Wird von Wissen gesprochen, dann geht es häufig um etwas, das man mit Worten beschreiben oder in Formeln darstellen kann. Dieses Wissen, so meint man, könne man speichern, um es anderen zugänglich zu machen. Solange es um Formeln oder Beschreibungen geht, mag das stimmen. Aber es stimmt nicht für den Umgang mit Menschen.
Kürzlich wurden wir von einer Schule eingeladen, mit dem Kollegium einen Tag zum Umgang mit Verhaltensstörungen bei Schülern zu gestalten. Wir entschieden uns, mit einer Reihe von Fallstudien zu arbeiten. Zunächst stellten wir einen Fall vor, in dem unser Team einige gruppendynamische Interventionen zur Verbesserung des Klassenklimas und der Disziplin durchgeführt hatte. Die wesentlichen Ergebnisse und Erkenntnisse unserer Arbeit an dem Fall waren:
- In der Arbeit mit Schülern wurden einige Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Entwicklung zu wenig berücksichtigt. So schien es uns, dass die Schüler viel zu wenig Bewegung hatten. Der menschliche Körper ist entwicklungsgeschichtlich vor allem auch ein Bewegungsapparat. Unsere heutigen zumeist urbanen und medialen Umgebungen sind insofern für die menschliche Entwicklung nicht optimal. Dieser Umstand trägt in gravierender Weise zur Entstehung von Hyperaktivitätsstörungen bei. Wie sonst ist die explosionsartige Vervielfachung der Ritalin-Verschreibungshäufigkeit seit Anfang der Neunziger Jahre zu erklären?
- Weiterhin fiel uns auf, dass Lehrer oft nicht die ihrer Rolle innewohnende Verantwortung übernehmen. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist – ebenso wie die zwischen Eltern und Kindern – eine hierarchische. Radikalkonstruktivistische Positionen wie die, dass Eltern oder Lehrer Partner auf gleicher Augenhöhe seien, blenden elementare Grundsätze der menschlichen Entwicklung aus und gehen in der Praxis fehl, wie Winterhoff eindrucksvoll schildert. Lehrer sollten sich also ihrer Führungsverantwortung (auch gegenüber Eltern) und ihrer Vorbildfunktion bewusster werden.
Nach der Diskussion unseres Falls erfolgte die Schilderung eines authentischen Falls, der in der betreffenden Schule aufgetreten war (Klasse mit ausgeprägten Problemen bei Disziplin, Konzentration und Lernmotivation). Zur Lösung der Fallaufgabe schlugen wir eine Methode vor, die sich aus Elementen des Reflecting Team und Ed Scheins “Lagerfeuer-Übung” zusammensetzte: Eine Gruppe interessierter Lehrer nahm an einem dafür vorbereiteten Tisch (“Innenkreis”) Platz, während die übrigen Lehrer an ihren angestammten Tischen (“Außenkreis”) verblieben. Die Lehrer am Arbeitstisch sollten die Frage “Was tue ich, wenn ich in dieser Klasse der Klassenlehrer bin?” beantworten und dabei die ganze Zeit über in ein imaginäres Lagerfeuer (dargestellt durch einige Stifte) schauen und sich nicht gegenseitig ansehen. Nach etwa zwanzig Minuten war der Fall gelöst. Die fallgebende Lehrerin zog das Fazit, sie hätte durch diese Diskussion genügend Motivation und Ideen, die Situation anzugehen. Einige der beteiligten Lehrer als auch mehrere Beobachter meinten, sie hätten noch keine Diskussion erlebt, die so schnell zu einem konstruktiven Ergebnis geführt habe. Die “Lagerfeuer-Übung” dient eigentlich dazu, in Teams und Unternehmen mit hohen dynamischen Anforderungen und unterschiedlichen mikro- und makrokulturellen Hintergründen eine gemeinsame kulturelle Grundlage zu schaffen. Edgar Schein selbst verweist bei der Erläuterung der Methode auf anthropologische Erkenntnisse: die Lagerfeuer-Situation kann als eine der Urformen menschlicher Kommunikation angesehen werden. Die Weisen eines Dorfes versammeln sich und besprechen ein Problem. Das Eigentümliche an der Situation ist, dass man die Aufmerksamkeit auf das Feuer richtet und weniger auf die anderen anwesenden Personen. Mit der Lagerfeuer-Übung macht man sich diese Eigentümlichkeit zunutze, indem man gleichsam die Wirkung des Blicks in die Augen (die manchmal zu “Waffenkammern” werden) der anderen verhindert und damit der Kommunikation einige der nonverbalen Störgrößen nimmt und gruppendynamische Verzerrungsprozesse (Gruppendenken etc.) verringert. Im Regelfall, so zeigen unsere Erfahrungen mit dieser Methode, verläuft die Kommunikation konstruktiver und Lösungen werden wesentlich schneller gefunden.
Nach der Lösung dieses Falls wurde von einigen Teilnehmern die Frage vorgetragen, wo denn der “eigentlich geplante Inhalt” der Veranstaltung bleibe. Man habe erwartet, Strategien für den Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten zu bekommen. Die nun folgende Diskussion war interessant: ein größerer Teil der Anwesenden war der Meinung, dass gerade dies eben passiert sei, als man den Fall gelöst habe. Ein kleinerer Teil war überhaupt nicht dieser Ansicht und verlangte die Vermittlung entsprechenden Wissens.
Genau an dieser Stelle entfachen sich viele Diskussionen, nicht nur in Schulen, sondern auch in Unternehmen. Wissen, das den Umgang mit Menschen betrifft, kann man nicht zu einfachen Rezepten zusammenfassen oder als checklistenartige Verhaltensstrategie speichern. Wohl gibt es psychologische Erklärungsversuche analog der oben dargestellten Punkte. Aber was wirklich hilft, ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Wissen kann in solchen Fällen also nur kaum oder gar nicht in Form von Vorträgen weitergegeben oder in Datenbanken gespeichert werden. Vielmehr geht es darum, geeignete Kommunikationsszenarien zu schaffen, die eine fallspezifische Anwendung des Wissens ermöglichen.
Vielen DAnk für diesen interessanten Beitrag! Die “Lagerfeuer”-Übung ist ein sehr praktisches Instrument, dass viele verschlossene Türen öffnen kann.