Dieser Tage ist in Führungskräftetrainings viel von „psychologischer Sicherheit“ die Rede. Man meint damit eine Atmosphäre, die es Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern ermöglicht, alles anzusprechen, was sie ansprechen wollen, ohne Angst vor negativen Konsequenzen haben zu müssen. Die vielleicht eindrucksvollsten Belege für die Relevanz der psychologischen Sicherheit für die Leistung von Organisationen hat Amy Edmondson mit ihren Untersuchungen in Krankenhäusern geliefert. Es ging um die Einführung neuer herzchirurgischer Operationsmethoden. In einigen Krankenhäusern gelang die Einführung minimalinvasiver Operationsroutinen, in anderen hat man schnell wieder Abstand davon genommen, weil zu viele — im Zweifel tödliche — Fehler passierten. Edmondsons Analysen zeigten, wovon der Einführungserfolg abhängig war und wovon nicht. Beispielsweise spielten das Alter bzw. die Erfahrung oder die Reputation der leitenden Chirurgen keine Rolle. Auch die Lage des Krankenhauses (städtisch vs. ländlich) oder die Art der Organisation (privat oder öffentlich) hatten keinen systematischen Einfluss. Relevant hingegen waren die Führungshaltung der leitenden Chirurgen und die Art und Weise des Lernprozesses während der Aneignung der Methoden. Hat der leitende Arzt seine Startmannschaft zunächst zusammengenommen und sich Zeit genommen, alle kennenzulernen und Erwartungen und Befürchtungen zu besprechen? Wurde Vertrauen aufgebaut und ist dadurch eine Atmosphäre der Offenheit entstanden? Hat man Probe-OPs an Dummys vorgenommen und diese Test-OPs gut vorbereitet und ausgewertet? Konnten alle Beteiligten alles sagen? Oder hat der leitende Chirurg vielleicht gesagt: Macht Ihr mal Dummy-OPs, ich komme dann dazu, wenn es losgeht — nur um dann umso mehr Fehler zu machen?
Das Ausmaß des Vertrauens bzw. des Zutrauens, dass mir nichts passiert, wenn ich etwas sage, und das Vorhandensein systematischer Vorbereitung und Auswertung bzw. eines kontinuierlichen Lernprozesses gab den Ausschlag, ob die Aneignung neuer Routinen erfolgreich war oder nicht.
Ähnlich ist es auch in anderen Organisationen, die grundsätzlich mit einem hohen Risiko für ihre Kunden operieren, zum Beispiel in der Luftfahrt: Wie gelingt es bspw. einer Airline, möglichst keinen Personenschaden zu verursachen — und dabei auch noch effizient zu sein? Man lernt als Organisation immer nur dann etwas, wenn etwas zum ersten Mal gelingt oder etwas nicht funktioniert. Was beim Papierflieger-Falten in einem Hort völlig ok sein mag, ist im Falle einer Airline tödlich, nämlich Lernen durch Versuch und Irrtum. Dennoch sind früher in der Luftfahrt viele Menschen genau durch Trial and Error gestorben. Daraus hat man gelernt und relativ „harte“ Routinen eingeführt. Wir leben heute in einer vergleichsweise etablierten Phase der Luftfahrt und können uns die Frequenz der „tödlichen Lerneffekte“ vielleicht nicht mehr vorstellen. Aber es gibt heute eine ganze Reihe von Mechanismen, die im Sinne kontinuierlich durchzuführender Sicherheits- und Lernroutinen dazu dienen, die Organisation fehlerarm und möglichst unfallfrei zu halten. Diese Routinen sind quasi in der Konsequenz jener teuer erkauften Lerneffekte entstanden. Dazu gehört eine ebenso verpflichtende wie offene Kommunikation zur Vorbereitung und Nachbereitung der Arbeit im Einsatz. Und dabei ist psychologische Sicherheit entscheidend: Die Frage, ob sich jemand traut, auf eine potentielle Gefahrenquelle oder einen potentiellen Fehler hinzuweisen oder nicht, entscheidet im Zweifel über Leben oder Tod — und kann zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Praxis in einer betreffenden Organisation beitragen.
Das bisher Geschilderte sei an einem Beispiel aus einer Feuerwehr verdeutlicht: Feuerwehren sind einerseits Organisationen der quasi prophylaktischen Daseinsvorsorge: sie üben, um im Einsatzfall sicher handeln zu können; sie sorgen aber auch dafür, dass es idealerweise nicht erst soweit kommt. Eine Feuerwehr muss im Idealfall nur manchmal beweisen, was sie kann — aber wenn sie es beweisen muss, sollte die Leistung möglichst hoch sein.
Stellen Sie sich nun einmal folgende Situation vor: Der Wehrleiter einer großen freiwilligen Feuerwehr war vor zwanzig Jahren in Sachen Leistungsfähigkeit eine Hausnummer: durchtrainiert, schnell, gut ausgebildet, als Erster des Angriffstrupps bestens geeignet. Seine Leistungsfähigkeit von damals und sein Führungswille haben ihn zum Häuptling von annähernd 100 Kameraden und Kameradinnen gemacht. Aber nun sind zwanzig Jahre vergangen. Er ist mittlerweile über Fünfzig und ist immer noch ganz vorn — und zwar in jedem Einsatz, an dem er teilnimmt, und er nimmt an den meisten Einsätzen teil. Es gibt mittlerweile genug gut ausgebildete und sportliche und motivierte jüngere Leute in der Wehr — aber sie kommen nicht zum Zug. Stellen sich sich die Kombination aus hoher Motivation, guter Ausbildung und wenig Gelegenheit vor — diese Kombination führt zwingend zu einer gewissen Frustration. Zumal der Wehrleiter mit über 50 am vorderen Ende des Geschehens auch nicht mehr so stabil und leistungsfähig ist wie vor 20 Jahren. „Haben Sie dem Wehrleiter das einmal gesagt?“, lautete meine Frage. „Nein“, lautete die Antwort. „Was ist der Grund?“, habe ich gefragt. „Das trauen wir uns nicht“, lautete die Antwort. „Was bei Kritik passiert, wollen Sie sich nicht vorstellen“, lautete eine Ergänzung.
Was ist hier passiert? Höflich formuliert lautet die Antwort: Die Organisation ist weniger einsatzstark, als sie sein müsste.
Wenn bestimmte kritische Dinge nicht gesagt werden können, und wenn bestimmte, irgendwann notwendig werdende Veränderungen ausbleiben, dann reduziert das irgendwann die Leistungsfähigkeit einer Organisation. Im Falle einer Feuerwehr kann dies insofern „kritisch“ werden, als dass es in härteren Einsätzen eben nicht zu einer Entfaltung der größtmöglichen Leistungsfähigkeit kommt.
Ein anderes Beispiel, ebenfalls aus der Welt von Feuerwehren: Eine größere Freiwillige Feuerwehr verfügt über zwei Einsatzfahrzeuge, eines mit Mannschaftsstärke und ein dreisitziges Tanklöschfahrzeug. In der Feuerwehrdienstvorschrift steht — und Erfahrungen zeigen —, dass es besser ist, zunächst mehr Leute vor Ort zu haben. Die Priorität liegt also auf dem Fahrzeug mit Mannschaftsstärke. Man müsste also warten, bis das Fahrzeug mit Mannschaftsstärke voll ist — und dann losfahren. Nun gibt es aber einen Kameraden — gut ausgebildet, erfahren, versiert, immer einsatzbereit — der das Tanklöschfahrzeug fährt — und auch niemand anders damit fahren lässt. Des Weiteren wohnt der betreffende Kamerad auch direkt neben der Feuerwehr und ist dementsprechend oft der Erste. Nun setzt sich der betreffende Kamerad ins Führerhaus des Tanklöschfahrzeugs, wartet, bis weitere zwei Kameraden da sind und fährt los. Er konterkariert damit die Dienstordnung (Maximierung der Personenzahl vor Ort vor Verfügbarkeit jeder Ausrüstung), aber er ist schon vor Ort und macht schonmal, wobei ein Tanklöschfahrzeug mit drei Mann allein vor Ort oft nicht die beste Lösung darstellt. Und es ist vorgekommen, dass die verbleibenden Kameraden das andere Einsatzfahrzeug nicht voll besetzen und deshalb nicht ausrücken konnten, sondern eine benachbarte Wehr nachalarmieren mussten.
Was ist das jetzt? Ist es „Möglichst schnell zum Einsatzort — und sei es wenigstens mit drei Leuten“? Oder ist es „Pflichtverweigerung“ — ich folge nicht der Dienstvorschrift, aber ich bin in jedem Fall ein engagierter Kamerad, und meistens geht es ja gut? Oder ist es gar „Befehlsverweigerung“, weil man die Dienstvorschrift nicht einhält, und damit im Zweifel die Einsatzfähigkeit verringert, was in — seltenen — wirklich kritischen Situationen zu unerwünschten Konsequenzen führen könnte?
Freilich kann man nicht jede Dienstvorschrift immer sklavisch einhalten; freilich braucht es eine gewisse Flexibilität. Aber darum geht es hier nicht. Aus einer gewissen Vorliebe heraus wird eine Gewohnheit, aus der Gewohnheit wird mit der Zeit eine Art „Besitzstand“ — und dieser Besitzstand wird irgendwann zur nie ausgesprochenen, aber eben vorhandenen „Selbstverständlichkeit“, die dann mitunter mit markigen Sprüchen verteidigt wird: „Das haben wir schon immer so gemacht. Wenn Du das ändern willst, musst Du mich rausschmeißen.“ Spätestens solches Verhalten zahlt dann nicht mehr unbedingt auf den Zweck der Organisation ein, sondern führt mitunter zu Abweichungen von dem, was ggf. klüger oder effizienter gewesen wäre — oder im Extremfall zu waschechten Fehlern.
Ganz gleich, ob es um größere Veränderungen geht, die umgesetzt werden sollen, oder ob es sich um eher individuelle Verweigerungshaltungen geht — man wird in der Regel erst aktiv, wenn es ein Problem gibt. Ein Problem ist in diesem Zusammenhang in der Regel eine Eskalation, eine Zuspitzung, eine Blockadehaltung, ein festgefahrener Konflikt, eine manifeste Grüppchenbildung o.ä. Und wenn man aktiv wird, dann behandelt man in der Regel das Problem und die damit verbundenen Personen. Das heißt, man handelt anlassbezogen und betrachtet nicht die dahinter liegenden Gewohnheiten.
Wie aber reagieren Menschen, die nicht gewohnt sind, offen über Probleme zu reden, auf das Ansinnen einer „Aussprache“? In der Regel defensiv. Man sitzt mit verschränkten Armen da, weiß offiziell gar nicht, was das „Gerede“ jetzt bringen soll und warum das überhaupt sein müsse, es laufe doch und wenn es notwendig sei, halte man doch zusammen usw.
Anlassbezogen (also in der Regel im Falle der Zuspitzung eines Problems) zu handeln, ist nicht einfach — weil die Beteiligten es nicht gewöhnt sind, wollen und können sie es auch nicht. Dazu passt oft genug auch der Führungsstil: Nichts gesagt ist genug gelobt. Oder: Wir hoffen auf den gesunden Menschenverstand, so blöd können die doch nicht sein, das müssen die doch merken usw. Oder: Ich habe es schon so oft gesagt, was soll ich denn noch machen? Oder: Ich habe ja lange nichts gesagt, habe mir das angeschaut, aber dann musste ich einfach mal was sagen, und klar, dann wurde es auch mal laut und deutlich.
Die Antwort liegt in einer Verlagerung des Fokus’ auf die Routine: Wer gewohnt ist zu reden, tut es auch. Mit der Zeit wächst dann auch die Offenheit.
Freilich ist psychologische Sicherheit auch vom Vorgesetzten abhängig — wenn ich Angst habe, dass ich etwas auf den sprichwörtlichen „Deckel“ bekomme, wenn ich etwas anspreche, dann sage ich nichts. Also sollten Vorgesetzte mindestens eine gewisse Offenheit und ein gewisses Interesse an Menschen mitbringen — und ihre Leute nicht durch irgendwelche Annahmen oder Unterstellungen vorverurteilen. Eine gewisse „Armut an Vorurteilen“ ist hilfreich.
Aber mindestens genauso wichtig wie die Haltung des oder der Vorgesetzten, wenn nicht sogar wichtiger, ist die Frage, ob Reden eine Routine ist.
Wenn, nehmen wir noch einmal ein Beispiel aus der Welt der Feuerwehren, es Gewohnheit ist, den Einsatz auszuwerten (man steht im Kreis und beantwortet drei Fragen: Was lief gut? Was können wir beim nächsten Mal besser machen? Wer möchte wem etwas — Positives oder Kritisches — sagen?), dann wird die Kommunikation mit der Zeit offener und selbstverständlicher — und auch die psychologische Sicherheit der Leute nimmt mit der Zeit zu.
Wenn ich hingegen anlassbezogen kommuniziere, dann kann ich nur auf Offenheit und Mut hoffen, dann sind Offenheit und Mut aber (noch) nicht selbstverständlich. Wie jede Routine muss auch die regelmäßige offene und „psychologisch sichere“ Kommunikation eingeübt werden. Dafür brauche ich natürlich eine entsprechende Führungshaltung (Interesse, Offenheit, die Bereitschaft, Kritik auszuhalten, ohne sofort defensiv darauf zu reagieren), aber auch den Willen, neue Routinen zu etablieren. Und dafür brauche ich nicht nur Offenheit und Interesse, sondern auch die Überzeugung, dass man als Führungskraft manchmal etwas wollen und auch durchsetzen wollen muss — gegen „Das haben wir noch nie so gemacht“ hilft oft nur „wohltemperierte Grausamkeit“ in Gestalt simpler Anordnungen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass niemand für immer meckert. Neue Gewohnheiten zu schaffen erfordert häufige (manchmal zuhörende, manchmal direktive) Kommunikation ebenso wie einen gewissen Willen zur Struktur sowie Geduld, Hartnäckigkeit und die Fähigkeit, die gute Laune nicht zu verlieren.
Lesen Sie hier in Ergänzung einen Artikel zum Umgang mit Grüppchenbildung — nicht nur, aber auch in Feuerwehren.
Das Beitragsbild wurde mit Hilfe künstlicher Intelligenz erstellt.