Der fehlende Blick: über Wissen, das den Umgang mit Menschen betrifft

Wird von Wis­sen gespro­chen, dann geht es häu­fig um etwas, das man mit Wor­ten beschrei­ben oder in For­meln dar­stel­len kann. Die­ses Wis­sen, so meint man, kön­ne man spei­chern, um es ande­ren zugäng­lich zu machen. Solan­ge es um For­meln oder Beschrei­bun­gen geht, mag das stim­men. Aber es stimmt nicht für den Umgang mit Menschen.

Kürz­lich wur­den wir von einer Schu­le ein­ge­la­den, mit dem Kol­le­gi­um einen Tag zum Umgang mit Ver­hal­tens­stö­run­gen bei Schü­lern zu gestal­ten. Wir ent­schie­den uns, mit einer Rei­he von Fall­stu­di­en zu arbei­ten. Zunächst stell­ten wir einen Fall vor, in dem unser Team eini­ge grup­pen­dy­na­mi­sche Inter­ven­tio­nen zur Ver­bes­se­rung des Klas­sen­kli­mas und der Dis­zi­plin durch­ge­führt hat­te. Die wesent­li­chen Ergeb­nis­se und Erkennt­nis­se unse­rer Arbeit an dem Fall waren:

  1. In der Arbeit mit Schü­lern wur­den eini­ge Gesetz­mä­ßig­kei­ten der mensch­li­chen Ent­wick­lung zu wenig berück­sich­tigt. So schien es uns, dass die Schü­ler viel zu wenig Bewe­gung hat­ten. Der mensch­li­che Kör­per ist ent­wick­lungs­ge­schicht­lich vor allem auch ein Bewe­gungs­ap­pa­rat. Unse­re heu­ti­gen zumeist urba­nen und media­len Umge­bun­gen sind inso­fern für die mensch­li­che Ent­wick­lung nicht opti­mal. Die­ser Umstand trägt in gra­vie­ren­der Wei­se zur Ent­ste­hung von Hyper­ak­ti­vi­täts­stö­run­gen bei. Wie sonst ist die explo­si­ons­ar­ti­ge Ver­viel­fa­chung der Rital­in-Ver­schrei­bungs­häu­fig­keit seit Anfang der Neun­zi­ger Jah­re zu erklären?
  2. Wei­ter­hin fiel uns auf, dass Leh­rer oft nicht die ihrer Rol­le inne­woh­nen­de Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Die Leh­rer-Schü­ler-Bezie­hung ist – eben­so wie die zwi­schen Eltern und Kin­dern – eine hier­ar­chi­sche. Radi­kal­kon­struk­ti­vis­ti­sche Posi­tio­nen wie die, dass Eltern oder Leh­rer Part­ner auf glei­cher Augen­hö­he sei­en, blen­den ele­men­ta­re Grund­sät­ze der mensch­li­chen Ent­wick­lung aus und gehen in der Pra­xis fehl, wie Win­ter­hoff ein­drucks­voll schil­dert. Leh­rer soll­ten sich also ihrer Füh­rungs­ver­ant­wor­tung (auch gegen­über Eltern) und ihrer Vor­bild­funk­ti­on bewuss­ter werden.

Nach der Dis­kus­si­on unse­res Falls erfolg­te die Schil­de­rung eines authen­ti­schen Falls, der in der betref­fen­den Schu­le auf­ge­tre­ten war (Klas­se mit aus­ge­präg­ten Pro­ble­men bei Dis­zi­plin, Kon­zen­tra­ti­on und Lern­mo­ti­va­ti­on). Zur Lösung der Fall­auf­ga­be schlu­gen wir eine Metho­de vor, die sich aus Ele­men­ten des Reflec­ting Team und Ed Scheins “Lager­feu­er-Übung” zusam­men­setz­te: Eine Grup­pe inter­es­sier­ter Leh­rer nahm an einem dafür vor­be­rei­te­ten Tisch (“Innen­kreis”) Platz, wäh­rend die übri­gen Leh­rer an ihren ange­stamm­ten Tischen (“Außen­kreis”) ver­blie­ben. Die Leh­rer am Arbeits­tisch soll­ten die Fra­ge “Was tue ich, wenn ich in die­ser Klas­se der Klas­sen­leh­rer bin?” beant­wor­ten und dabei die gan­ze Zeit über in ein ima­gi­nä­res Lager­feu­er (dar­ge­stellt durch eini­ge Stif­te) schau­en und sich nicht gegen­sei­tig anse­hen. Nach etwa zwan­zig Minu­ten war der Fall gelöst. Die fall­ge­ben­de Leh­re­rin zog das Fazit, sie hät­te durch die­se Dis­kus­si­on genü­gend Moti­va­ti­on und Ideen, die Situa­ti­on anzu­ge­hen. Eini­ge der betei­lig­ten Leh­rer als auch meh­re­re Beob­ach­ter mein­ten, sie hät­ten noch kei­ne Dis­kus­si­on erlebt, die so schnell zu einem kon­struk­ti­ven Ergeb­nis geführt habe. Die “Lager­feu­er-Übung” dient eigent­lich dazu, in Teams und Unter­neh­men mit hohen dyna­mi­schen Anfor­de­run­gen und unter­schied­li­chen mikro- und makro­kul­tu­rel­len Hin­ter­grün­den eine gemein­sa­me kul­tu­rel­le Grund­la­ge zu schaf­fen. Edgar Schein selbst ver­weist bei der Erläu­te­rung der Metho­de auf anthro­po­lo­gi­sche Erkennt­nis­se: die Lager­feu­er-Situa­ti­on kann als eine der Urfor­men mensch­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on ange­se­hen wer­den. Die Wei­sen eines Dor­fes ver­sam­meln sich und bespre­chen ein Pro­blem. Das Eigen­tüm­li­che an der Situa­ti­on ist, dass man die Auf­merk­sam­keit auf das Feu­er rich­tet und weni­ger auf die ande­ren anwe­sen­den Per­so­nen. Mit der Lager­feu­er-Übung macht man sich die­se Eigen­tüm­lich­keit zunut­ze, indem man gleich­sam die Wir­kung des Blicks in die Augen (die manch­mal zu “Waf­fen­kam­mern” wer­den) der ande­ren ver­hin­dert und damit der Kom­mu­ni­ka­ti­on eini­ge der non­ver­ba­len Stör­grö­ßen nimmt und grup­pen­dy­na­mi­sche Ver­zer­rungs­pro­zes­se (Grup­pen­den­ken etc.) ver­rin­gert. Im Regel­fall, so zei­gen unse­re Erfah­run­gen mit die­ser Metho­de, ver­läuft die Kom­mu­ni­ka­ti­on kon­struk­ti­ver und Lösun­gen wer­den wesent­lich schnel­ler gefunden.

Nach der Lösung die­ses Falls wur­de von eini­gen Teil­neh­mern die Fra­ge vor­ge­tra­gen, wo denn der “eigent­lich geplan­te Inhalt” der Ver­an­stal­tung blei­be. Man habe erwar­tet, Stra­te­gien für den Umgang mit Ver­hal­tens­auf­fäl­lig­kei­ten zu bekom­men. Die nun fol­gen­de Dis­kus­si­on war inter­es­sant: ein grö­ße­rer Teil der Anwe­sen­den war der Mei­nung, dass gera­de dies eben pas­siert sei, als man den Fall gelöst habe. Ein klei­ne­rer Teil war über­haupt nicht die­ser Ansicht und ver­lang­te die Ver­mitt­lung ent­spre­chen­den Wissens.

Genau an die­ser Stel­le ent­fa­chen sich vie­le Dis­kus­sio­nen, nicht nur in Schu­len, son­dern auch in Unter­neh­men. Wis­sen, das den Umgang mit Men­schen betrifft, kann man nicht zu ein­fa­chen Rezep­ten zusam­men­fas­sen oder als check­lis­ten­ar­ti­ge Ver­hal­tens­stra­te­gie spei­chern. Wohl gibt es psy­cho­lo­gi­sche Erklä­rungs­ver­su­che ana­log der oben dar­ge­stell­ten Punk­te. Aber was wirk­lich hilft, ist von Fall zu Fall sehr unter­schied­lich. Wis­sen kann in sol­chen Fäl­len also nur kaum oder gar nicht in Form von Vor­trä­gen wei­ter­ge­ge­ben oder in Daten­ban­ken gespei­chert wer­den. Viel­mehr geht es dar­um, geeig­ne­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sze­na­ri­en zu schaf­fen, die eine fall­spe­zi­fi­sche Anwen­dung des Wis­sens ermöglichen.

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.

Ein Kommentar

  1. Vie­len DAnk für die­sen inter­es­san­ten Bei­trag! Die “Lagerfeuer”-Übung ist ein sehr prak­ti­sches Instru­ment, dass vie­le ver­schlos­se­ne Türen öff­nen kann.

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