Manchmal müssen Menschen Dinge durchstehen, die sie an ihre Grenzen bringen. Glaubt man Statistiken, dann nehmen die damit verbundenen psychischen Probleme in erheblichem Maße zu. Die Frage ist hier, ob dem tatsächlich so ist, oder ob hier eine komplexe Interaktion zwischen verschiedenen Faktoren vorliegt:
- Unsere Beobachtungs- und Diagnoseinstrumente werden differenzierter und sensibler. Wir „entdecken“ quasi immer neue Störungsbilder, auch solche, über die man noch vor wenigen Jahren vielleicht gelacht hätte.
- Wir intervenieren eher und umfassender. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass die Menge an Psychopharmaka, die von amerikanischen Kindern eingenommen wird, die Menge aller anderen von eben diesen Kindern im gleichen Zeitraum eingenommenen Medikamente übersteigt? Kinder werden schneller als noch vor wenigen Jahrzehnten zum Psychologen oder Psychiater geschickt, und nicht selten hat man den Eindruck, dass den betreffenden Kollegen auch etwas einfällt – ob es nun fundiert ist oder nicht. Ich fürchte, dass eine große Anzahl übertriebener – oder im noch schwerer wiegenden Fall: falscher – Diagnosen gestellt wird. Von den (selbst-)stigmatisierenden Folgen vorschneller Diagnosen ganz zu schweigen.
- Wie erfinden eine Menge neuer Namen, und wir benennen Dinge gern zeitgemäß. Viele der neueren Störungsbilder klingen nämlich besser als andere. So steht man vor sich selbst und den Kollegen besser da, wenn man sich und anderen sagt, man habe sich überarbeitet und leide deshalb an Burnout-Symptomen. Das kommt irgendwie „sportlicher“ daher als die behäbige alte Depression.
- Man kann die neuen Möglichkeiten nutzen, um sich ungeliebten Verpflichtungen zu entziehen. Nicht jede festgestellte posttraumatische Belastungsreaktion ist auch tatsächlich eine, und es ist dramatisch, welche Schäden damit angerichtet werden – insbesondere für diejenigen, die wirklich daran leiden.
Ich will den folgenden Betrachtungen also ein gehöriges Maß an Skepsis voranschicken. Man muss sich gut überlegen, wann und wofür man Bezeichnungen wie „Burnout“ oder „PTBS“ benutzt. Man sollte nicht vergessen, dass, wenn sich eine Mär einmal herumgesprochen hat, auch schlechte Beispiele Schule machen. „Man kann auch traumatisiert werden, wenn man eine traumatische Geschichte hört.“ – das ist einer jener Sätze, bei denen man sehr, sehr vorsichtig sein sollte. Auch ist nicht jede Person, die einen Unfall erlebt oder gesehen hat, davon traumatisiert. So etwas kann in einzelnen Fällen passieren, muss aber nicht. Nicht selten hat die Zuschreibung eines Traumas auch und vor allem etwas mit derjenigen Person zu tun, welche die Aussage trifft. Ein gewisses „Über-Mitleid“, im Helferberuf nicht selten anzutreffen, oder eine „eigene Geschichte“ mit dem betreffenden Thema, die durch immer neue Inszenierungen des Themas Stück für Stück verarbeitet – oder meistens: immer wieder von Neuem bearbeitet – wird, könnten manche der mitunter recht anmaßend formulierten und den Betroffenen bisweilen regelrecht übergestülpten Zuschreibungen auch erklären. Oder, und das ist der denkbar schlimmste Fall, die betreffenden Kolleginnen oder Kollegen bohren so lange nach, bis das Trauma, einer Scheinerinnerung gleich, wie von selbst entsteht.
Wenn man eine solche „Kultur des Psychologisierens“ zulässt, dann wird irgendwann auch das Begräbnis des Familienhamsters zum traumatischen Ereignis – von den Auswüchsen der in manchen Fällen vorher jahrelang zelebrierten Anthropomorphisierung ganz zu schweigen. Was soll aus so erzogenen Menschen werden, wenn wirklich einmal etwas passiert?
Das heißt nicht, dass man den familieneigenen Hamster nicht begraben soll, und dass Kinder über den Tod eines geliebten Haustiers nicht traurig sein sollen. Die Frage ist nur, ob man die Trauer hochstilisiert und die Emotionen dadurch quasi konserviert. Wenn ein Tier stirbt, sind Kinder, mitunter auch Erwachsene, traurig. Das ist auch gut so. Trauer ist dazu da, dass Abschiede verarbeitet werden können. Aber wenn es um die Trauer selbst bzw. ihre Inszenierung geht, oder/und wenn die Eltern den Kindern inszenierte Trauer vormachen und durch eigene Handlungen die Trauer der Kinder immer wieder anstacheln, dann stimmt etwas nicht. Mit den Eltern, versteht sich.
Zurück zu den Grenzen: manchmal passiert etwas, das Menschen aus der Bahn werfen kann. Nehmen wir einmal an, es handelt sich um einen schweren Unfall in einem Arbeitsteam. Zwei Teammitglieder sind betroffen, einige haben den Unfall gesehen, andere haben nur die damit verbundenen Geräusche wahrgenommen. Nur ein kleiner Teil des Teams war nicht vor Ort. Man stabilisiert die verletzten Personen und ruft den Notarzt. Retter bringen die Verletzten ins Krankenhaus. In den folgenden Stunden und Tagen lassen sich in dem betreffenden Team drei Arten von Reaktionen beobachten. Die Reaktionen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Intensität und Dauer.
Erste Gruppe: Diese Menschen zeigen recht stabile Reaktionsmuster. Sie erschrecken, erleben vielleicht kurz auch schockähnliche Zustände, stabilisieren sich aber schnell und zeigen auch später in der Regel kaum oder keine Belastungsreaktionen. In der akuten Situation selbst bleiben sie vergleichsweise gefasst und helfen, wo es notwendig ist. Diese Menschen machen in der Regel nicht viel Aufhebens um ihre „Coolness“ und unterscheiden sich darin fundamental von jenen, die keine Gelegenheit auslassen, ihre „Einsatzerfahrung“ oder gar „Härte“ anzupreisen.
Zweite Gruppe: Während die erste Gruppe nach meinen Beobachtungen in der Regel etwa ein Drittel der Betroffenen ausmacht, zeigt ein mindestens genauso großer, mitunter noch etwas größerer Teil der Betroffenen Reaktionsmuster, die sich zu einer zweiten Gruppe zusammenfassen lassen. Oft zeigen diese Menschen in der Situation selbst keine Belastungserscheinungen. Einige werden sogar schildern, regelrecht „neben sich“ gestanden und „funktioniert“ zu haben. Ausschlaggebend sind hier die Tage nach dem Ereignis. Betroffene berichten, dass sie schlecht schlafen, dass die Bilder nicht aus dem Kopf gehen, dass sie die Situation wieder und wieder erleben oder ständig daran denken. Manchmal spielen Selbstvorwürfe eine Rolle, dass das Ereignis womöglich hätte verhindert werden können, wenn der eine oder andere Gedanke eher gedacht worden wäre. Aktive Auseinandersetzung bis hin zur Konfrontation mit dem Ort des Geschehens und der wiederholten Bearbeitung der Schuldfrage sind hier hilfreiche Techniken. Dabei geht es keineswegs um die Klärung der Schuldfrage, sondern eher um deren Umdeutung, bis am Ende etwa eine Variante der folgenden Erkenntnis steht: „Es geht nicht darum, was hätte verhindert werden können, sondern darum, wie das in Zukunft verhindert werden kann.“ Wenn allerdings strafrechtlich relevante Faktoren eine Rolle spielen, kann dieser Prozess sehr lange dauern. In beinahe jedem Fall ist es hilfreich, diejenige Seite, die sich selbst Schuld zuschreibt oder der Schuld zugeschrieben wird, mit derjenigen zusammenzubringen, die betroffen ist, also verletzt wurde. Sind Tote zu beklagen oder liegt jemand im Koma, so sind (relativ zeitnahe) Begegnungen mit Angehörigen hilfreich – natürlich nur, wenn die beteiligten Seiten sich dies auch vorstellen können. Ich spreche hier absichtlich nicht gänzlich von Wollen, denn Wollen ist in solchen Situationen fast immer sehr ambivalent. „Vorstellen können“ trifft es eher. Geschieht dies, passiert Vergebung – und in der Folge vor allem Vergebung vor sich selbst. Auch wenn die ersten Schritte vielleicht marginal sind und lange dauern – solche ausgleichenden Handlungen sind, wenn möglich, mitunter sehr hilfreich, manchmal hilfreicher als manche noch so professionell ausgeführte Krisenintervention. In der Regel erholen sich die zur zweiten Gruppe gehörenden Betroffenen innerhalb einiger Tage bis weniger Wochen. Bilder verblassen, Träume werden seltener. Was bleibt, ist eine gewisse Vorsicht und die Fähigkeit, sensibel und genau hinzuschauen.
Dritte Gruppe: Ein dritter, in der Regel eher kleiner Teil der Betroffenen zeigt tiefer greifende Reaktionen. Im Grunde ähneln die Reaktionsmuster denen der zweiten Gruppe, sind aber schwerer und länger anhaltend. Zudem, und das ist das m. E. zentrale Merkmal, wird die Handlungsfähigkeit der Betroffenen mitunter regelrecht blockiert. Diese Personen brauchen länger, bis sie wieder arbeits- oder einsatzfähig sind. In vielen Fällen ist psychologische Unterstützung hilfreich, allerdings nur, wenn sie zielorientiert bleibt und nicht zu einer von Therapeuten- und Selbstmitleid angetriebenen „Versenkung ins Trauma“ führt. Die Betroffenen müssen sich ihre Handlungsfähigkeit regelrecht „zurückerobern“. Sie müssen lernen, mit ihrer Angst umzugehen. Dabei kann Begleitung helfen, aber falsche Begleitung kann mögliche Blockaden „konservieren“. Mitunter lernen Betroffene erst, dass sie traumatisiert sind, wenn es ihnen jemand einredet. Etwa wie jene Endvierzigerin, die endlich einmal eine Kur bewilligt bekommen hat und während dieser fünf oder sechs Wochen Gespräche mit einem besonders verständnisvollen Psychologen führt, der freundlich und einfühlsam erst alles versteht und sich dann behutsam nach den Vermutungen der Dame bezüglich der Ursachen ihrer Probleme erkundigt. Natürlich kommt dabei die Rede auf den Ehemann, den ach so distanzierten oder zurückgezogenen oder ganz und gar nicht spontanen Herrn zuhause. Und natürlich bleibt der Herr Therapeut ganz Fleisch gewordenes Verständnis. Seine Fragen führen zu intensiver Beschäftigung, und aus Reflexion wird dann nicht selten (Selbst-)Suggestion, und dann fährt die Dame nach Hause, und ihre erste Amtshandlung ist ein Anruf beim Scheidungsanwalt. Ich fürchte, dass es eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich der mitunter subtilen Wirkungen ihrer Handlungen kaum bewusst sind. So habe ich Kollegen kennengelernt, die in Momenten der Klarheit sagen: „Naja, wenn ich es mir recht überlege, eigentlich coache ich schon auf Trennung. Meistens jedenfalls.“
Zwischen den soeben beschriebenen drei Gruppen von Reaktionen, insbesondere zwischen der ersten und der dritten Gruppe, entstehen in der Regel Konflikte. „Habt Euch nicht so!“ oder „Reißt Euch zusammen!“, sagen die Angehörigen der ersten Gruppe oft. Sie meinen das in der Regel nicht böse, aber insbesondere die dritte Gruppe fühlt sich unter Druck gesetzt, wenn es heißt: „Wir müssen weitermachen! Heulen hilft den Kollegen jetzt auch nicht.“ Während die einen schon wieder loslaufen, müssen sich die anderen ihre Arbeitsfähigkeit erst langsam und unter großem Kraftaufwand zurückerobern. Hier gilt es, im Zuge der Intervention ein Gleichgewicht zu finden, also einerseits nicht zu viel zu psychologisieren und andererseits dem Druck, der von der ersten Gruppe ausgeht, Einhalt zu gebieten – und das insbesondere dann, wenn es um den Ausdruck von Gefühlen geht. Manchmal betreiben einige der Betroffenen aus der dritten Gruppe selbst eine Art „Küchenpsychologie“, mit der sie sich langsam aber sicher weiter in das Problem vertiefen. Sie beobachten sich dann selbst (oft auf der Grundlage von Ratgeberliteratur) und begeben sich so in eine Art Distanz zu ihrem Erleben. Es ist für Interventionisten daher gut, an dem Ziel der Arbeitsfähigkeit festzuhalten, nicht zu viel Psychologisierens zuzulassen und für tatsächlichen Austausch zwischen den Gruppen zu sorgen. Bei den Konflikten geht es nicht um Konsens oder gar „letztendliche Klärung, wer Recht hat“. Eher geht es darum, dass die jeweiligen Akteure die Personen mit den jeweils anderen Reaktionsmustern verstehen. Ziel ist zu akzeptieren, dass es so sein kann, wie es dem anderen geht. Wichtig ist nur dieses Verständnis, nicht jedoch eine tiefgehende Reflexion, bis alle alles nachfühlen können.
Wie gesagt: nicht psychologisieren, sondern die Bewältigungskräfte stärken. Wenn die Teammitglieder einander verstehen und sich gegenseitig helfen, ist erreicht, was zu erreichen war. Der Rest wird durch weitere gegenseitige Hilfe und das daraus erwachsende Verständnis bewirkt.