Weil wir es können

Fragt man sich, was Men­schen antreibt, so geht der Blick gegen­wär­tig bei­na­he auto­ma­tisch in Rich­tung Psy­cho­lo­gie. Die­se Dis­zi­plin hat wie kei­ne zwei­te das The­ma Moti­va­ti­on für sich in Beschlag genom­men. Über die empi­risch mit­un­ter sehr gut fun­dier­ten Theo­rien hin­aus stellt sich mir aber immer wie­der die Fra­ge, ob es nicht die eine oder ande­re eher anthro­po­lo­gi­sche Kon­stan­te gibt, die wir beim The­ma Moti­va­ti­on über­se­hen – gera­de als ob uns die eher auf den ein­zel­nen Men­schen gerich­te­te Psy­cho­lo­gie regel­recht den Blick für man­che Zusam­men­hän­ge verstellte.

Eine die­ser wirk­lich inter­es­san­ten und man­che Pro­ble­me recht erhel­len­den anthro­po­lo­gi­schen Kon­zep­te ist die Theo­rie der sich über Gene­ra­tio­nen hin­weg ver­än­dern­den Grund­li­ni­en des mensch­li­chen Den­kens.

Der ande­re, von der Psy­cho­lo­gie weit­hin über­se­he­ne Moti­va­ti­ons­fak­tor lässt sich am Ehes­ten mit der Umschrei­bung „Weil wir es kön­nen“ fassen.

Zuerst habe ich davon bei Jon Kra­kau­er gele­sen, der sich in sei­nem Buch über eine kata­stro­phal miss­lun­ge­ne Mount-Ever­est-Expe­di­ti­on gefragt hat, war­um Men­schen unter gro­ßen Anstren­gun­gen und Gefah­ren in sol­che defi­ni­tiv lebens­feind­li­chen Umge­bun­gen vor­sto­ßen – und dies nicht nur zu Weni­gen, son­dern mitt­ler­wei­le zu Hun­der­ten und Tau­sen­den. Die lapi­da­re – und zunächst ver­stö­ren­de – Ant­wort lau­tet: weil wir es können.

Mit die­sem Satz macht auch ein Erleb­nis Sinn, das ich ein­mal als Stu­dent hat­te und das mir lan­ge ein Rät­sel war. Bei einer Par­ty fand ich mich in einer Run­de von Stu­den­ten wie­der, die ich kaum kann­te. Ich war damals in eine Dame aus dem betref­fen­den Jahr­gang ver­liebt, wes­halb ich mich sehr gern auf die­se Par­ty hat­te ein­la­den las­sen, obwohl ich kaum jeman­den kann­te. Man unter­hielt sich über die gera­de absol­vier­ten Prak­ti­ka. Bei den in der gemüt­li­chen Küchen­run­de aus­ge­tausch­ten Geschich­ten beschlich mich irgend­wann das Gefühl, dass es gar nicht um die Jobs oder die Erfah­run­gen an und für sich ging, son­dern eher dar­um, wer wei­ter weg bzw. an mög­lichst unge­wöhn­li­chen Orten gear­bei­tet hat­te. Das Prak­ti­kum im Süden Frank­reichs ver­blass­te vor dem in Ecua­dor. Dann wuss­te aber jemand „Tokio“ zu sagen, was wie­der­um eine Stei­ge­rung dar­stell­te. Als mich das The­ma zu ner­ven begann, gab ich mit ein paar Jah­ren Flücht­lings­ar­beit im ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­en an, was die Dis­kus­si­on been­de­te. In jenem Moment ging es mir wohl dar­um, die jun­ge Dame zu beein­dru­cken; im Nach­hin­ein dach­te ich aber immer wie­der mit vie­len Fra­ge­zei­chen an die­se Situa­ti­on zurück.

Es wäre pro­blem­los mög­lich, wei­te­re Bei­spie­le sol­cher Geschich­ten auf­zu­zäh­len. Anstatt in den Urlaub zu fah­ren und Land und Leu­te ken­nen­zu­ler­nen, sprin­gen wir von Besu­cher­ma­gnet zu Besu­cher­ma­gnet oder von Event zu Event, machen Fotos, has­ten wei­ter. Damit ein­her­ge­hend: manch­mal erwi­schen wir uns, wie wir, wenn wir ein­mal plötz­lich nichts zu tun haben, regel­recht erstar­ren. Well­ness-Hotels sind Orte, an denen sich das gut beob­ach­ten lässt: gera­de eben beweg­te sich der Geschäfts­füh­rer-A6 noch mit 190 Sachen über die Auto­bahn, dann wird gebremst, ein­ge­parkt, aus­ge­la­den, der Modus gewech­selt, sich auf den Lie­ge­stuhl gelegt… Und dann? Nichts.

Oder was?

War­um ist das so? War­um ren­nen wir regel­recht, nur um qua­si „in der Eile zu erstar­ren“? Mit den her­kömm­li­chen Moti­va­ti­ons­theo­rien ist das Phä­no­men allent­hal­ben nur teil­wei­se zu erklä­ren. Man könn­te etwas über Sta­tus­be­dürf­nis­se usw. erzäh­len, aber das reicht mei­nes Erach­tens nicht aus. Gera­de die ste­te Stei­ge­rung des­sen, was wir pro Zeit­ein­heit schaffen/konsumieren/entspannen etc. kön­nen, stellt mich vor die Fra­ge, was die­sen Mecha­nis­mus ver­ur­sacht. Klar: indi­vi­du­ell bzw. psy­cho­lo­gisch erklärt bin ich beim Sta­tus­be­dürf­nis und beim sozia­len Ver­gleich – was der ande­re hat, will ich auch, gern auch mehr. Aber das erklärt noch nicht, war­um auch Men­schen, die erklär­ter­ma­ßen anders sein und han­deln wol­len, eben­falls mitmachen.

„Wir flie­gen übers Wochen­en­de mal eben nach Dubrov­nik und anschlie­ßend nach Buda­pest. Dubrov­nik ist für die Roman­tik und in Buda­pest tref­fen wir Freun­de auf einem Fes­ti­val. Mitt­woch sind wir wie­der da, dann geht der neue Job los.“ – Ori­gi­nal­zi­tat einer jun­gen, sich sehr für das The­ma Nach­hal­tig­keit enga­gie­ren­den Kol­le­gin aus dem ver­gan­ge­nen Sommer.

Was ist da passiert?

Mit den Mög­lich­kei­ten wach­sen die Ansprü­che, könn­te man sagen. Aber das unter­stellt eine gewis­se Absicht. Ansprü­che haben auf den ers­ten Blick etwas Absichts­vol­les. Aber genau das möch­te ich bezwei­feln. Die absichts­vol­len Über­le­gun­gen sind in der Regel ver­ständ­lich und gut. War­um soll man 2000 Kilo­me­ter mit dem Auto fah­ren, wenn man die frag­li­che Stre­cke in weni­gen Stun­den – und güns­ti­ger – flie­gen kann? Und sol­len wir nicht auf Work-Life-Balan­ce ach­ten, gera­de in Zei­ten schnel­ler wer­den­der Abläu­fe und wach­sen­der Belas­tun­gen? Ja, all das klingt ver­nünf­tig. Und war­um soll­te es wie frü­her ein Pri­vi­leg weni­ger Men­schen sein, bestimm­te Rei­sen machen zu kön­nen? Nun, die Pri­vi­le­gi­en der Weni­gen haben sich seit­her auch wei­ter­ent­wi­ckelt. Man bli­cke dazu nur ein­mal in die Yacht­hä­fen des Mittelmeers.

Es ist ein Kreis­lauf zwi­schen Bedürf­nis­sen und Mög­lich­kei­ten, in dem es unbe­wusst dar­um geht, was mög­lich ist und nicht so sehr dar­um, was nötig ist. Wir tun vie­les, weil wir es kön­nen, nicht, weil wir es brau­chen. Und es ist oft nicht der sozia­le Ver­gleich aus den psy­cho­lo­gi­schen Moti­va­ti­ons­theo­rien, son­dern viel eher der an und für sich begrenz­te Hori­zont des Den­kens – denn unse­re Ent­schei­dun­gen sind in der Regel ver­nünf­tig oder las­sen sich zumin­dest recht ein­fach argu­men­ta­tiv zurecht­bie­gen (Reduk­ti­on kogni­ti­ver Dis­so­nanz). Es wer­den nur ins­ge­samt immer mehr sol­cher Ent­schei­dun­gen. Nicht nur die Zahl der Men­schen steigt, son­dern auch das, was man mög­lich­wei­se als „Schlag­zahl pro Indi­vi­du­um“ bezeich­nen könnte.

Wir müss­ten uns fra­gen: Was brau­che ich?

Aber da wir vie­le frü­her bin­den­den Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten – bspw. den Kir­chen­be­such am Sonn­tag ein­schließ­lich der (oft wir­kungs­lo­sen) Erin­ne­rung ans Maß­hal­ten – abge­schafft haben, sind vie­le von uns regel­recht auf sich selbst zurück­ge­wor­fen. „Ich ent­schei­de. Ich bin glück­lich, weil ich ent­schei­de. Ich mache die Din­ge nur, wenn ich sie machen will. Ich tue nichts, das ich nicht möch­te.“ So oder so ähn­lich hört sich das dann in der Pra­xis an. Vie­le der heu­ti­gen Men­schen leben so. Nicht zuletzt ich selbst.

Frü­her war das ein­mal ein befrei­en­der Gedan­ke – raus aus den Fami­li­en­ge­fäng­nis­sen und Zwangs­sys­te­men, weg von der gru­se­li­gen, oft genug gewalt­schwan­ge­ren und regel­recht „ein­mah­len­den“ Erzie­hung frü­he­rer Jahr­zehn­te. (Gro­ßen Tei­len der Psy­cho­lo­gie wohnt die­ser „eman­zi­pa­to­ri­sche Impuls“ inne.)

Hin zu? Ja genau: Wohin soll­te die Rei­se noch­mal gehen?

Es soll­te eine Befrei­ung des Men­schen wer­den, eine Welt ohne Druck, ohne gleich­sam „gestanz­te“, lebens­lang in Rol­len gezwun­ge­ne Men­schen. Anstel­le des­sen sind wir, fürch­te ich, ins Schla­raf­fen­land der Ego­ma­nen unter­wegs – weil wir es können.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt als Dozent tätig und hatte viele Jahre Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.