Die qualitative Forschung beruht auf den Prämissen des symbolischen Interaktionismus sensu Blumer (2013), der seine Arbeit wiederum an der Philosophie George Herbert Meads (2013) orientiert. Auch die frühen Werke eines der Begründer der Grounded Theory (Anselm Strauss: Mirrors and Masks) basieren auf den Betrachtungen von George Herbert Mead (2013). In der qualitativen Forschung geht es weniger um die Frage nach dem Warum, sondern eher um das Wie oder Wozu von Handlungen, weshalb sich die Aufmerksamkeit eher auf Kommunikation richtet und Relationen wichtiger erscheinen als einzelne Variablen. Bei der Erforschung menschlichen Zusammenlebens ist die Exploration aus Sicht des symbolischen Interaktionismus das Mittel, mit dessen Hilfe ”ein Forscher eine enge und umfassende Bekanntschaft mit einem Bereich des sozialen Lebens herstellen kann, der ihm vorher nicht vertraut und daher unbekannt war“ (Blumer 2013, S. 114). Untersuchungen seien deshalb so anzulegen, dass die Fragestellungen und Probleme, die Ausrichtung von Untersuchungen, die Daten, die analytischen Bezugnahmen und die Interpretationen sowohl aus dem empirischen Geschehen hervorgehen als auch in ihm begründet bleiben (ebd.).
Hier zeigt sich eine Parallele zu den Vorstellungen Whiteheads von einem idealen Forschungsprozess:
„Die wahre Forschungsmethode gleicht einer Flugbahn. Sie hebt ab von der Grundlage einzelner Beobachtungen, schwebt durch die dünne Luft phantasievoller Verallgemeinerung und versenkt sich dann wieder in neue Beobachtungen, die durch rationale Interpretation geschärft sind.“ (Whitehead 1987, S. 34)
Blumer versteht unter dem Verfahren der Exploration eine flexible, zwischen geeigneten Betrachungsperspektiven und Methoden wechselnde sowie neue Denkrichtungen erkundende Vorgehensweise, in der sich bspw. mit zunehmender Informationsdichte und vor allem wachsendem Verständnis auch die Meinung darüber ändern kann, was bedeutsame Daten sind. Vorstellungen darüber, was Daten sind und wie Verallgemeinerungen zu formulieren oder Verbindungslinien zwischen Elementen zu ziehen sind, sind in engem Kontakt mit dem in der empirischen Welt Vorgefundenen zu entwickeln. An dieser Stelle werden die Unterschiede zu der, wie Blumer sie nennt, ”ein wenig anmaßenden Position des Forschers“ (Blumer 2013, S. 114) im ”bestehenden wissenschaftlichen Programm“ (ebd.) deutlich, das von Forschern verlange, bereits vor einer Studie ein klar abgegrenztes und strukturiertes Bild von einem Problem sowie exakte Vorstellungen davon zu haben, welche Arten von Daten gesammelt, mit welchen Techniken diese analysiert und in welche vorgefassten Kategorien die Ergebnisse eingeordnet werden sollen. Es seien alle ethisch vertretbaren Techniken erlaubt. Blumer nennt bspw. direkte Beobachtung, Interviews, Gruppendiskussionen und die Auswertung von Dokumenten. Falls es sinnvoll erscheine, könne man auch Elemente auszählen. Anstelle beim Einsatz solcher Methoden sklavisch Regeln zu befolgen, solle man seine Vorgehensweise lieber an die Umstände anpassen und sich von Kriterien wie Angemessenheit oder Fruchtbarkeit leiten lassen. Des Weiteren sollte man vor allem nach solchen Untersuchungsteilnehmern suchen, die gute Beobachter seien. Einige gut informierte, scharfe Beobachter seien ”ein Vielfaches gegenüber einer repräsentativen Stichprobe wert“ (Blumer 2013, S. 117). Im Ergebnis liefert die Exploration eine ”vollständigere beschreibende Darstellung“ (ebd.) der empirischen Welt.
”Solch eine Gruppe, die gemeinsam ihren Lebensbereich diskutiert und ihn intensiv prüft, wenn ihre Mitglieder sich widersprechen, wird mehr dazu beitragen, die den Lebensbereich verdeckenden Schleier zu lüften, als jedes andere Forschungsmittel, das ich kenne.“ (Blumer 2013, S. 115)
Die objektive Hermeneutik, die Sequenzanalyse, die Konversationsanalyse und ”die festeren Varianten der Grounded Theory sind nur einige der Versuche, abstrakte Auswertungsmethoden zu erdenken, deren gewissenhafte und detailgetreue Anwendung den Forscher befähigen soll, die Bedeutungen im Feld nachzuvollziehen. Die gegenwärtige interpretative Soziologie hat einen beeindruckend komplexen Methodenapparat entwickelt, der algorithmische Auswertungsprogramme bietet, die die Interpretationsleistungen in einer Mechanik liefern sollen, die aussieht, als stünde sie an des Forschers Statt: ein obskures Expertentum der Interpretation, in dem die Expertise nicht langer Immersion und intimer Bekanntschaft mit dem erforschten Feld entspringt, sondern die Kenntnis einer Interpretationsmethode, die dann unter dramatischem Ausschluss kreativen Einfühlens Erkenntnisse generieren soll (ein Ausschluss, der nur dramatisiert sein kann, denn wäre dieses kreative Einfühlen tatsächlich ausgeschlossen, gäbe es keine Ergebnisse, die diese Expertenmethoden liefern könnten). Das ist weiterhin eine Fortführung des Eindrucksmanagements, dass nur feste, strukturierte wissenschaftliche Methodologien zu einem wissenschaftlichen Ergebnis führen könnten; auch das hätte Blumer für eine künstliche Strukturierung gehalten, die die Einsichten, die sie generieren soll, vielmehr systematisch obskuriert.“ (Bude & Dellwing 2013, S. 20)
Der symbolische Interaktionismus hält an der ”Notwendigkeit der Überprüfung theoretischer Aussagen fest“ (Lamnek 2005, S. 41). Im Zuge der Exploration entstehen Beschreibungen der empirischen Welt, aus denen sich bereits erste Antworten zu den aufgeworfenen Fragen ergeben können. In einem zweiten Schritt sollen diese Beschreibungen analysiert und theoretisch formuliert werden. Im Zuge dieser wissenschaftlichen Analyse sollen allgemeine Beziehungen aufgedeckt, situationsspezifische Bezüge geschärft und theoretische Entwürfe formuliert werden. Diese Analyse soll in einer direkten Prüfung der empirischen Welt vorgenommen werden. Man könnte hier, so Blumer (2013, S. 117), das Schema der gegenwärtig populären positivistischen Methodologie anwenden – man benutze eine Theorie, um ein zu untersuchendes Problem zu formulieren, benenne abhängige und unabhängige Variablen, verwende dann präzise Methoden, um Daten zu gewinnen und analysiere wiederum mit präzisen Methoden die Beziehungen zwischen den Variablen und benutze dann wieder die Theorie bzw. das Modell, um die gefundenen Beziehungen zwischen den Variablen zu erklären:
„Die Anwendung dieses konventionellen Schemas auf die durch Exploration gewonnene Darstellung wäre sicherlich ein Gewinn gegenüber dem, was man im Allgemeinen tut, insofern als man mit Daten arbeiten würde, die aus dem tatsächlichen Geschehen abgeleitet sind und nicht aus einer Vorstellung davon, was passiert.“ (Blumer 2013, S. 118)
Eine Überprüfung anhand des konventionellen Schemas greift nach Blumers Ansicht zu kurz, denn selbst wenn man wirklichkeitsgetreue Daten benutze, zwinge die konventionelle Methodologie die Daten immer noch in einen künstlichen Rahmen, der eine tatsächliche empirische Analyse ernsthaft einschränke, weil ”das Wesen der analytischen Elemente nicht exakt in der empirischen sozialen Welt“ (Blumer 2013, S. 118) verankert würde. Bei der Inspektion handelt es sich um ein Verfahren, bei dem (a) die gefundenen analytischen Elemente — nach Blumer sind dies ”Schlüsselelemente der Analyse“ (ebd.)
bzw. kategoriale Einzelelemente wie bspw. ”soziale Mobilität, Assimilation, charismatische Führerschaft, bürokratische Beziehung, Autoritätssystem, (…) Einstellungen“ (ebd.) — und (b) die Beziehungen zwischen ihnen intensiv auf ihren empirischen Gehalt hin geprüft werden. Unter Verweis auf Witzel (1982) interpretiert Lamnek (2005, S. 39) diese Definition als Forderung, Zusammenhänge zwischen den gefundenen Elementen herzustellen und im Lichte vorhandener Theorien zu diskutieren, wobei man sich den analytischen Elementen aus einer Vielzahl verschiedener Perspektiven annähert, auf diese Weise eine Reihe von Fragen an sie richtet und so ”unter Berücksichtigung solcher Fragen zu ihrer genauen Erforschung zurückkehrt“ (Blumer 2013, S. 119). Die in der Exploration gewonnenen Beschreibungen der empirischen Wirklichkeit werden also im Zuge der Inspektion direkt in der empirischen Welt geprüft und – vorher in theoretische Formen gegossen – im Lichte von Theorien reflektiert und geschärft.
Jörg Heidig