Die Zone der nächsten Entwicklung – Was wir von Wygotski für die Inklusion lernen können

Es gibt einen Moment in der Arbeit mit Kin­dern – ob mit oder ohne „Behin­de­rung“ oder „Ent­wick­lungs­her­aus­for­de­rung“ oder wie auch immer man die „Ein­schrän­kung der Chan­cen­gleich­heit“ nen­nen möch­te –, in dem man spürt, dass sie an einer Schwel­le ste­hen: Sie wol­len, sie ahnen, sie ver­su­chen. Aber sie kön­nen noch nicht ganz.

Das ist der Punkt, an dem man als Päd­ago­ge ent­schei­det: Las­se ich sie strau­cheln („Ler­nen pas­siert selbst­ge­steu­ert“)? Zie­he ich sie hin­durch („Gebe ich vor, hel­fe ich direkt“)? Oder baue ich ein Gerüst, das ihnen hilft, selbst den nächs­ten Schritt zu gehen?

Lew Wygot­ski hat für die­sen Moment eine Theo­rie ent­wor­fen, die heu­te aktu­el­ler ist denn je. Er nann­te sein Kon­zept die „Zone der nächs­ten Ent­wick­lung“ – jenen Bereich zwi­schen dem, was ein Kind allei­ne kann, und dem, was es mit der rich­ti­gen Unter­stüt­zung bewäl­ti­gen kann. Es ist der Raum, in dem ech­te Ent­wick­lung geschieht.

Inklusion beginnt nicht bei der Behinderung, sondern bei der Haltung

Wenn wir Inklu­si­on ernst neh­men, müs­sen wir auf­hö­ren, vor allem auf Defi­zi­te zu schau­en, um sie aus­zu­glei­chen. Statt­des­sen müs­sen wir Poten­zia­le erken­nen, um sie zu ent­fal­ten. Soweit die Theo­rie. In der Pra­xis müs­sen wir oft bei­des tun: Beim Aus­gleich UND bei der Ent­fal­tung helfen.

Die ganz prak­ti­sche Fra­ge lau­tet dann, wie wir einem Kind hel­fen kön­nen, den nächs­ten Schritt zu gehen.

Das ver­langt von Päd­ago­gen eine Hal­tung der akti­ven Unter­stüt­zung – ein Gerüst. Dabei geht es nicht dar­um, Lösun­gen vor­zu­ge­ben (vor­zu­ma­chen oder direkt zu hel­fen), son­dern Struk­tu­ren zu schaf­fen, die Ler­nen ermög­li­chen. Das kann bedeuten:

Anpas­sung von Auf­ga­ben: Ein Kind kann eine Geschich­te nicht schrei­ben, aber es kann sie erzäh­len. Also erzählt es und ande­re schreiben.

Gemein­sa­mes Pro­blem­lö­sen: Ein Kind kann eine mathe­ma­ti­sche Auf­ga­be nicht allein lösen, aber mit einem Part­ner, der ihm Zwi­schen­schrit­te erklärt, sehr wohl.

Modell­ler­nen: Ein Kind weiß nicht, wie man mit Frus­tra­ti­on umgeht, aber es kann beob­ach­ten, wie ande­re sich selbst beruhigen.

Inklu­si­on bedeu­tet nicht, alle auf den­sel­ben Aus­gangs­punkt zu stel­len. Es bedeu­tet, für jeden einen erreich­ba­ren nächs­ten Schritt zu definieren.

Sprache als Schlüssel zur Teilhabe

Wygot­ski hat früh erkannt: Spra­che ist nicht nur Kom­mu­ni­ka­ti­on, son­dern „Den­ken in Bewe­gung“. Wer Spra­che ent­wi­ckelt, ent­wi­ckelt sich selbst. Das ist beson­ders rele­vant in der Arbeit mit Kin­dern mit Beeinträchtigungen.

Gera­de in der För­de­rung von sprach­li­chen und kogni­ti­ven Fähig­kei­ten gilt:

Kin­der brau­chen sprach­li­che Model­le. Wer nur „Ball holen!“ hört, lernt kei­ne voll­stän­di­gen Sät­ze. Wer aber hört „Kannst du mir bit­te den Ball geben?“, der lernt Struktur.

Spra­che ist Werk­zeug, nicht nur Aus­druck. Kin­der soll­ten nicht nur nach­spre­chen, son­dern Spra­che nut­zen, um Pro­ble­me zu lösen. „Was könn­ten wir tun, wenn der Turm immer wie­der umfällt?“ ist ein ganz ande­rer Impuls als „Mach es noch­mal richtig!“

Die inne­re Spra­che muss sich ent­wi­ckeln. Vie­le Kin­der mit Beein­träch­ti­gun­gen haben Schwie­rig­kei­ten, ihr Den­ken in Wor­te zu fas­sen. Sie brau­chen Unter­stüt­zung dar­in, ihre Gedan­ken laut aus­zu­spre­chen und dann zu verinnerlichen.

Päd­ago­gen soll­ten daher weni­ger auf das Kor­ri­gie­ren von Feh­lern fokus­sie­ren und mehr auf das Ermu­ti­gen zum Aus­druck. Ein Kind, das spricht – in wel­cher Form auch immer – ent­wi­ckelt sich.

Vom „Ich kann nicht“ zum „Ich versuche es“

Wygots­ky hat uns gezeigt: Ein Kind schei­tert nicht an sei­nen Gren­zen, son­dern an den feh­len­den Brü­cken über die­se Gren­zen hin­weg. Unser Job ist es, die­se Brü­cken zu bauen.

Das bedeu­tet:

Statt nach Defi­zi­ten zu suchen, nach Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten fragen.

Statt Auf­ga­ben zu ver­ein­fa­chen, Unter­stüt­zung an den ent­schei­den­den Stel­len bieten.

Statt Kin­der in fes­te Kate­go­rien ein­zu­tei­len, ihre indi­vi­du­el­len Wege ernst nehmen.

Das ist Inklu­si­on in der Pra­xis. Nicht nur ein Kon­zept, son­dern eine täg­li­che, situa­ti­ve Entscheidung.

Wer mit Kin­dern arbei­tet, hat die Wahl: Las­se ich sie strau­cheln? Zie­he ich sie hin­durch? Oder baue ich ein Gerüst, das ihnen hilft, selbst den nächs­ten Schritt zu gehen?

Wygot­ski gibt uns die Antwort.

Das bedeu­tet aber nicht, dass es kei­ne Gren­zen gibt. Es wird immer Unter­schie­de zwi­schen Men­schen geben — phy­si­sche, psy­chi­sche, ent­wick­lungs­be­ding­te. Die eine hat ande­re Fähig­kei­ten als der ande­re. Abso­lu­te Inklu­si­on wird es nie geben, wes­halb all­zu radi­ka­le Inklu­si­ons­vor­stel­lun­gen zu einer Art „gefähr­li­cher Ver­ein­fa­chung“ führen.

Die Grenzen der Inklusion

Inklu­si­on war ein­mal ein päd­ago­gi­sches Ide­al, für das es sich zu enga­gie­ren lohn­te. Heu­te ist Inklu­si­on oft auch eine Paro­le. Wer die Paro­le hin­ter­fragt, gilt als reak­tio­när. Wer nach ihren Gren­zen fragt, als herz­los. Doch Gren­zen gibt es den­noch. Wygotskis Theo­rien über Ent­wick­lung und Ler­nen waren nie ein Frei­fahrt­schein in eine Welt, in der alle Bar­rie­ren fal­len und jedes Indi­vi­du­um unter allen Umstän­den in jede Umge­bung qua­si zwangsein­ge­glie­dert wer­den kann. Ent­wick­lung geschieht nicht in der Beliebigkeit.

Wygot­ski sprach von der Zone der nächs­ten Ent­wick­lung. Ein Kind kann das meis­tern, was knapp über sei­nem aktu­el­len Kom­pe­tenz­ni­veau liegt – vor­aus­ge­setzt, es hat die rich­ti­ge Unter­stüt­zung. Ler­nen geschieht im Span­nungs­feld zwi­schen Her­aus­for­de­rung und Beglei­tung. Das bedeu­tet aber auch: Es gibt eine Gren­ze. Wird die­se über­schrit­ten, wird Unter­stüt­zung zu Über­for­de­rung. Im Fal­le der Über­for­de­rung wird das Fest­hal­ten an der Idee der Inklu­si­on schnell zu einem ideo­lo­gi­schen Kon­zept, das sich von der Rea­li­tät gelöst hat.

Heu­te ist Wygotskis Gedan­ke vie­ler­orts in einen Inklu­si­ons-Dog­ma­tis­mus ver­wan­delt wor­den. Die Zone der nächs­ten Ent­wick­lung ist nicht mehr der Maß­stab, son­dern wird zum Wunsch­traum einer durch­läs­si­gen Gesell­schaft. Jedes Indi­vi­du­um soll sich ohne Ein­schrän­kun­gen zu allem ent­wi­ckeln kön­nen, wozu es bereit oder moti­viert ist.

Aber die Rea­li­tät sieht anders aus:

  • Kin­der mit Behin­de­run­gen in Regel­schu­len, ohne aus­rei­chen­de Res­sour­cen für indi­vi­du­el­le Förderung.
  • Arbeits­märk­te, die for­mell inklu­siv sind, aber infor­mell aus­son­dern, weil die Struk­tu­ren nicht ange­passt wurden.
  • Päd­ago­gi­sche Pro­gram­me, die Mög­lich­keit mit Erfolg ver­wech­seln – nur weil jemand phy­sisch anwe­send ist, bedeu­tet das nicht, dass er gleich­be­rech­tigt teil­ha­ben kann.

Inklu­si­on ist kein Selbst­zweck. Sie ist ein Mit­tel, um Men­schen ech­te Teil­ha­be zu ermög­li­chen. Aber wenn die Struk­tu­ren nicht stim­men, wenn Res­sour­cen feh­len oder wenn man nicht mehr fragt, ob die Umge­bung dem Ein­zel­nen tat­säch­lich gerecht wird, dann schlägt Inklu­si­on in Belie­big­keit (oder schlim­mer noch: in ideo­lo­gie­ge­trie­be­ne Belie­big­keit) um. Ganz zu schwei­gen von tat­säch­li­chen Unter­schie­den zwi­schen Men­schen, die man im Schein­wer­fer­licht all­zu kri­ti­scher (dis­kri­mi­nie­rungs­sen­si­bler und so wei­ter) Theo­rien kaum mehr anspre­chen kann.

Neue Monster – wenn alles erlaubt ist

Das gro­ße Miss­ver­ständ­nis der moder­nen Inklu­si­ons­de­bat­te ist die Annah­me, dass jede Form der Dif­fe­renz gesell­schaft­lich aus­ge­gli­chen wer­den muss. Das ist eine gefähr­li­che Ver­ein­fa­chung. Denn nicht jede Dif­fe­renz ist eine Unge­rech­tig­keit. Man­che Unter­schie­de sind real. Man­che Her­aus­for­de­run­gen sind durch Akzep­tanz allein nicht zu lösen.

Wenn man die­se Rea­li­tät nicht aner­kennt, ent­ste­hen neue Mons­ter:

Das Mons­ter der fal­schen Gleich­heit: Wenn jede Form von Leis­tung gleich bewer­tet wird, ver­schwin­det der Anreiz zur Anstren­gung. Nicht jeder Unter­schied ist eine Bar­rie­re, die besei­tigt wer­den muss. Man­che Unter­schie­de gehö­ren zum Leben.

Das Mons­ter der struk­tu­rel­len Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit: Wenn das Sys­tem die Ver­ant­wor­tung für jede indi­vi­du­el­le Her­aus­for­de­rung über­nimmt, ver­lie­ren Indi­vi­du­en die Mög­lich­keit, sich selbst zu ent­wi­ckeln. Die Gesell­schaft kann unter­stüt­zen, aber sie kann nicht die Arbeit der Ent­wick­lung und schon gar nicht die Akzep­tanz von Gren­zen übernehmen.

Das Mons­ter der Ver­leug­nung von Gren­zen: Inklu­si­on wird zur Ideo­lo­gie, wenn sie nicht mehr fragt, wo sie hilft, son­dern nur noch for­dert, dass sie immer und über­all stattfindet.

Wygot­ski war kein Idea­list im heu­ti­gen Sin­ne. Er wuss­te, dass Men­schen durch Unter­stüt­zung wach­sen – aber nur dort, wo Wachs­tum mög­lich ist. Sei­ne Theo­rie war kein Frei­brief für eine belie­bi­ge Welt ohne Unter­schie­de, son­dern eine Auf­for­de­rung zur klu­gen Anpassung.

Ein Inklusionsbegriff, der die Realität ernst nimmt

Die Lösung ist nicht weni­ger Inklu­si­on, son­dern eine Inklu­si­on, die Gren­zen aner­kennt, eine, die nicht nur auf Teilnah­me setzt, son­dern auf ech­te Teilhabe.

Ent­wick­lung muss geführt wer­den, sie ist kein Selbst­zweck und kann nicht erzwun­gen wer­den. För­de­rung bedeu­tet nicht immer und über­all das glei­che. Bar­rie­ren sind nicht immer ein Pro­blem – manch­mal sind sie ein­fach ein Spie­gel der Realität.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz bei Herbert Bock (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Bock) Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips: www.kulturderhinterfragung.de). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.