Es gibt eine ganze Reihe von Situationen, die den meisten Menschen nie oder nur sehr selten passieren, im Berufsleben von Polizisten aber durchaus vorkommen, und die das Potential haben, psychische Belastungserscheinungen zu verursachen. Zu diesen Situationen gehören insbesondere:
- der Tod von Kollegen (Im Schnitt erlebt ein Polizeibeamter einmal im Laufe seiner Dienstzeit den Suizid eines Kollegen oder einer Kollegin.),
- die Bedrohung bzw. Gefährdung des eigenen Lebens und
- die Überbringung von Todesnachrichten (Bspw. waren in 2004 über 30.000 Todesnachrichten zu überbringen.) (Vgl. Lasogga 2016, S. 180)
Im Folgenden wird das Überbringen von Todesnachrichten ausführlicher dargestellt. Als Grundlage der Darstellungen dienen die entsprechenden Texte von Lasogga (2016, S. 204f.) und Rosenberg (2016). Insbesondere den letztgenannten Text möchte ich als beispielhaft hervorheben. Er stammt zwar nicht aus dem polizeilichen Kontext, ist aber hervorragend geschrieben und lässt sich m. E. recht einfach übertragen.
Mindestens genauso wichtig wie die Beachtung einiger Regeln beim Überbringen der Nachricht selbst ist die Vorbereitung. Gehen Sie in einen Raum, in dem Sie allein sind und in dem es einen Spiegel gibt. Zur Not tut es das Dienstfahrzeug. Schauen Sie sich im Spiegel an und sagen Sie mehrfach laut den Namen der Person, der Sie die Nachricht überbringen werden, und der Person, die gestorben ist. Formulieren Sie dann diejenigen Sätze, die Sie in dem Moment sagen werden, in dem Sie die Nachricht überbringen: „Frau …, ich habe schlimme Nachrichten. … ist heute gestorben.“ Nehmen Sie sich Zeit und wiederholen Sie diese Sätze, bis Sie sich vorbereitet fühlen. Dieses Gefühl werden Sie erkennen. Sprechen Sie nach dieser Übung, wenn es geht, wenig und telefonieren Sie nicht. Sie sind jetzt vorbereitet, „eingestellt“. Lassen Sie sich zum Zielort fahren. Nehmen Sie unbedingt eine Kollegin oder einen Kollegen mit – Sie überbringen zwar die Nachricht, aber machen Sie das bitte nicht allein. Überbringen Sie Todesnachrichten niemals telefonisch.
„Zuerst holst du deinen Kittel. Es interessiert mich nicht, wenn du nicht mehr weißt wo du ihn liegen gelassen hast, du findest ihn. Wenn viel Blut im Spiel war bittest du jemanden, schnell in den Keller zu gehen und dir einen neuen Kittel zu holen. Du ziehst deinen Kittel an und gehst zur Toilette. Du schaust in den Spiegel und du sagst es. Du benutzt den Namen der Mutter und du benutzt den Namen ihres Kindes. Du darfst diesen Teil auf keinen Fall verändern.
Ich zeige es dir: Wenn es meine Mutter wäre, würdest du sagen: ‚Frau Rosenberg. Ich habe ganz schreckliche Nachrichten. Naomi ist heute gestorben.‘ Du sagst es laut bis du es klar und deutlich sagen kannst. Wie laut? Laut genug. Wenn du weniger als fünf Versuche brauchst, dann machst du es zu schnell und wirst es nicht richtig machen. Du nimmst dir die Zeit, die du brauchst.
Nach der Toilette tust du nichts bevor du zu ihr gehst. Du telefonierst nicht, du sprichst nicht mit dem Medizinstudenten, du schaffst keine Ordnung. Du lässt sie niemals warten. Sie ist seine Mutter.
Wenn du in den Raum kommst, wirst du wissen wer die Mutter ist. Ja, da bin ich mir ganz sicher. Gib ihr die Hand und sag ihr wer du bist. Wenn du Zeit hast, gibst du jedem die Hand. Ja, du wirst wissen ob du Zeit hast. Du stehst niemals. Wenn kein Platz mehr frei ist, dann haben die Sofas auch Armlehnen.“ (Rosenberg 2016)
Stellen Sie sicher, dass Sie die richtige Person ansprechen, auch wenn die angesprochene Person bei der Frage, ob sie … ist, vielleicht ahnt, dass eine schreckliche Nachricht auf sie zukommt. Verwenden Sie kurze und einfache Sätze. Bereiten Sie Ihr Gegenüber auf eine „schlimme“ oder „schreckliche Nachricht“ vor. Verwenden Sie anstelle „ermordet“ oder „verunglückt“ immer „gestorben“. Sagen Sie nie „Leiche“ sondern „Ihr Mann“ oder „Ihre Tochter“. Und es handelt sich in diesem Fall auch nicht um eine „Obduktion“, sondern um eine „Untersuchung“. Bringen Sie vorher so viele Informationen wie möglich in Erfahrung, um mögliche Fragen zu beantworten. Lügen Sie nicht, sagen Sie aber nichts, nach dem Sie nicht gefragt werden. Nehmen Sie sich Zeit. Planen Sie mindestens 30 Minuten, besser eine bis zwei Stunden ein. Sie werden merken, wann Sie wieder gehen können.
Versuchen Sie, Blickkontakt zu halten. Schauen Sie weg und sehen Sie wieder hin. Auch wenn das schwer ist. Sehen Sie wieder hin. Sie sind das „Echo“, das „Gegenüber“ des Moments, in dem der (mögliche) Schock stattfindet. Nicht Sie als Person sind hier gefragt. Sie können ohnehin nichts „machen“. Ihre Präsenz ist gefragt. Das ist ein Unterschied: Sie sollen nichts „machen“, sondern Sie sollen die Nachricht überbringen und anschließend „da“ sein, gegebenenfalls Fragen beantworten. Bleiben Sie ruhig und seien Sie da. Das reicht. Schauen Sie hin. Warten Sie. Schauen Sie weg. Zählen Sie die Sekunden, beobachten Sie irgendwelche Muster auf der Tischdecke oder zählen Sie die Vögel, die am Fenster vorbei fliegen. Schauen Sie wieder hin. Atmen Sie. Seien Sie da. Es ist nicht schlimm, wenn 30 Sekunden oder länger nichts gesagt wird. Sie hören dann schon die Frage. Dann können Sie wieder loslegen. Dann haben Sie wieder etwas zu tun. Faustregel: alles, was stabilisiert, ist hilfreich. Nach Suiziden sind „Schuldfragen“ der Angehörigen zugunsten der Fragenden zu beantworten: „Nein, ich denke nicht, dass Sie Schuld haben.“
Sprechen Sie in Hauptsätzen und seien Sie da. Richten Sie die Aufmerksamkeit nach dem unmittelbaren Schock zunächst auf die Fragen der Angehörigen. Noch einmal: lügen Sie nicht, aber sagen Sie nur das, worum Sie wirklich gebeten werden. Auch wenn das nach Ihrem Gefühl zu halben Wahrheiten führt. Es ist nicht „Ihre Wahrheit“ und es geht auch nicht um „objektive Wahrheit“. Es geht um das, was in so einem Moment hilfreich ist. Richten Sie Ihr Augenmerk auf ganz praktische Dinge. Es geht bei der Bewältigung von Krisen um die unmittelbaren nächsten Schritte. Während das Bewusstsein eines Menschen unter Schock steht, hilft die Thematisierung ganz praktischer Dinge, die nächsten Schritte zu machen bzw. zu planen. Die (unausgesprochene und auch nicht auszusprechende, schon gar nicht von Ihnen!) stabilisierende Erfahrung der Betroffenen: es gibt Schritte zu gehen, Dinge zu tun.
„Du wirst entscheiden müssen, ob du sie fragst was sie bereits weiß. Wenn du sie angerufen hast und ihr gesagt hast, dass ihr Sohn angeschossen wurde, dann hast du bereits einen Teil erledigt, aber du bist noch nicht fertig. Du wirst es jetzt machen. Du lässt sie niemals warten. Sie ist seine Mutter. Jetzt lässt du die Welt einstürzen. Ja, du musst. Du sagst so etwas wie: ‚Frau Schmidt. Ich habe ganz schreckliche Nachrichten. Thomas ist heute gestorben.‘
Dann wartest du.
Du stehst nicht auf. Du kannst dich auf die Schwere deines Atems oder das Rasen deines Pulses oder den Anblick deiner Schnürsenkel an deinem Schuh konzentrieren, doch du stehst nicht auf. Du bist für sie da. Sie ist seine Mutter.
Wenn die Mutter einen anderen Sohn dabei hat und er ein Loch in die Wand geschlagen oder den Stuhl zerschlagen hat, mach dir keine Gedanken. Der, der ein Loch in die Wand geschlagen oder den Stuhl zerschlagen hat, wird besser sein als der, der nach unten schaute und sich weigerte zu weinen. Der, der ein Loch in die Wand geschlagen oder den Stuhl zerschlagen hat, wird viel einfacher sein, als die Schwester, die nach oben sieht und ihre Augen schließt, während sie sich mit Tränen füllen.“ (Rosenberg 2016)
Sie werden es mit den Reaktionen der Betroffenen zu tun bekommen, wobei das Spektrum von starken emotionalen Reaktionen bis hin zur Leugnung reichen kann. Beides sind Trauerepisoden, wobei die unmittelbare Reaktion als „direktere“ Trauerreaktion verstanden werden kann und die „stoische Leugnung“ dafür spricht, dass die betreffende Person womöglich einen längeren Trauerweg zu gehen haben wird. Aber das tut nichts zur Sache: beide Reaktionen sind natürlich und verständlich, und es ist nicht an Ihnen, die Reaktionen in Frage zu stellen. Wenn jemand regelrecht zusammenbricht, sollten Sie fragen, was oder wen die betreffende Person jetzt braucht. Wenn niemand zum Umarmen da ist, aber eine Umarmung hilfreich wäre, übernehmen Sie das – aber bitte nur von Mann zu Mann oder Frau zu Frau und auch nur, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen. Es ist deshalb gut, wenn Todesnachrichten von einer Polizistin und einem Polizisten überbracht werden.
Es gibt noch eine dritte, aber seltenere Gruppe von Reaktionen. Die Betroffenen reagieren dann sehr gelassen – die Nachricht trifft sie nicht nur scheinbar nicht, sondern tatsächlich nicht. Das ist der Fall, wenn die Angesprochenen ihren Trauerprozess bereits bewältigt haben – etwa indem sie sich Jahre vorher schon losgesagt oder anderweitig abschließend von der gestorbenen Person getrennt haben.
Manchmal gibt es Fragen, die Sie mit Nein beantworten müssen oder zu denen Sie keine Auskunft geben dürfen. Bleiben Sie dann – ebenso sanft wie konsequent – bei Ihrer Version der Dinge. Sätze wie „Dazu kann und möchte ich Ihnen nichts sagen.“ tun, wenn Sie wiederholt (Drei Mal muss nicht genug sein!) und ruhig vorgetragen werden, irgendwann ihre Wirkung. Lassen Sie sich von der emotionalen Situation an dieser Stelle nicht mitreißen. Von Ihnen wird ruhige Präsenz und Sicherheit im Auftreten erwartet. Verdeutlichen Sie, wie der Gang der Dinge ist. Wiederholen Sie das in anderen Worten bei der gleichen Frage noch einmal. Lenken Sie die Aufmerksamkeit auf praktische Dinge, auf die nächsten zu gehenden Schritte.
„Wenn sie dich fragt, wirst du ihr erzählen, was du weißt. Du lügst nicht. Aber sag nicht, dass er ermordet oder getötet wurde. Ja, ich weiß, dass er es wurde, aber das wirst du nicht sagen. Du sagst, dass er gestorben ist; das ist der Teil, bei dem du dabei warst und den du kennst. Wenn sie fragt, ob er Schmerzen hatte, musst du sehr vorsichtig sein. Wenn nicht, versicherst du es ihr schnell. Wenn ja, lügst du nicht. Aber sein Schmerz ist jetzt vorbei. Sag niemals, dass er Glück hatte, dass er keine Schmerzen hatte. Er hatte kein Glück. Sie hat kein Glück. Mach nicht dieses Gesicht. Das Ausmaß der Blödheit der Dinge, die du manchmal sagen wirst, ist unvorstellbar.
Bevor du gehst, brichst du ihr noch einmal das Herz. ‚Nein, es tut mir sehr leid, aber Sie können ihn nicht sehen. Wenn eine Person auf diese Weise stirbt, gibt es strenge Vorschriften und die Polizei muss ihn zuerst sehen. Wir können Sie nicht reinlassen. Es tut mir so leid.‘ Du sagst niemals ‚die Leiche‘. Es ist keine Leiche. Es ist ihr Sohn. Du möchtest ihr sagen, dass du weißt, dass er ihrer war. Aber sie weiß das und braucht dich nicht, um es ihr zu sagen. Stattdessen sagst du ihr, dass du ihr Zeit gibst und dass sie wiederkommen kann, falls sie Fragen hat. Mehr Fragen oder erste Fragen. Wenn sie keine Fragen hat, gibst du ihr nicht die Antworten auf die Fragen, die sie nicht gestellt hat.“ (Rosenberg 2016)
Lassen Sie eine Person nach dem Überbringen einer Todesnachricht nach Möglichkeit nicht allein. Warten Sie notfalls so lange, bis Angehörige, Freunde oder Geistliche eingetroffen sind.
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Die Zitate stammen aus einem Gastbeitrag mit dem Titel „How to Tell a Mother Her Child is Dead“ in der New York Times vom 3. September 2016. Die Autorin, Naomi Rosenberg, ist Ärztin in der Notaufnahme am Temple University Hospital in Philadelphia (USA). Die hier zitierten Passagen des Originalbeitrags wurden zum Zwecke der Darstellung in diesem Beitrag übersetzt. Hier finden Sie den Originalbeitrag.