Erst zu viel Autorität und nun oft gar keine mehr: wie man falsche Selbstbilder prägt, und was passiert, wenn man die Prägung ganz unterlässt

Wenn man sich vor­stel­len möch­te, wie das Selbst­bild eines Men­schen ent­steht, ist es hilf­reich, zum Pro­zess des Erler­nens von Bedeu­tun­gen in der (frü­hen) Kind­heit zurück­zu­ge­hen. Mit der Spra­che eig­net sich ein Kind auch die ent­spre­chen­den Bedeu­tun­gen an – wobei die Bedeu­tun­gen nicht etwa gege­ben sind, son­dern sich gleich­sam aus der Bezie­hung des jeweils spre­chen­den Men­schen zum durch den Sprech­akt bezeich­ne­ten Gegen­stand erge­ben. Hat ein Mensch kei­ne Bezie­hung zu einem Gegen­stand (etwa wenn er ihn nicht gebrau­chen oder kei­ne Erin­ne­run­gen damit ver­bin­den kann), wird ihm die­ser auch kaum etwas bedeu­ten. Die Eltern reagie­ren auf das pri­mä­re Bin­dungs­be­dürf­nis ihres Kin­des – sind die­se Reak­tio­nen halb­wegs gleich­blei­bend und sicher, bil­det sich dar­aus ein kon­sis­ten­tes Bin­dungs­mus­ter. Durch die Reak­tio­nen der Eltern auf ihr Kind erfährt das Kind auch etwas über sich – bei­spiels­wei­se dass es geliebt wird. Ein Kind kann aus sich selbst her­aus nichts über sich erfah­ren – alles, was ein Kind über sich weiß, haben ande­re (zual­ler­erst die Eltern) in das Kind „hin­ein­ge­le­sen“. Das Kind han­delt zunächst auf der Basis sei­ner Bedürf­nis­se – und erfährt durch die Reak­tio­nen sei­ner Eltern, was sei­ne Hand­lun­gen bedeu­ten. Durch halb­wegs gleich­blei­ben­de Reak­tio­nen – eine spe­zi­el­le Hand­lung des Kin­des führt im Wie­der­ho­lungs­fall zu einer etwa glei­chen oder min­des­tens ähn­li­chen Reak­ti­on der Eltern – bil­den sich mit der Zeit sta­bi­le Bedeu­tungs- und Hand­lungs­mus­ter. So lernt ein Kind, wer es selbst ist, und wie es han­deln soll. Spä­ter sind die­ses Bild und die ent­spre­chen­den Hand­lungs­mus­ter fast selbst­ver­ständ­lich und dem­entspre­chend kaum hinterfragbar.

Bei einem so sen­si­blen Pro­zess wie der Prä­gung eines Selbst­bil­des kann es zu einer gan­zen Rei­he von Stö­run­gen oder Ver­zer­run­gen kom­men. Eine der wahr­schein­lich häu­figs­ten Stö­run­gen tritt auf, wenn Kin­der abwer­tend oder gar gewalt­tä­tig erzo­gen wer­den. Das Resul­tat ist häu­fig eine zutiefst unsi­che­re Per­sön­lich­keit. Befragt man selbst­un­si­che­re Per­so­nen, so wird man hören, dass eine so gepräg­te Unsi­cher­heit nicht „weg­geht“, son­dern dass sie nur „kom­pen­sier­bar“ ist – nicht sel­ten durch beruf­li­che Tätig­keit. Die beruf­li­che Leis­tung und der Sta­tus, den man dadurch gewinnt, „heilt“ die Ver­let­zun­gen – ein wenig, aber nie voll­stän­dig (die Wir­kung bleibt meist situa­tions- oder bereichs­be­zo­gen: beruf­li­che Leis­tung redu­ziert die Unsi­cher­heit in beruf­li­chen Umge­bun­gen, hat aber nur eine gerin­ge und oft nur vor­über­ge­hen­de Wir­kung auf die Lebens­be­rei­che über die beruf­li­che Welt hin­aus). Man­che ent­wi­ckeln einen regel­rech­ten „Hun­ger nach Leis­tung“, wer­den zu bis­wei­len sehr erfolg­rei­chen Per­sön­lich­kei­ten – nur eben oft mit dem Man­ko, dass es nie genug ist, dass sie immer wei­ter müs­sen, und dass sie sich auf jeder erklom­me­nen Stu­fe wie­der genau­so füh­len wie am Anfang aller ande­ren Stu­fen davor. Der „Hun­ger“ – das Bedürf­nis nach Kom­pen­sa­ti­on – bleibt schwer zu stillen.

Ist man nun als Kind bei­spiels­wei­se abwer­tend erzo­gen wor­den – hat man also über sich gelernt, „nicht genug“ zu sein, oder schlim­mer noch: nichts wert zu sein – so wird man aus Grün­den des Selbst­schut­zes ler­nen, dies zu ver­ber­gen, um sich nicht damit aus­ein­an­der­set­zen zu müs­sen. Eine mög­li­che – und nicht sel­te­ne – Reak­ti­on besteht im Ergrei­fen eines Hel­fer­be­rufs. Da Men­schen, denen man gehol­fen hat, in der Regel dank­bar sind, und da Hil­fe einem Hel­fer auch die sta­tus­mä­ßig „höhe­re“, weni­ger ver­letz­li­che Sta­tus-Posi­ti­on sichert (die hil­fe­su­chen­de Sei­te macht sich ver­letz­lich, indem sie zugibt, Hil­fe zu brau­chen; die hel­fen­de Sei­te gewinnt an Sta­tus, weil ihr die Kom­pe­tenz zu hel­fen zuge­schrie­ben wird), suchen selbst­wert­ver­letz­te Men­schen gern die – oft als „pro­fes­sio­nel­le Distanz“ umfor­mu­lier­te – emo­tio­na­le „Ruhe“ der sta­tus­mä­ßig höhe­ren Posi­ti­on des Hel­fers auf. Dras­tisch for­mu­liert: Hil­fe ist eine Form von Macht, und – mit Epi­kur gespro­chen – Macht ver­schafft eine gewis­se „See­len­ru­he“ (durch die mit der Macht ein­her­ge­hen­de Distanz).

Weil das tat­säch­lich aner­zo­ge­ne Selbst­bild schwer erträg­lich ist, bau­en vie­le selbst­un­si­che­re Men­schen ein „kom­pen­sa­to­ri­sches Selbst­bild“ auf und ler­nen so zu han­deln, dass die Umwelt fort­an vor allem das „kom­pen­sa­to­ri­sche Selbst­bild“ bestä­tigt. Bei einem selbst­un­si­che­ren Men­schen, der einen Hel­fer­be­ruf ergreift, wird das sehr deut­lich: aus dem „Ich bin nicht genug!“ wird eine hohe Hel­fer­mo­ti­va­ti­on, die für aner­ken­nen­de und dank­ba­re Reak­tio­nen sorgt – was schnell zu „Hel­fers Opi­um“ wer­den kann, wenn sie oder er davon nicht genug bekom­men kann. Im Prin­zip leben Men­schen mit sol­chen „kom­pen­sa­to­ri­schen Selbst­bil­dern“ dann eine Art Lüge – die zwar alles ande­re als unver­ständ­lich ist, aber trotz­dem eine Lüge bleibt. Und da man sich schlecht selbst belü­gen kann, weil man sein Selbst­bild immer aus den Reak­tio­nen ande­rer gene­riert, „benutzt“ man qua­si die Reak­tio­nen ande­rer, um sei­ne eige­ne Lüge auf­recht­zu­er­hal­ten. Ein trau­ri­ger, im Grun­de unver­schul­de­ter Teu­fels­kreis, aus dem man spä­ter höchs­tens durch Refle­xi­on, Infra­ge­stel­lung, Bera­tung, Super­vi­si­on, The­ra­pie o. ä. aus­stei­gen kann.

So viel zu den „kom­pen­sa­to­ri­schen Selbst­bil­dern“. Über die Fol­gen von Abwer­tung und Gewalt in der Erzie­hung ist viel geforscht und geschrie­ben wor­den, und es ist auch klar, wie Bera­te­rin­nen und The­ra­peu­ten damit umge­hen kön­nen – auch wenn es nicht immer hilft. Durch die Ver­än­de­rung des Erzie­hungs­stils in den letz­ten Jahr­zehn­ten hat sich jedoch noch eine ande­re „Selbst­bild-Stö­rung“ ent­wi­ckelt, die – zumin­dest noch – zu wenig Beach­tung fin­det ange­sichts der Dimen­sio­nen, die sie mitt­ler­wei­le ange­nom­men hat. Aber hier strei­ten sich die Geis­ter, und ich will die­sem Streit gern einen wei­te­ren Bei­trag hinzufügen:

Was pas­siert, wenn die ein Kind Erzie­hen­den mehr oder min­der gar nichts mehr für die Prä­gung eines Selbst­bilds tun? Wenn die Prä­gung an und für sich in Fra­ge gestellt wird? Wenn man Angst hat, zu stark zu prägen?

Aus der gut gemein­ten Inten­ti­on des eman­zi­pa­to­ri­schen Ansat­zes ist eine Nicht-Erzie­hung gewor­den. An die Stel­le von zu viel Auto­ri­tät ist die Angst vor Auto­ri­tät getre­ten. Wie soll aber ein Kind ler­nen, wer es ist, wenn ich mich als Mut­ter oder Vater unter­ord­ne, wenn ich ihm Ent­schei­dun­gen über­las­se, wenn ich kaum mehr reagiere?

Das Kind ent­wi­ckelt dann über­haupt kein Selbst­bild mehr – es bleibt qua­si allein in sei­ner Welt, weil es die kate­go­ria­le Vor­aus­set­zung des Begrei­fens ande­rer nicht erwor­ben hat. Die­se „kate­go­ria­le Vor­aus­set­zung“ besteht in der Fähig­keit zur Aner­kennt­nis ande­rer Men­schen – durch die ich dann erfah­ren könn­te, wer ich eigent­lich bin. Für eine aus­führ­li­che­re und ver­ständ­li­che­re Erklä­rung die­ses Zusam­men­hangs sie­he die­sen Bei­trag  oder Win­ter­hoffs Buch „War­um unse­re Kin­der Tyran­nen wer­den“.

Der „päd­ago­gi­sche Super­gau“ pas­siert, wenn Hel­fer mit „kom­pen­sa­to­ri­schen Selbst­bil­dern“ auf Kin­der tref­fen, die gar kei­ne Gren­zen mehr ken­nen und ein „um sich selbst rotie­ren­des, hoch­gra­dig nar­ziss­ti­sches Selbst­bild“ ent­wi­ckelt haben: man­che die­ser Hel­fer hal­ten den unge­brems­ten Ego-Trip der betrof­fe­nen Kin­der für Selbst­be­wusst­sein und argu­men­tie­ren, dis­ku­tie­ren, beten gesund – immer in dem Glau­ben, dass sie von den Kin­dern nur das ver­lan­gen kön­nen, was sie selbst auch ver­tre­ten – womit sie den Feh­ler bege­hen, den vie­le Eltern und Erzie­her heu­te unbe­wusst machen: Kin­der zu behan­deln wie Erwach­se­ne. Die Fra­ge, wie man über­haupt in die Lage ver­setzt wird, etwas ver­tre­ten zu kön­nen, stel­len sie sich nicht. Haben wir Kin­der frü­her unnö­tig – und teils mit ver­hee­ren­den Fol­gen – klein gemacht, machen wir sie heu­te – mit eben­so ver­hee­ren­den Fol­gen – groß.

Die zen­tra­le Fra­ge bleibt mei­nes Erach­tens, wie sich siche­re Kin­der ent­wi­ckeln. Ein siche­res Kind braucht siche­re Reak­tio­nen von­sei­ten sei­ner Eltern und Erzie­her. Um über­haupt Empa­thie zu ent­wi­ckeln, gehört die Grund­er­fah­rung, dass es Gren­zen gibt, die ande­re Men­schen set­zen. Nur so merkt ein Kind, dass es (a) ande­re Men­schen gibt, und dass die­se (b) womög­lich etwas ande­res wol­len als man selbst. So ent­steht die Fähig­keit zum Ver­ständ­nis ande­rer Men­schen. Haben die selbst­un­si­che­ren Men­schen, von denen oben die Rede war, oft zu viel Empa­thie, haben die klei­nen „BIG MEs“ oft gar kei­ne Empa­thie. Um es mit Jes­per Juul zu sagen: Es ist ein Lie­bes­dienst, Gren­zen zu set­zen. Und kön­nen es die Eltern schon nicht, dann müs­sen es wenigs­tens die am Kind arbei­ten­den Päd­ago­gen kön­nen. Augen­hö­he mit Fünf­jäh­ri­gen ist nicht nur eine päd­ago­gi­sche Traum­tän­ze­rei – sie ist gefähr­lich, weil sie Kin­der zu Ego-Rake­ten macht. (Sie­he dazu auch einen inter­es­san­ten Arti­kel in der Welt.)

Wir glau­ben nur so gern dar­an, weil wir ja alles bes­ser machen wol­len als frü­her. Die Fra­ge ist, wo der funk­tio­nie­ren­de Mit­tel­weg zwi­schen „Auto­ri­tät“ einer­seits und dem „Ver­mei­den der nega­ti­ven Fol­gen von kal­ter oder gar gewalt­tä­ti­ger Auto­ri­tät“ ande­rer­seits ver­läuft. Jeden­falls liegt die Ant­wort nicht im heu­te stark ver­brei­te­ten „Behan­deln von Kin­dern wie Erwach­se­ne“, son­dern eher im „Set­zen von Gren­zen als not­wen­di­ge Entwicklungsvoraussetzung“.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.