Der Ursprung der Kommunikation

Bevor Pri­ma­ten die Vor­aus­set­zun­gen für die Aus­prä­gung von Spra­che ent­wi­ckeln konn­ten, leb­ten sie bereits im Ver­band. Die­ser frü­he, gleich­sam vor­ge­sell­schaft­li­che Erfah­rungs­pro­zess bil­det die Vor­aus­set­zung für die Ent­ste­hung der Fähig­keit zur Kom­mu­ni­ka­ti­on. Wir kön­nen wir uns die­sen Pro­zess wie folgt vor­stel­len: In der Gemein­schaft ent­ste­hen die ers­ten Sym­bo­le, die es den Betei­lig­ten ermög­li­chen, sich nicht nur in einer kon­kre­ten Situa­ti­on im Hier und Jetzt zu ver­hal­ten, son­dern sich – bspw. am abend­li­chen Lager­feu­er – über vor­an­ge­gan­ge­ne Gescheh­nis­se aus­zu­tau­schen. Allein das Vor­han­den­sein von Sym­bo­len erlaubt die “Ent­set­zung” vom jewei­li­gen kon­kre­ten Moment des unmit­tel­ba­ren Daseins, ermög­licht also Ver­gan­gen­heit und Zukunft. Dies stellt den wesent­li­chen Unter­schied unse­rer Spe­zi­es zu ande­ren Säu­ge­tie­ren dar – ande­re Säu­ge­tie­re blei­ben in der blo­ßen Daseins­er­fah­rung ohne Ver­gan­gen­heit und Zukunft. Sym­bo­le erlau­ben den Aus­tausch über das, was gewe­sen ist oder sein wird. Aller­dings setzt die­ser Aus­tausch vor­aus, dass alle Mit­glie­der einer Gemein­schaft die jeweils ver­wen­de­ten Sym­bo­le tei­len oder – nach Mead (1973) – auf die Sym­bo­le in glei­cher Wei­se reagie­ren. Wenn eine Per­son kom­mu­ni­ziert, muss sie also wis­sen, wel­che Reak­tio­nen die ver­wen­de­ten Sym­bo­le bei ande­ren her­vor­ru­fen. Die Vor­aus­set­zung dafür ist, dass die Per­son die Reak­tio­nen der Ange­spro­che­nen selbst nach­voll­zie­hen kann. Die Per­son ”holt“ sich die Reak­tio­nen der ande­ren Per­so­nen gleich­sam ”her­ein“ und plant die eige­nen Hand­lun­gen, indem sie die Reak­tio­nen der ande­ren – in sich selbst – vorwegnimmt.

Damit sich ein Mensch sei­ner selbst gewahr sein kann, muss er in der Lage sein, sich selbst gleich­sam zum Objekt zu wer­den. Der ein­zel­ne Mensch erfährt sich selbst nur indi­rekt, und zwar indem er die Per­spek­ti­ven und Hal­tun­gen der ande­ren in Bezug auf sich selbst ein­nimmt. Dies kann auf zwei Ebe­nen gesche­hen – zum einen kann eine Per­son die Hal­tung einer ande­ren Per­son in Bezug auf sich selbst ein­neh­men und zum ande­ren kann sie die Hal­tung der gesam­ten Grup­pe in Bezug auf die eige­ne Per­son ein­neh­men. Ver­nunft ent­steht, so Mead (1973, S. 179), dort, wo eine nicht-affek­ti­ve Hal­tung gegen­über der eige­nen Per­son mög­lich wird. Wir wer­den uns selbst nur durch die Augen ande­rer gewahr. Indem wir die Per­spek­ti­ven ande­rer Men­schen ein­neh­men, erfah­ren wir uns indi­rekt auch selbst. Die Per­spek­tiv­über­nah­me ist die Vor­aus­set­zung für Kom­mu­ni­ka­ti­on, indem die signi­fi­kan­ten Ges­ten oder Sym­bo­le nicht nur an ande­re, son­dern auch an die han­deln­de Per­son selbst gerich­tet sind.

Die Fähig­keit, sich selbst zum Objekt wer­den zu kön­nen, lässt sich bereits in der Kind­heit beob­ach­ten, und zwar anhand der in der Phan­ta­sie geschaf­fe­nen Spiel­ka­me­ra­den – in einem Moment sagt ein Kind etwas aus der eige­nen Posi­ti­on oder aus dem Blick­win­kel einer erfun­de­nen Per­son her­aus, im nächs­ten Moment ant­wor­tet es sich selbst aus der Per­spek­ti­ve einer ande­ren (rea­len, aber abwe­sen­den oder wei­te­ren erfun­de­nen) Per­son. Das Kind rich­tet sei­ne Wor­te an den ima­gi­nä­ren Spiel­ka­me­ra­den und damit auch an sich selbst. Dadurch ”kon­trol­liert“ das Kind sei­ne eige­nen Erfah­run­gen im Spiel. Das erklärt die selbst­be­schrän­ken­de Wir­kung man­chen Sozia­li­sa­ti­ons­pro­zes­ses – wir holen uns die Sicht­wei­se der ande­ren, ihre Nor­men und Wer­te gleich­sam her­ein und kon­trol­lie­ren dadurch unse­re Hand­lun­gen. Sich selbst zum Objekt zu machen heißt also, auf sich selbst wie auf ande­re reagie­ren zu kön­nen. Man nimmt qua­si am eige­nen Gespräch teil, wird sich des Gesag­ten bewusst und nutzt die­ses Bewusst­sein, um das nach­fol­gend zu Sagen­de zu bestim­men. Das Gesag­te wird aber erst ver­stan­den, nach­dem es gesagt wurde.

Kom­mu­ni­ka­ti­on beginnt mit der Über­mitt­lung von Ges­ten. Die­se Ges­ten zei­gen wir uns zunächst selbst auf, wodurch in uns selbst eine Ant­wort oder Reak­ti­on vor­weg­ge­nom­men wird (Her­ein­nah­me der Reak­ti­on des ande­ren), wodurch sich die Hand­lung selbst noch ein­mal ändern kann, bevor sie fer­tig aus­ge­führt ist. Mead (1973) illus­triert dies am Bei­spiel einer Gemein­heit: Begin­ne man etwas sehr Unfreund­li­ches zu sagen und wer­de einem dabei unter Umstän­den bewusst, dass es ”grau­sam“ sei, so höre man womög­lich damit auf. Inso­fern hal­te die Wir­kung des zu sagen Begon­ne­nen oder Beab­sich­tig­ten den Spre­cher von der Voll­endung des Sat­zes ab. Die Ges­te sei in die­sem Fall nur zwi­schen dem Spre­cher und ihm selbst ver­mit­telt worden.

Eine Hand­lung wird zum Reiz für die Reak­ti­on eines ande­ren Indi­vi­du­ums, des­sen Reak­ti­on wie­der­um wird zum Reiz für das ers­te Indi­vi­du­um und ver­än­dert so des­sen Reak­ti­on, was wie­der­um zu einer Anpas­sung beim zwei­ten Indi­vi­du­um führt und so fort (vgl. Mead 1973, S. 82). Ges­ten – bspw. bei Hun­den – sind Aus­druck von Emo­tio­nen, aber das ist nicht die Funk­ti­on der Ges­ten, son­dern ihre Funk­ti­on ist die eben beschrie­be­ne Ver­hal­tens­ko­or­di­na­ti­on (vgl. Mead 1973, S. 83). Men­schen kön­nen auf Ges­ten hin direkt han­deln – bei einem lau­ten Knall etwa auf­sprin­gen und weg­ren­nen oder jeman­den schla­gen, bevor man es bewusst woll­te (vgl. Mead 1973, S. 84). Wenn ein Hund Ärger zeigt und wir glau­ben, dass er angreift, dann unter­stel­len wir nicht, dass sich der Hund etwas dabei denkt – wir sehen die Zei­chen für den Angriff und dann erfolgt er auch; bei einer mensch­li­chen Dro­hung ist das anders: Hier unter­stel­len wir, dass es eine Idee zum Angriff gibt. Wenn nun eine Ges­te eine dahin­ter lie­gen­de Idee aus­drückt, dann han­delt es sich um eine signi­fi­kan­te Ges­te oder ein signi­fi­kan­tes Sym­bol. Mead ver­wen­det bei­de Begrif­fe syn­onym. Bei Hun­den wer­den durch Ges­ten ”rich­ti­ge“ Reak­tio­nen aus­ge­löst. Beim Men­schen hin­ge­gen exis­tiert mit erfol­gen­der Hand­lung die Bedeu­tung der jewei­li­gen Ges­te sowohl in der Erfah­rung des einen als auch des ande­ren Men­schen. Mit einer Hand­lung, in der wir ein signi­fi­kan­tes Sym­bol benut­zen, rufen wir also die Reak­ti­on nicht direkt her­vor, son­dern rufen eine Bedeu­tung her­vor – und zwar in unse­rem Gegen­über genau­so wie in uns selbst. Sol­cher­lei ”signi­fi­kan­te“ Sym­bo­le sind das, was Spra­che aus­macht. Den­ken ist dem­entspre­chend ein nach innen gehol­ter Pro­zess des pro­be­wei­sen Her­vor­ru­fens von Bedeu­tun­gen durch die Ver­wen­dung signi­fi­kan­ter Ges­ten bzw. Symbole.

Man den­ke, so Mead (2013, S. 184), um zu han­deln. Den­ken kön­nen wir im Sin­ne Meads als Pro­zess der inne­ren Über­mitt­lung von Ges­ten ver­ste­hen, als nach innen ver­leg­ten Aus­tausch von signi­fi­kan­ten Sym­bo­len: ”Man trennt den Sinn des Gesag­ten vom tat­säch­li­chen Gespräch und hat ihn schon bereit, noch bevor man spricht“ (Mead 2013, S. 184). Man kon­trol­lie­re die eige­nen Hand­lun­gen durch die Reak­tio­nen der ande­ren auf die eige­ne Ges­te. Spra­che sei dabei die Vor­aus­set­zung, sich selbst zum Objekt machen zu kön­nen. Man kön­ne nur über sich selbst reflek­tie­ren, wenn man sich zum Objekt sei­ner selbst machen kön­ne. Indem der Ein­zel­ne durch Kom­mu­ni­ka­ti­on auf sich selbst reagie­re, erhal­te die Kom­mu­ni­ka­ti­on ihre ent­schei­den­de Bedeu­tung. Iden­ti­tät sei dem­entspre­chend durch den gesell­schaft­li­chen Pro­zess bestimmt. (Vgl. Mead 1973, S. 185)

Durch den Umstand, dass der Ein­zel­ne in sich selbst die glei­chen Reak­tio­nen aus­lö­sen kön­ne wie in ande­ren, kön­ne er den Sinn des Gesag­ten auch selbst erfas­sen. Andern­falls wür­de die Spra­che als signi­fi­kan­tes Sym­bol ver­schwin­den. Es sei­en sprach­li­che Sym­bo­le, die Reak­tio­nen aus­lös­ten, und die­se sei­en im Denk­pro­zess ent­hal­ten. Den­ken set­ze ein Sym­bol vor­aus, das beim ande­ren die glei­che Reak­ti­on aus­lö­se wie beim Han­deln­den selbst. Der Sinn der Ges­te bestehe in der Reak­ti­on des ande­ren. (Vgl. Mead 1973, S. 187)

Kin­der über­näh­men im Spiel ver­schie­de­ne Rol­len, agier­ten in der einen Rol­le, reagier­ten aus einer ande­ren her­aus und so fort, was vor­aus­set­ze, dass Kin­der in der Lage sind, die Reak­tio­nen der ande­ren auch in sich selbst her­vor­zu­ru­fen. Mehr als noch im Spiel sei dies im Wett­kampf der Fall: Um hier zu bestehen, müs­se ein Kind die Rol­len aller betei­lig­ten Per­so­nen ken­nen und über­neh­men kön­nen und zudem wis­sen, wel­che Bezie­hun­gen die Rol­len zuein­an­der haben, bspw. in einer Mann­schaft. Die Regeln eines Wett­kamp­fes erschie­nen aus die­ser Sicht als eine Grup­pe von Reak­tio­nen. (Vgl. Mead 1973, S. 191ff.)

Mead ver­all­ge­mei­nert aus­ge­hend vom Wett­kampf auf das sozia­le Leben ins­ge­samt – um zu han­deln, müs­se der Ein­zel­ne die Hal­tun­gen aller ande­ren Betei­lig­ten ken­nen. Der Ein­zel­ne erler­ne zunächst eini­ge Hal­tun­gen ande­rer ihm gegen­über und zuein­an­der, spä­ter ver­all­ge­mei­ne­re er die­se Hal­tun­gen zu den Hal­tun­gen der Grup­pe oder Gesell­schaft als Gan­zer und sei fort­an in der Lage, auch die­se gene­ra­li­sier­te Hal­tung in Gestalt des ”gene­ra­li­sier­ten Ande­ren“ zu über­neh­men. Unter dem Begriff des ”gene­ra­li­sier­ten Ande­ren“ ver­steht Mead die zusam­men­ge­fass­ten Hal­tun­gen einer Grup­pe bzw. einer gan­zen Gemein­schaft oder auch eine sys­te­ma­ti­sche Spie­ge­lung der Grup­pen­hand­lun­gen im Ein­zel­nen.

Um Iden­ti­tät – oder um einen ande­ren psy­cho­lo­gi­schen Begriff dafür zu ver­wen­den: ein Selbst – zu ent­wi­ckeln sei es not­wen­dig, nicht nur die Hal­tun­gen ein­zel­ner ande­rer Men­schen über­neh­men zu kön­nen, son­dern auch die der gesam­ten Gesell­schaft, denn sonst wäre eine Per­son nicht in der Lage, die eige­nen Hand­lun­gen im gesell­schaft­li­chen Gan­zen zu struk­tu­rie­ren. Inso­fern übe die Gemein­schaft Kon­trol­le über die Hand­lun­gen ihrer ein­zel­nen Mit­glie­der aus. (Vgl. Mead 1973, S. 197f.) 

Der Ent­wick­lungs­pro­zess der Per­sön­lich­keit – im Grun­de kön­nen wir die­sen Pro­zess auch als Sozia­li­sa­ti­on bezeich­nen – ver­lau­fe nach Mead (1973, S. 203ff.) in zwei Pha­sen: Zunächst über­neh­me das Kind die Hal­tun­gen der es umge­ben­den Per­so­nen, ins­be­son­de­re derer, von denen es abhän­gig sei. In einer Peri­ode des Wun­sches nach Anschluss und mit dem Wech­sel vom Spiel zum Wett­kampf wer­de das Indi­vi­du­um durch den mehr oder min­der dau­ern­den Ein­tritt und – ggf. tem­po­rä­ren – Ver­bleib in einer Viel­zahl von Orga­ni­sa­tio­nen zu jeman­dem, der im gesell­schaft­li­chen Gan­zen funk­tio­nie­ren kön­ne. Das Ergeb­nis die­ses Pro­zes­ses sei ein bewuss­tes Mit­glied einer Gemein­schaft. Wenn die Reak­ti­ons­mus­ter der Gemein­schaft auf den Ein­zel­nen gleich gestal­tet wür­den, spre­che man von Insti­tu­tio­na­li­sie­rung. Ein Bei­spiel (vgl. Mead 1973, S. 210): Wenn es für eine Per­son voll­kom­men gleich sei, wer sie besteh­le – die Gesell­schaft den Dieb also ohne Anse­hen von Stel­lung, Macht oder der­glei­chen gleich behan­de­le – dann sei die Reak­ti­on der Gesell­schaft iden­tisch“, was man als Insti­tu­ti­on bezeich­nen kön­ne. Im Prin­zip sei von einer rela­tiv aus­ge­präg­ten Kon­ti­nui­tät bei den Prin­zi­pi­en einer Gemein­schaft in der Ver­gan­gen­heit und in der Zukunft aus­zu­ge­hen; der Ein­zel­ne über­neh­me sie und sie ver­än­der­ten sich ver­gleichs­wei­se lang­sam. Die inter­es­san­te Fra­ge ist nun, wie es über­haupt zu Ver­än­de­run­gen sol­cher Prin­zi­pi­en kommt. Als Ein­zel­ne, so meint Mead, könn­ten wir unse­re Auf­fas­sun­gen und Hal­tun­gen denen der Gemein­schaft gegen­über­stel­len. Wir sei­en nicht voll­stän­dig an die Gemein­schaft gebun­den; es gebe immer einen Dia­log bzw. eine wech­sel­sei­ti­ge Beein­flus­sung zwi­schen den Sicht­wei­sen der Gemein­schaft und unse­rer eige­nen Mei­nung, wodurch sich die Gemein­schaft weiterentwickle. 

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.