Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen. Auch nicht die Zeit, in die man geboren wurde. Ob Du Dich in der Welt, in der Du lebst, willkommen oder hineingeworfen fühlst, ist der Welt herzlich egal. Ob Du es leicht hast oder kämpfen musst, kannst Du Dir also erst einmal nicht aussuchen. Dennoch hast Du die Wahl, die Dinge so oder so zu sehen. Es gibt immer zwei Blickwinkel, aus denen Du eine Sache, einen anderen Menschen oder eine Situation betrachten kannst. Du kannst die Dinge als unveränderlich betrachten. Dann bist Du das Opfer der Umstände, Deiner Erziehung, Deiner Vorgesetzten usw. Oder Du kannst Dich fragen, welche Optionen Du hast, wie Du vielleicht anders über die Dinge denken kannst. Denn Du siehst die Dinge keineswegs so, wie die Dinge sind. Du siehst sie vielmehr so, wie Du bist. Oder anders: Die Art und Weise, wie Du die Dinge siehst, sagt weniger über die Dinge aus, als vielmehr etwas über Dich selbst. Es fängt also immer bei Dir an.
Im Grunde gibt es zwei Arten aufzuwachsen. Entweder haben die Eltern ihr Kind angenommen und zu dem einzigartigen Menschen heranwachsen lassen, der zu werden in ihrem Kind angelegt war. Oder die Eltern haben dies nicht getan und ihre Liebe an bestimmte Forderungen geknüpft. Dann wurde das Kind nicht zu dem Menschen, der es hätte werden können, sondern dann wurde aus dem Kind, wer es werden sollte. Natürlich sind diese beiden Erziehungsstile in ihrer reinen Form eher selten. Die meisten Menschen sind also zum Teil das, was sie werden konnten, und zum Teil das, was sie werden sollten.
Du kannst nun einmal überlegen, ob Du eher geworden bist, was Du werden solltest, oder ob Du mehr Deine Potentiale entfalten konntest. Die Antwort auf diese Frage ist wichtig. Sie bestimmt darüber, ob Du Dich selbst lieben kannst. Denn wer dafür geliebt wurde, wer sie oder er ist, der kann sich selbst auch so lieben, wie er oder sie eben ist. Wer aber für die Erfüllung von Erwartungen oder Forderungen geliebt wurde, der hat oft Probleme, sich selbst zu mögen – oder überhaupt zu kennen. Diese Menschen kennen von sich nur, was sie für andere darstellen, tun oder leisten. Wer für seine Eltern nur tat, was die Eltern wollten, wird sich später nicht mit der Betrachtung der eigenen Person zufrieden geben, sondern sie oder er wird sich immer – gewissermaßen durch eine von den Eltern übernommene und unbewusst angewöhnte Außenperspektive – anhand seiner dargestellten Eigenschaften, vollbrachten Leistungen usw. bewerten. Der Selbstwert ist dann nicht gegeben, sondern er muss immer wieder von Neuem hergestellt werden, und weil dieses Fass keinen Boden hat, wird daraus eine Lebensaufgabe, die kein Ende hat und jeden Tag von Neuem beginnt. Viele Menschen schlafen am Abend mit dem Gedanken ein, am Tag nicht genug geschafft zu haben. Das heißt so viel wie: „Ich habe den Erwartungen nicht entsprochen, ich muss noch mehr tun, noch besser sein.“ Hinter dem Perfektionismus steckt der (unbewusste) Verdacht gegen sich selbst, nicht genug zu sein.
Ob sich jemand selbst genügt oder für seinen Selbstwert immer etwas tun muss, hängt also zunächst von der Erziehung ab. Unter Erwachsenen lassen sich dementsprechend zunächst zwei Formen von Selbstbildern beobachten. Zum einen gibt es die Menschen, die sich selbst lieben können, weil sie für sich selbst und ihr so-Sein geliebt wurden. Zum anderen gibt es jene Menschen, die vor allem dafür Zuneigung erhalten haben, was sie – in Abweichung von sich selbst – dargestellt oder getan haben. Diese Menschen haben ein Selbstbild, das vor allem davon abhängt, was sie für andere sind oder leisten. Sie brauchen auch im Erwachsenenleben mehr oder weniger ständig Bestätigung dafür, dass sie in Ordnung sind. Nicht selten sind diese Menschen, was sie tun. Sie sind nicht sie selbst, sondern bestehen gleichsam aus Handlungen für andere, weil dies die Art und Weise ist, durch die sie sich erfahren, durch die sie gleichsam sind.
Es gibt eine tragische Steigerungsform, nämlich wenn die elterliche Anerkennung überhaupt nicht vorhanden war. Wenn Eltern ihr Kind mehr oder minder komplett ablehnen, entwickelt sich weder eine gesunde Selbstliebe noch ein auf die Erfüllung von Erwartungen anderer oder Leistung gerichtetes Selbstbild. In ihrer Jugend werden diese Menschen versuchen, der elterlichen Welt zu entkommen. Sie suchen sich nicht selten ein „größeres Ganzes“ und bauen eine Art kompensatorischen Selbstbildes auf, das vor allem in Abgrenzung zu den eigenen Eltern definiert wird. Weil diese Menschen wissen, wie sie gewiss nicht sein wollen und welche Fehler sie ganz bestimmt nicht wiederholen wollen, wünschen sie sich umso mehr, ganz anders zu sein und suchen nach Erfahrungen und Menschen, die sie in diesem Wunsch bestätigen. Sie bauen sich also ein neues Selbstbild auf, das ihren Wünschen von einem besseren Leben, von besseren Eigenschaften usw. entspricht. Das bedeutet aber nicht, dass sich diese Menschen selbst lieben können. Tief im Herzen bleibt das erfahrene Defizit am Leben. Sie suchen zwar nach Bestätigung und finden sie auch, aber in ihnen lebt eine starke Angst, den Maßgaben des selbst geschaffenen Bildes von sich doch nicht zu entsprechen. Diese Angst ähnelt der eines Lügners, entdeckt zu werden. Und so setzen sich diese Menschen umso mehr unter Druck, dem Bild von sich zu entsprechen, noch perfekter zu werden. Im Alltag äußert sich dies in Gedanken ähnlich diesem: „Wenn ich das noch schaffe, dann passt es endlich. Dann kann ich mich zurücklehnen, dann bin ich zufrieden.“ Aber diese Zufriedenheit kommt nicht. Ein Vorhaben folgt dem nächsten, nach kurzer Entspannung kehrt die Angst, doch nicht genug zu sein, zurück und treibt die betreffende Person zu neuen Leistungen an. Die Welt ringsum und die eigene „Performance“ werden immer perfekter, oft so perfekt, dass andere Menschen Bewunderung für die Leistungen, manchmal aber auch Angst vor den Maßstäben der Betreffenden verspüren.
Eine interessante Frage ist nun, was geschieht, wenn Menschen mit solchen kompensatorischen Selbstbildern lieben und Beziehungen führen. Du hast bestimmt schon einmal irgendwo gehört oder gelesen, dass nur lieben könne, wer sich selbst liebt, oder dass es egal sei, wen man heiratet, wenn man sich nur selbst liebe. Da ist etwas dran, aber das zu verstehen oder gar, wenn man selbst davon betroffen ist, zu ändern, ist alles andere als einfach.
Wenn ich nicht so recht weiß, wer ich bin, weil ich mein eigentliches, von meinen Eltern geschaffenes negatives Selbstbild tief in mir vergraben und mir stattdessen ein kompensatorisches Selbstbild geschaffen habe, dann suche ich mehr oder minder ständig nach Gelegenheiten, mein Selbstbild zu bestätigen. Ich handle also nicht aus mir selbst, sondern aus meinem Wunsch-Selbst heraus. So auch in der Liebe. Ich bewundere mein Gegenüber, weil ich selbst bewundert werden möchte. Ich bin großzügig mit den Fehlern des anderen („Das spielt keine Rolle. Du bist gut so. Ich liebe Dich, wie Du bist.“), weil ich hoffe, dass dann der andere auch so mit meinen Fehlern umgeht. Ich zeige aber meine Fehler nicht, weil ich sie selbst nicht sehen will. Ich lebe ja aus meinem Wunschbild heraus und will dieses Wunschbild bestätigt bekommen. Nun kann man sich aber nicht nahekommen, ohne dass der eigentliche Kern sichtbar wird. Spätestens unter Druck oder im Streit kommt mein negatives Selbstbild ans Licht. Ich kann aber, weil ich die negativen Seiten an mir vor mir selbst verberge, schlecht mit Kritik umgehen. Also schütze ich mich vor dieser Kritik: „Das war nicht so gemeint.“ ist die harmloseste Variante. „Du hast mich falsch verstanden.“ ist schon deutlicher. „Du bist doch selbst auch so.“ ist eine Steigerungsform, die deutlich macht, das man die Kritik nicht annehmen kann, weil sie das Bild, das man von sich selbst aufgebaut hat, in Gefahr bringt.
Wenn zwei Menschen mit kompensatorischen Selbstbildern zusammenkommen, lieben sich quasi nicht die Menschen selbst, sondern die Selbstbilder verbinden sich zu einer Hoffnung, endlich jemanden gefunden zu haben, der passt. Das bedeutet: Hinter dem Gefühl, dass da endlich jemand ist, der mich wirklich liebt, steckt die Hoffnung – und später im Konfliktfall: die Forderung – dass ich jemanden gefunden habe, der mein kompensatorisches Selbstbild bestätigt und mich nicht in die Gefahr bringt, mich mit mir selbst bzw. den abgelehnten Teilen meines Selbstes zu konfrontieren. Nun gibt es aber keine Beziehung ohne Probleme, Konflikte usw. Kritik wird also kommen. Da ich aber mein kompensatorisches Selbstbild wie ein Schild vor mir hertrage und die Beziehung aus diesem Wunschbild heraus führe, erlebe ich Kritik als Erschütterung nicht nur meines Selbstbilds, sondern – weil dieses Wunschbild ja der Ersatz für mein eigentliches (abgelehntes) Selbst ist – als existentiellen Angriff. Dementsprechend hart und bedrohlich sind dann oftmals die Verteidigungsstrategien. Was vielleicht als Kritik aus der Nähe, als aus Liebe heraus formulierter Wunsch gemeint war, wird als existentielle Bedrohung verstanden. Nicht selten wird dann sehr schnell mit dem Ende der Beziehung gedroht und/oder mit beinahe vollständigem Rückzug reagiert. Die Rückzugsreaktion stellt quasi das Selbstbild wieder her. Wenn ich allein bin, kann ich wieder der sein, der ich sein will. Die Drohung des Beziehungsabbruchs bringt den anderen dazu, sich zurückzunehmen und die Kritik nicht mehr zu äußern. Dass man damit die Beziehung immer weiter einschränkt, ihr so mit der Zeit die Lebendigkeit raubt und etwas tut, was man angesichts der Liebe, die man ja trotzdem spürt, eigentlich gar nicht will, wird einem kaum bewusst. Und wenn es bewusst wird, nimmt man sich vor, es nicht mehr zu tun. Weil aber der Selbstschutz, also der Schutz vor der Einsicht, dass man sich selbst eigentlich ablehnt, immer stärker ist, nimmt man die allmähliche Erosion der Liebe mehr oder minder bewusst in Kauf.
In der Anfangszeit solcher Beziehungen entwickeln Paare aus ihren kompensatorischen Selbstbildern heraus oft Phantasien gemeinsamer Stärke oder Größe. Das klingt dann in etwa so: „Was den anderen geschieht, kann uns gar nicht passieren. So etwas wie zwischen uns gibt es kein zweites Mal. Wir schaffen das.“ Diese Phantasien könnte man als eine Art „Versicherung“ oder Bollwerk gegen Kritik und Erschütterung verstehen. Freilich ist der Grat, um den es hier geht, schmal: Liebe ist etwas einzigartiges. Aber aus dem Willen, sich selbst im weiteren Leben vor der in der Kindheit erfahrenen Ablehnung zu schützen, wird, gerade wenn dies beide Partner betrifft, ein „Bündnis der Schilde“. Man versichert sich gegenseitig durch eine gewissermaßen symbiotische Verbindung, die durch die gemeinsamen Phantasien überhöht und damit gegen potentielle Kritik im Voraus geschützt wird. Ein bisweilen unbedingter Wille, es gemeinsam zu schaffen – eben wegen jener Einzigartigkeit – ist die Folge. Dieser unbedingte Wille und die beschriebenen Phantasien sind im Konfliktfall dann jene Linien oder Ausgangspunkte, die man nach Eskalationen beschwört, um in der Beziehung bleiben zu können: „Aber wir beide, wir waren doch einzigartig. Wir wollten es doch schaffen. Wer, wenn nicht wir?“
Hinzu kommt, dass die gemeinsamen Phantasien bzw. das „Bündnis der Schilde“ für die Beteiligten auch eine entlastende Funktion haben. Wenn ich mich selbst nicht kenne, weil ich mein abgelehntes Selbst nicht mag und vor mir verberge, dann bin ich mehr oder minder ständig damit beschäftigt, mein kompensatorisches Selbstbild aufrecht zu erhalten und aus diesem heraus zu handeln, denn ich muss es ja durch meine Handlungen bestätigen lassen, damit ich mir das glaube. Ich glaube ja nicht an mich selbst und brauche daher den anderen, um mein Geheimnis vor mir selbst verbergen zu können. Das kostet Kraft. Und weil es mich mit der Zeit erschöpft, diese Kraft ständig aufzubringen, lasse ich mich ggf. nur zu bereitwillig in eine Symbiose fallen, in der die Phantasie zwar gemeinsam entwickelt wird, mein Gegenüber aber fortan eine dominante und mich entlastende Rolle übernimmt. Zu meinem Geheimnis vor mir selbst („Ich will nicht wissen, dass ich mich eigentlich ablehne. Bestätige mir bitte, dass Du mich liebst, wie ich mich selbst gern sehe. Ich will nicht wissen, dass ich eigentlich anders bin.“) kommt dann noch eine weitere Selbstaufgabe hinzu. Nach der Schaffung der gemeinsamen Phantasie wird der Kraftaufwand zur Aufrechterhaltung des eigenen kompensatorischen Selbsts minimiert. Man gibt sein eigenes kompansatorisches Selbst ein Stück weit auf und ersetzt es durch die gemeinsame (kompensatorische) Phantasie. Man geht ganz in der Beziehung auf und negiert nicht nur das eigene abgelehnte (negative, durch Erziehung geprägte) Selbstbild, sondern gibt auch die Erwartungen, die aus dem kompensatorischen Selbstbild resultieren würden, weitgehend auf. So überlässt man es seinem Gegenüber, mehr oder minder vollständig zu definieren, wer man selbst ist und was man denkt, fühlt, will usw. Ist das Gegenüber ein Mensch, der anderen gern hilft und dessen kompensatorisches Selbstbild einer Helferpersönlichkeit entspricht („Ich kann mich selbst nicht leiden, aber wenn ich anderen helfe, fühle ich mich bestätigt und sicher.“), dann übernimmt dieses Gegenüber eine solche Aufgabe nur zu bereitwillig und fühlt sich gut dabei. Eine solche Beziehung kann über Jahre hinweg stabil funktionieren. Regt sich dann aber mit der Zeit doch der eine oder andere eigene Lebenswille, so glaubt man sich diesen Impuls zunächst nicht. Bringt man ihn dennoch – vielleicht als Wunsch nach mehr Eigenständigkeit – zum Ausdruck, reagiert das bislang dominante (im Selbstverständnis: helfende) Gegenüber entsprechend heftig, weil man ja nun das über Jahre bestätigte und stabilisierte kompensatorische Selbstbild des Gegenübers in Gefahr bringt. Die Beteiligten erschrecken nun womöglich darüber, wo sie hingekommen sind. Vor allem fällt es ihnen schwer zu begreifen, wie sie dort hingekommen sind.
Die bisherigen Betrachtungen führen nun zu zwei Fragen:
- Wie kann man lernen, sich selbst zu lieben?
- Lassen sich Beziehungen weiterführen, wenn die Beteiligten entdeckt haben, dass sie, anstatt sich tatsächlich zu lieben, eine gewissermaßen symbiotische Verbindung ihrer kompensatorischen Selbstbilder gelebt haben?
Bezüglich der ersten Frage gilt es voranzuschicken, dass es sich dabei wahrscheinlich um eine der schwersten Aufgaben handelt, vor der ein Mensch im Laufe seines Lebens stehen kann. Es ist auch davon auszugehen, dass diese Aufgabe im besten Sinne des Wortes eine „Lebensaufgabe“ ist, denn ihre Bewältigung ist Teil des ganzen Lebens und als solches ein langer Prozess. Wenn man als Kind nicht geliebt wurde und/oder sich nicht geliebt gefühlt hat oder schwerwiegende Ereignisse die Kindheit erschüttert haben, dann lässt sich das nicht einfach „korrigieren“. Es kommt nicht einfach und geht wieder weg wie eine Erkältung. Die Narben wird man sein ganzes Leben lang tragen, und die Eigenheiten, die man sich im Umgang mit dem eigenen Leid angewöhnt hat, bleiben. Man kann lernen, damit zu leben. Der erste Schritt besteht darin, die eigene Geschichte anzunehmen, sie nicht zu bewerten. Die meisten Betroffenen hadern mit den Erinnerungen an ihre Kindheit und mit dem Bild, das sie von ihren Eltern haben. Dieses Hadern kann in die Distanz führen und in eine andauernde negative Bewertung der Kindheit und der Eltern. Es gilt zu lernen, dass diese Sichtweise nicht hilft, sondern nur zu einer Konservierung des eigenen Leidens führt. Der zweite Schritt besteht in der Frage nach dem eigenen Selbst, nach dem, was sich entfalten will, nach dem, was man will, wer man ist und werden möchte. Der Zugang zu diesen Ebenen der eigenen Person ist schwer, weil man lange gewohnt war, diese Aspekte abzulehnen. Findet man hier Antworten, so folgt die schwerste Aufgabe. Im dritten Schritt gilt es, sich zu äußern, die eigenen Gefühle und Wünsche zu äußern, Grenzen zu setzen usw. Das erfordert in erster Linie Mut und den Willen, sich selbst zu ertragen, also die Reaktionen anderer Menschen auf das eigentliche Selbst zu ertragen. Gerade die eigenen Partner, aber auch die Eltern, so sie noch leben, werden zunächst versuchen, einen in das „alte Selbst“ bzw. in die gewohnte Beziehungskonstellation zurückzuziehen. Zur Infragestellung durch die eigene Unsicherheit in Bezug auf das eigentliche Selbst kommt so noch die Infragestellung durch das nähere Umfeld hinzu. Hier hat man also nicht nur die eigene Unsicherheit, sondern auch die Angst zu ertragen, die durch die Wünsche, Ermahnungen, Belehrungen, Zurechtweisungen und Bedrohungen der Menschen im näheren Umfeld hervorgerufen wird. Man braucht dazu viel Hoffnung und Zutrauen in die eigene Stärke – also Dinge, die man erst sehr langsam entwickelt. Aber der Weg zurück in die frühere Anpassung würde zu einer umso stärkeren Empfindung einer „falschen Liebe“ oder eines „falschen Lebens“ führen. Durch die Veränderung der Perspektive auf das eigene Leben und vor allem durch neue Handlungen (indem man eigenen Impulsen folgt) wird das Umfeld mit der Zeit anders reagieren und man kann lernen, dass mit der Zeit immer weniger negative Reaktionen (Ablehnung) erfolgen, wenn man sich äußert. Dazu braucht man aber auch neue Interaktionspartner. In vielen Fällen ist dies der vierte Schritt. Dem Äußern eigener Wünsche folgt eine Veränderung des Umfelds. Bei manchen geschieht dies sehr schnell – und oft genug folgt dann der Sturz in eine neue Symbiose aus der Hoffnung heraus, dass nun endlich alles besser würde. Es ist daher besser, all das langsam zu gestalten, damit das Selbst tatsächlich lernen kann, auch wenn dies sehr schmerzhaft ist.
Mit den letzten Sätzen deutet sich auch eine Antwort auf die zweite Frage an: Wenn sich das tatsächliche Selbst äußert, neue Erfahrungen macht und durch neue Interaktionen lernt, dass es nicht nur abgelehnt, sondern auch akzeptiert wird, kommt es darauf an, ob das Gegenüber in der Beziehung diese Entfaltung anerkennt oder nicht. Mit einer Aufgabe des kompensatorischen Selbstes ist auch eine persönliche Veränderung verbunden, die sehr tief reichen kann. Gelingt es tatsächlich, die eigene Geschichte anzunehmen und zu sich selbst nicht mehr auf Distanz zu gehen, sondern sich selbst zu akzeptieren oder gar zu lieben, kommen die eigenen Gefühle, Wünsche und Grenzen zunehmend selbstverständlicher zum Ausdruck. Das irritiert die bisherige Beziehung zutiefst. Es kann sein, dass die Person, die das Gegenüber eigentlich liebt, eine völlig andere wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass mit solchen Veränderungen auch eine Trennung einhergeht, ist also hoch.
Wenn hier von „Schritten“ und „Lernen“ die Rede ist, dann impliziert dies möglicherweise eine Art Machbarkeit, wie man sie aus Ratgebern mit Weisheiten zur Lebensführung kennt. Sollte dieser Eindruck entstehen, so sei noch einmal betont: Es handelt sich um den wahrscheinlich schmerzlichsten und irritierendsten Entwicklungsprozess, den ein Mensch durchleben kann, abgesehen freilich von schweren Krankheiten oder lebensbedrohlichen Ereignissen.
Zurück zu Dir: Es gibt wenig, was Menschen so bewegt wie die Liebe. Viele halten die Liebe für das Wichtigste in ihrem Leben. Falls Du zu denen gehörst, die sich selbst nicht lieben, oder falls Du mit jemandem zusammen bist, von dem Du den Eindruck hast, dass es ihr oder ihm schwer fällt, sich zu lieben, dann ist dieser Text für Dich. In der Kindheit nicht oder nur für bestimmte Verhaltensweisen oder Leistungen geliebt zu werden, ist eine derart bittere Erfahrung, dass man sie nie wieder machen möchte und sich davor schützen will. Doch dieser Selbstschutz verhindert, dass man erleben kann, was man am meisten braucht: geliebt zu werden. Liebe und Verletzlichkeit sind miteinander verbunden. Die Fähigkeit, sich zu äußern und das Gefühl der Verletzlichkeit zu ertragen, das es bedeutet, sich wirklich zu zeigen, ist die Voraussetzung dafür, zu lieben und geliebt zu werden. Es ist ein Wagnis, und der Preis ist hoch. Der Preis lautet: Du gibst Deinen Selbstschutz, Deine lieb gewordenen Bilder von Dir und alle Distanz auf. Du bist da. Dein Gegenüber kann auf Dich reagieren. Du wirst wahrgenommen und anerkannt, wie Du bist. Nicht, wie Du sein sollst oder sein willst. Dazu gehören auch Dinge, die Dein Gegenüber nicht leiden kann. Aber das muss so sein. Am Anfang tut es weh. Dann ist es großartig.