispiele aus der Forschung zu genetischen Dispositionen:
- Bereits bei Neugeborenen lassen sich vier grundlegende Temperamentsmerkmale beobachten (Irritierbarkeit durch äußere Einflüsse & Fähigkeit zur Selbstberuhigung; Positive Grundstimmung vs. Ängstlichkeit & Vermeidung; Ausmaß der Aktivität; Aufmerksamkeit & Selbstregulation; vgl. Rothbart & Bates 1998; hier dargestellt nach Grob & Jaschinski 2003, S. 200).
- Von dem Gen, das den Serotonin-Transporter „5‑HTT“ kodiert, gibt es eine kurze und eine lange Version. 5‑HTT wurde nach seiner Aufgabe benannt – es soll den Neurotransmitter Serotonin (5‑Hydroxytryptamin; kurz 5‑HT) im Gehirn transportieren. Menschen, die von ihren Eltern die beiden langen Versionen geerbt haben, reagieren weniger ängstlich auf aversive Reize als Menschen, die eine kurze oder gar zwei kurze Versionen geerbt haben. Letztere werden durch heftige emotionale Erfahrungen noch sensibler, während erstere eher noch stabiler werden. (Vgl. Canli 2007; Caspi et al. 2003; Hariri et al. 2002)
Beispiele aus der Forschung zu Umwelteinflüssen:
- Familie: Kinder depressiver Eltern sind anfälliger für Angststörungen als Kinder psychisch gesunder Eltern.
- Gleichaltrige: Geringe Akzeptanz in der Gruppe sowie fehlende Freundschaften erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Angststörungen, was zu einem Kreislauf führt: Isolation und Ablehnung führen zu Ängstlichkeit und Ängstlichkeit vermindert die Fähigkeit, Bindungen einzugehen. (Vgl. Grob & Jaschinski 2003, S. 187)
Abschließend sei am Beispiel der Borderline-Störung dargelegt, dass bei vielen Persönlichkeitseigenschaften – insbesondere aber bei psychischen Erkrankungen – genetische und soziale Einflüsse zusammenwirken. So zeigen Untersuchungen an eineiigen Zwillingen, dass wenn einer der beiden an einer Borderline-Störung leidet, der andere mit einer Wahrscheinlichkeit von 55% ebenfalls von dieser Störung betroffen ist, was für einen starken genetischen Einfluss spricht. Andererseits begünstigen Kindesmisshandlung und Vernachlässigung die Entstehung von Borderline-Störungen. So berichten 60% der weiblichen Patienten von Mißbrauch, was für starke Umwelteinflüsse spricht. (Vgl. PDF-Dokument „Borderline-Persönlichkeit“)
Quellen:
Canli, T. (2007): Der Charakter-Code. In: Gehirn und Geist. Jahrgang 2007; Nr. 9
Carlson, N. (2004): Physiologische Psychologie. München: Pearson Studium
Caspi, A. et al. (2003): Influence of Life Stress on Depression: Moderation by a Polymorphism in the 5‑HTT Gene. In: Science 301, S. 386–389
Grob, A. & Jaschinski, U. (2003): Erwachsen werden: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Weinheim: Beltz PVU
Hamann, S. (2006): Sex Differences in Neural Responses to Sexual Stimuli in Humans. In: T. Canli (Ed.): Biology of personality and individual differences. New York: Guilford Press
Hariri, A. R . et al. (2002): Serotonin Transporter Genetic Variation and the Response of the Human Amygdala. In: Science 297, S. 400–403
Hennig, J. & Netter, P. (Hrsg.) (2005): Biopsychologische Grundlagen der Persönlichkeit. München: Elsevier
PDF-Dokument „Borderline-Persönlichkeit“ In: Internetpräsenz der Zeitschrift Gehirn und Geist. (Abgerufen: 28.01.2012)