Fremdes Leben, falsche Liebe

Man kann sich sei­ne Eltern nicht aus­su­chen. Auch nicht die Zeit, in die man gebo­ren wur­de. Ob Du Dich in der Welt, in der Du lebst, will­kom­men oder hin­ein­ge­wor­fen fühlst, ist der Welt herz­lich egal. Ob Du es leicht hast oder kämp­fen musst, kannst Du Dir also erst ein­mal nicht aus­su­chen. Den­noch hast Du die Wahl, die Din­ge so oder so zu sehen. Es gibt immer zwei Blick­win­kel, aus denen Du eine Sache, einen ande­ren Men­schen oder eine Situa­ti­on betrach­ten kannst. Du kannst die Din­ge als unver­än­der­lich betrach­ten. Dann bist Du das Opfer der Umstän­de, Dei­ner Erzie­hung, Dei­ner Vor­ge­setz­ten usw. Oder Du kannst Dich fra­gen, wel­che Optio­nen Du hast, wie Du viel­leicht anders über die Din­ge den­ken kannst. Denn Du siehst die Din­ge kei­nes­wegs so, wie die Din­ge sind. Du siehst sie viel­mehr so, wie Du bist. Oder anders: Die Art und Wei­se, wie Du die Din­ge siehst, sagt weni­ger über die Din­ge aus, als viel­mehr etwas über Dich selbst. Es fängt also immer bei Dir an. 

Im Grun­de gibt es zwei Arten auf­zu­wach­sen. Ent­we­der haben die Eltern ihr Kind ange­nom­men und zu dem ein­zig­ar­ti­gen Men­schen her­an­wach­sen las­sen, der zu wer­den in ihrem Kind ange­legt war. Oder die Eltern haben dies nicht getan und ihre Lie­be an bestimm­te For­de­run­gen geknüpft. Dann wur­de das Kind nicht zu dem Men­schen, der es hät­te wer­den kön­nen, son­dern dann wur­de aus dem Kind, wer es wer­den soll­te. Natür­lich sind die­se bei­den Erzie­hungs­sti­le in ihrer rei­nen Form eher sel­ten. Die meis­ten Men­schen sind also zum Teil das, was sie wer­den konn­ten, und zum Teil das, was sie wer­den soll­ten. 

Du kannst nun ein­mal über­le­gen, ob Du eher gewor­den bist, was Du wer­den soll­test, oder ob Du mehr Dei­ne Poten­tia­le ent­fal­ten konn­test. Die Ant­wort auf die­se Fra­ge ist wich­tig. Sie bestimmt dar­über, ob Du Dich selbst lie­ben kannst. Denn wer dafür geliebt wur­de, wer sie oder er ist, der kann sich selbst auch so lie­ben, wie er oder sie eben ist. Wer aber für die Erfül­lung von Erwar­tun­gen oder For­de­run­gen geliebt wur­de, der hat oft Pro­ble­me, sich selbst zu mögen – oder über­haupt zu ken­nen. Die­se Men­schen ken­nen von sich nur, was sie für ande­re dar­stel­len, tun oder leis­ten. Wer für sei­ne Eltern nur tat, was die Eltern woll­ten, wird sich spä­ter nicht mit der Betrach­tung der eige­nen Per­son zufrie­den geben, son­dern sie oder er wird sich immer – gewis­ser­ma­ßen durch eine von den Eltern über­nom­me­ne und unbe­wusst ange­wöhn­te Außen­per­spek­ti­ve – anhand sei­ner dar­ge­stell­ten Eigen­schaf­ten, voll­brach­ten Leis­tun­gen usw. bewer­ten. Der Selbst­wert ist dann nicht gege­ben, son­dern er muss immer wie­der von Neu­em her­ge­stellt wer­den, und weil die­ses Fass kei­nen Boden hat, wird dar­aus eine Lebens­auf­ga­be, die kein Ende hat und jeden Tag von Neu­em beginnt. Vie­le Men­schen schla­fen am Abend mit dem Gedan­ken ein, am Tag nicht genug geschafft zu haben. Das heißt so viel wie: „Ich habe den Erwar­tun­gen nicht ent­spro­chen, ich muss noch mehr tun, noch bes­ser sein.“ Hin­ter dem Per­fek­tio­nis­mus steckt der (unbe­wuss­te) Ver­dacht gegen sich selbst, nicht genug zu sein.

Ob sich jemand selbst genügt oder für sei­nen Selbst­wert immer etwas tun muss, hängt also zunächst von der Erzie­hung ab. Unter Erwach­se­nen las­sen sich dem­entspre­chend zunächst zwei For­men von Selbst­bil­dern beob­ach­ten. Zum einen gibt es die Men­schen, die sich selbst lie­ben kön­nen, weil sie für sich selbst und ihr so-Sein geliebt wur­den. Zum ande­ren gibt es jene Men­schen, die vor allem dafür Zunei­gung erhal­ten haben, was sie – in Abwei­chung von sich selbst – dar­ge­stellt oder getan haben. Die­se Men­schen haben ein Selbst­bild, das vor allem davon abhängt, was sie für ande­re sind oder leis­ten. Sie brau­chen auch im Erwach­se­nen­le­ben mehr oder weni­ger stän­dig Bestä­ti­gung dafür, dass sie in Ord­nung sind. Nicht sel­ten sind die­se Men­schen, was sie tun. Sie sind nicht sie selbst, son­dern bestehen gleich­sam aus Hand­lun­gen für ande­re, weil dies die Art und Wei­se ist, durch die sie sich erfah­ren, durch die sie gleich­sam sind.

Es gibt eine tra­gi­sche Stei­ge­rungs­form, näm­lich wenn die elter­li­che Aner­ken­nung über­haupt nicht vor­han­den war. Wenn Eltern ihr Kind mehr oder min­der kom­plett ableh­nen, ent­wi­ckelt sich weder eine gesun­de Selbst­lie­be noch ein auf die Erfül­lung von Erwar­tun­gen ande­rer oder Leis­tung gerich­te­tes Selbst­bild. In ihrer Jugend wer­den die­se Men­schen ver­su­chen, der elter­li­chen Welt zu ent­kom­men. Sie suchen sich nicht sel­ten ein „grö­ße­res Gan­zes“ und bau­en eine Art kom­pen­sa­to­ri­schen Selbst­bil­des auf, das vor allem in Abgren­zung zu den eige­nen Eltern defi­niert wird. Weil die­se Men­schen wis­sen, wie sie gewiss nicht sein wol­len und wel­che Feh­ler sie ganz bestimmt nicht wie­der­ho­len wol­len, wün­schen sie sich umso mehr, ganz anders zu sein und suchen nach Erfah­run­gen und Men­schen, die sie in die­sem Wunsch bestä­ti­gen. Sie bau­en sich also ein neu­es Selbst­bild auf, das ihren Wün­schen von einem bes­se­ren Leben, von bes­se­ren Eigen­schaf­ten usw. ent­spricht. Das bedeu­tet aber nicht, dass sich die­se Men­schen selbst lie­ben kön­nen. Tief im Her­zen bleibt das erfah­re­ne Defi­zit am Leben. Sie suchen zwar nach Bestä­ti­gung und fin­den sie auch, aber in ihnen lebt eine star­ke Angst, den Maß­ga­ben des selbst geschaf­fe­nen Bil­des von sich doch nicht zu ent­spre­chen. Die­se Angst ähnelt der eines Lüg­ners, ent­deckt zu wer­den. Und so set­zen sich die­se Men­schen umso mehr unter Druck, dem Bild von sich zu ent­spre­chen, noch per­fek­ter zu wer­den. Im All­tag äußert sich dies in Gedan­ken ähn­lich die­sem: „Wenn ich das noch schaf­fe, dann passt es end­lich. Dann kann ich mich zurück­leh­nen, dann bin ich zufrie­den.“ Aber die­se Zufrie­den­heit kommt nicht. Ein Vor­ha­ben folgt dem nächs­ten, nach kur­zer Ent­span­nung kehrt die Angst, doch nicht genug zu sein, zurück und treibt die betref­fen­de Per­son zu neu­en Leis­tun­gen an. Die Welt rings­um und die eige­ne „Per­for­mance“ wer­den immer per­fek­ter, oft so per­fekt, dass ande­re Men­schen Bewun­de­rung für die Leis­tun­gen, manch­mal aber auch Angst vor den Maß­stä­ben der Betref­fen­den verspüren.

Eine inter­es­san­te Fra­ge ist nun, was geschieht, wenn Men­schen mit sol­chen kom­pen­sa­to­ri­schen Selbst­bil­dern lie­ben und Bezie­hun­gen füh­ren. Du hast bestimmt schon ein­mal irgend­wo gehört oder gele­sen, dass nur lie­ben kön­ne, wer sich selbst liebt, oder dass es egal sei, wen man hei­ra­tet, wenn man sich nur selbst lie­be. Da ist etwas dran, aber das zu ver­ste­hen oder gar, wenn man selbst davon betrof­fen ist, zu ändern, ist alles ande­re als einfach.

Wenn ich nicht so recht weiß, wer ich bin, weil ich mein eigent­li­ches, von mei­nen Eltern geschaf­fe­nes nega­ti­ves Selbst­bild tief in mir ver­gra­ben und mir statt­des­sen ein kom­pen­sa­to­ri­sches Selbst­bild geschaf­fen habe, dann suche ich mehr oder min­der stän­dig nach Gele­gen­hei­ten, mein Selbst­bild zu bestä­ti­gen. Ich hand­le also nicht aus mir selbst, son­dern aus mei­nem Wunsch-Selbst her­aus. So auch in der Lie­be. Ich bewun­de­re mein Gegen­über, weil ich selbst bewun­dert wer­den möch­te. Ich bin groß­zü­gig mit den Feh­lern des ande­ren („Das spielt kei­ne Rol­le. Du bist gut so. Ich lie­be Dich, wie Du bist.“), weil ich hof­fe, dass dann der ande­re auch so mit mei­nen Feh­lern umgeht. Ich zei­ge aber mei­ne Feh­ler nicht, weil ich sie selbst nicht sehen will. Ich lebe ja aus mei­nem Wunsch­bild her­aus und will die­ses Wunsch­bild bestä­tigt bekom­men. Nun kann man sich aber nicht nahe­kom­men, ohne dass der eigent­li­che Kern sicht­bar wird. Spä­tes­tens unter Druck oder im Streit kommt mein nega­ti­ves Selbst­bild ans Licht. Ich kann aber, weil ich die nega­ti­ven Sei­ten an mir vor mir selbst ver­ber­ge, schlecht mit Kri­tik umge­hen. Also schüt­ze ich mich vor die­ser Kri­tik: „Das war nicht so gemeint.“ ist die harm­lo­ses­te Vari­an­te. „Du hast mich falsch ver­stan­den.“ ist schon deut­li­cher. „Du bist doch selbst auch so.“ ist eine Stei­ge­rungs­form, die deut­lich macht, das man die Kri­tik nicht anneh­men kann, weil sie das Bild, das man von sich selbst auf­ge­baut hat, in Gefahr bringt.

Wenn zwei Men­schen mit kom­pen­sa­to­ri­schen Selbst­bil­dern zusam­men­kom­men, lie­ben sich qua­si nicht die Men­schen selbst, son­dern die Selbst­bil­der ver­bin­den sich zu einer Hoff­nung, end­lich jeman­den gefun­den zu haben, der passt. Das bedeu­tet: Hin­ter dem Gefühl, dass da end­lich jemand ist, der mich wirk­lich liebt, steckt die Hoff­nung – und spä­ter im Kon­flikt­fall: die For­de­rung – dass ich jeman­den gefun­den habe, der mein kom­pen­sa­to­ri­sches Selbst­bild bestä­tigt und mich nicht in die Gefahr bringt, mich mit mir selbst bzw. den abge­lehn­ten Tei­len mei­nes Selbst­es zu kon­fron­tie­ren. Nun gibt es aber kei­ne Bezie­hung ohne Pro­ble­me, Kon­flik­te usw. Kri­tik wird also kom­men. Da ich aber mein kom­pen­sa­to­ri­sches Selbst­bild wie ein Schild vor mir her­tra­ge und die Bezie­hung aus die­sem Wunsch­bild her­aus füh­re, erle­be ich Kri­tik als Erschüt­te­rung nicht nur mei­nes Selbst­bilds, son­dern – weil die­ses Wunsch­bild ja der Ersatz für mein eigent­li­ches (abge­lehn­tes) Selbst ist – als exis­ten­ti­el­len Angriff. Dem­entspre­chend hart und bedroh­lich sind dann oft­mals die Ver­tei­di­gungs­stra­te­gien. Was viel­leicht als Kri­tik aus der Nähe, als aus Lie­be her­aus for­mu­lier­ter Wunsch gemeint war, wird als exis­ten­ti­el­le Bedro­hung ver­stan­den. Nicht sel­ten wird dann sehr schnell mit dem Ende der Bezie­hung gedroht und/oder mit bei­na­he voll­stän­di­gem Rück­zug reagiert. Die Rück­zugs­re­ak­ti­on stellt qua­si das Selbst­bild wie­der her. Wenn ich allein bin, kann ich wie­der der sein, der ich sein will. Die Dro­hung des Bezie­hungs­ab­bruchs bringt den ande­ren dazu, sich zurück­zu­neh­men und die Kri­tik nicht mehr zu äußern. Dass man damit die Bezie­hung immer wei­ter ein­schränkt, ihr so mit der Zeit die Leben­dig­keit raubt und etwas tut, was man ange­sichts der Lie­be, die man ja trotz­dem spürt, eigent­lich gar nicht will, wird einem kaum bewusst. Und wenn es bewusst wird, nimmt man sich vor, es nicht mehr zu tun. Weil aber der Selbst­schutz, also der Schutz vor der Ein­sicht, dass man sich selbst eigent­lich ablehnt, immer stär­ker ist, nimmt man die all­mäh­li­che Ero­si­on der Lie­be mehr oder min­der bewusst in Kauf.

In der Anfangs­zeit sol­cher Bezie­hun­gen ent­wi­ckeln Paa­re aus ihren kom­pen­sa­to­ri­schen Selbst­bil­dern her­aus oft Phan­ta­sien gemein­sa­mer Stär­ke oder Grö­ße. Das klingt dann in etwa so: „Was den ande­ren geschieht, kann uns gar nicht pas­sie­ren. So etwas wie zwi­schen uns gibt es kein zwei­tes Mal. Wir schaf­fen das.“ Die­se Phan­ta­sien könn­te man als eine Art „Ver­si­che­rung“ oder Boll­werk gegen Kri­tik und Erschüt­te­rung ver­ste­hen. Frei­lich ist der Grat, um den es hier geht, schmal: Lie­be ist etwas ein­zig­ar­ti­ges. Aber aus dem Wil­len, sich selbst im wei­te­ren Leben vor der in der Kind­heit erfah­re­nen Ableh­nung zu schüt­zen, wird, gera­de wenn dies bei­de Part­ner betrifft, ein „Bünd­nis der Schil­de“. Man ver­si­chert sich gegen­sei­tig durch eine gewis­ser­ma­ßen sym­bio­ti­sche Ver­bin­dung, die durch die gemein­sa­men Phan­ta­sien über­höht und damit gegen poten­ti­el­le Kri­tik im Vor­aus geschützt wird. Ein bis­wei­len unbe­ding­ter Wil­le, es gemein­sam zu schaf­fen – eben wegen jener Ein­zig­ar­tig­keit – ist die Fol­ge. Die­ser unbe­ding­te Wil­le und die beschrie­be­nen Phan­ta­sien sind im Kon­flikt­fall dann jene Lini­en oder Aus­gangs­punk­te, die man nach Eska­la­tio­nen beschwört, um in der Bezie­hung blei­ben zu kön­nen: „Aber wir bei­de, wir waren doch ein­zig­ar­tig. Wir woll­ten es doch schaf­fen. Wer, wenn nicht wir?“

Hin­zu kommt, dass die gemein­sa­men Phan­ta­sien bzw. das „Bünd­nis der Schil­de“ für die Betei­lig­ten auch eine ent­las­ten­de Funk­ti­on haben. Wenn ich mich selbst nicht ken­ne, weil ich mein abge­lehn­tes Selbst nicht mag und vor mir ver­ber­ge, dann bin ich mehr oder min­der stän­dig damit beschäf­tigt, mein kom­pen­sa­to­ri­sches Selbst­bild auf­recht zu erhal­ten und aus die­sem her­aus zu han­deln, denn ich muss es ja durch mei­ne Hand­lun­gen bestä­ti­gen las­sen, damit ich mir das glau­be. Ich glau­be ja nicht an mich selbst und brau­che daher den ande­ren, um mein Geheim­nis vor mir selbst ver­ber­gen zu kön­nen. Das kos­tet Kraft. Und weil es mich mit der Zeit erschöpft, die­se Kraft stän­dig auf­zu­brin­gen, las­se ich mich ggf. nur zu bereit­wil­lig in eine Sym­bio­se fal­len, in der die Phan­ta­sie zwar gemein­sam ent­wi­ckelt wird, mein Gegen­über aber fort­an eine domi­nan­te und mich ent­las­ten­de Rol­le über­nimmt. Zu mei­nem Geheim­nis vor mir selbst („Ich will nicht wis­sen, dass ich mich eigent­lich ableh­ne. Bestä­ti­ge mir bit­te, dass Du mich liebst, wie ich mich selbst gern sehe. Ich will nicht wis­sen, dass ich eigent­lich anders bin.“) kommt dann noch eine wei­te­re Selbst­auf­ga­be hin­zu. Nach der Schaf­fung der gemein­sa­men Phan­ta­sie wird der Kraft­auf­wand zur Auf­recht­erhal­tung des eige­nen kom­pen­sa­to­ri­schen Selbsts mini­miert. Man gibt sein eige­nes kom­pan­sa­to­ri­sches Selbst ein Stück weit auf und ersetzt es durch die gemein­sa­me (kom­pen­sa­to­ri­sche) Phan­ta­sie. Man geht ganz in der Bezie­hung auf und negiert nicht nur das eige­ne abge­lehn­te (nega­ti­ve, durch Erzie­hung gepräg­te) Selbst­bild, son­dern gibt auch die Erwar­tun­gen, die aus dem kom­pen­sa­to­ri­schen Selbst­bild resul­tie­ren wür­den, weit­ge­hend auf. So über­lässt man es sei­nem Gegen­über, mehr oder min­der voll­stän­dig zu defi­nie­ren, wer man selbst ist und was man denkt, fühlt, will usw. Ist das Gegen­über ein Mensch, der ande­ren gern hilft und des­sen kom­pen­sa­to­ri­sches Selbst­bild einer Hel­fer­per­sön­lich­keit ent­spricht („Ich kann mich selbst nicht lei­den, aber wenn ich ande­ren hel­fe, füh­le ich mich bestä­tigt und sicher.“), dann über­nimmt die­ses Gegen­über eine sol­che Auf­ga­be nur zu bereit­wil­lig und fühlt sich gut dabei. Eine sol­che Bezie­hung kann über Jah­re hin­weg sta­bil funk­tio­nie­ren. Regt sich dann aber mit der Zeit doch der eine oder ande­re eige­ne Lebens­wil­le, so glaubt man sich die­sen Impuls zunächst nicht. Bringt man ihn den­noch – viel­leicht als Wunsch nach mehr Eigen­stän­dig­keit – zum Aus­druck, reagiert das bis­lang domi­nan­te (im Selbst­ver­ständ­nis: hel­fen­de) Gegen­über ent­spre­chend hef­tig, weil man ja nun das über Jah­re bestä­tig­te und sta­bi­li­sier­te kom­pen­sa­to­ri­sche Selbst­bild des Gegen­übers in Gefahr bringt. Die Betei­lig­ten erschre­cken nun womög­lich dar­über, wo sie hin­ge­kom­men sind. Vor allem fällt es ihnen schwer zu begrei­fen, wie sie dort hin­ge­kom­men sind.

Die bis­he­ri­gen Betrach­tun­gen füh­ren nun zu zwei Fragen:

  1. Wie kann man ler­nen, sich selbst zu lieben?
  2. Las­sen sich Bezie­hun­gen wei­ter­füh­ren, wenn die Betei­lig­ten ent­deckt haben, dass sie, anstatt sich tat­säch­lich zu lie­ben, eine gewis­ser­ma­ßen sym­bio­ti­sche Ver­bin­dung ihrer kom­pen­sa­to­ri­schen Selbst­bil­der gelebt haben?

Bezüg­lich der ers­ten Fra­ge gilt es vor­an­zu­schi­cken, dass es sich dabei wahr­schein­lich um eine der schwers­ten Auf­ga­ben han­delt, vor der ein Mensch im Lau­fe sei­nes Lebens ste­hen kann. Es ist auch davon aus­zu­ge­hen, dass die­se Auf­ga­be im bes­ten Sin­ne des Wor­tes eine „Lebens­auf­ga­be“ ist, denn ihre Bewäl­ti­gung ist Teil des gan­zen Lebens und als sol­ches ein lan­ger Pro­zess. Wenn man als Kind nicht geliebt wur­de und/oder sich nicht geliebt gefühlt hat oder schwer­wie­gen­de Ereig­nis­se die Kind­heit erschüt­tert haben, dann lässt sich das nicht ein­fach „kor­ri­gie­ren“. Es kommt nicht ein­fach und geht wie­der weg wie eine Erkäl­tung. Die Nar­ben wird man sein gan­zes Leben lang tra­gen, und die Eigen­hei­ten, die man sich im Umgang mit dem eige­nen Leid ange­wöhnt hat, blei­ben. Man kann ler­nen, damit zu leben. Der ers­te Schritt besteht dar­in, die eige­ne Geschich­te anzu­neh­men, sie nicht zu bewer­ten. Die meis­ten Betrof­fe­nen hadern mit den Erin­ne­run­gen an ihre Kind­heit und mit dem Bild, das sie von ihren Eltern haben. Die­ses Hadern kann in die Distanz füh­ren und in eine andau­ern­de nega­ti­ve Bewer­tung der Kind­heit und der Eltern. Es gilt zu ler­nen, dass die­se Sicht­wei­se nicht hilft, son­dern nur zu einer Kon­ser­vie­rung des eige­nen Lei­dens führt. Der zwei­te Schritt besteht in der Fra­ge nach dem eige­nen Selbst, nach dem, was sich ent­fal­ten will, nach dem, was man will, wer man ist und wer­den möch­te. Der Zugang zu die­sen Ebe­nen der eige­nen Per­son ist schwer, weil man lan­ge gewohnt war, die­se Aspek­te abzu­leh­nen. Fin­det man hier Ant­wor­ten, so folgt die schwers­te Auf­ga­be. Im drit­ten Schritt gilt es, sich zu äußern, die eige­nen Gefüh­le und Wün­sche zu äußern, Gren­zen zu set­zen usw. Das erfor­dert in ers­ter Linie Mut und den Wil­len, sich selbst zu ertra­gen, also die Reak­tio­nen ande­rer Men­schen auf das eigent­li­che Selbst zu ertra­gen. Gera­de die eige­nen Part­ner, aber auch die Eltern, so sie noch leben, wer­den zunächst ver­su­chen, einen in das „alte Selbst“ bzw. in die gewohn­te Bezie­hungs­kon­stel­la­ti­on zurück­zu­zie­hen. Zur Infra­ge­stel­lung durch die eige­ne Unsi­cher­heit in Bezug auf das eigent­li­che Selbst kommt so noch die Infra­ge­stel­lung durch das nähe­re Umfeld hin­zu. Hier hat man also nicht nur die eige­ne Unsi­cher­heit, son­dern auch die Angst zu ertra­gen, die durch die Wün­sche, Ermah­nun­gen, Beleh­run­gen, Zurecht­wei­sun­gen und Bedro­hun­gen der Men­schen im nähe­ren Umfeld her­vor­ge­ru­fen wird. Man braucht dazu viel Hoff­nung und Zutrau­en in die eige­ne Stär­ke – also Din­ge, die man erst sehr lang­sam ent­wi­ckelt. Aber der Weg zurück in die frü­he­re Anpas­sung wür­de zu einer umso stär­ke­ren Emp­fin­dung einer „fal­schen Lie­be“ oder eines „fal­schen Lebens“ füh­ren. Durch die Ver­än­de­rung der Per­spek­ti­ve auf das eige­ne Leben und vor allem durch neue Hand­lun­gen (indem man eige­nen Impul­sen folgt) wird das Umfeld mit der Zeit anders reagie­ren und man kann ler­nen, dass mit der Zeit immer weni­ger nega­ti­ve Reak­tio­nen (Ableh­nung) erfol­gen, wenn man sich äußert. Dazu braucht man aber auch neue Inter­ak­ti­ons­part­ner. In vie­len Fäl­len ist dies der vier­te Schritt. Dem Äußern eige­ner Wün­sche folgt eine Ver­än­de­rung des Umfelds. Bei man­chen geschieht dies sehr schnell – und oft genug folgt dann der Sturz in eine neue Sym­bio­se aus der Hoff­nung her­aus, dass nun end­lich alles bes­ser wür­de. Es ist daher bes­ser, all das lang­sam zu gestal­ten, damit das Selbst tat­säch­lich ler­nen kann, auch wenn dies sehr schmerz­haft ist. 

Mit den letz­ten Sät­zen deu­tet sich auch eine Ant­wort auf die zwei­te Fra­ge an: Wenn sich das tat­säch­li­che Selbst äußert, neue Erfah­run­gen macht und durch neue Inter­ak­tio­nen lernt, dass es nicht nur abge­lehnt, son­dern auch akzep­tiert wird, kommt es dar­auf an, ob das Gegen­über in der Bezie­hung die­se Ent­fal­tung aner­kennt oder nicht. Mit einer Auf­ga­be des kom­pen­sa­to­ri­schen Selbst­es ist auch eine per­sön­li­che Ver­än­de­rung ver­bun­den, die sehr tief rei­chen kann. Gelingt es tat­säch­lich, die eige­ne Geschich­te anzu­neh­men und zu sich selbst nicht mehr auf Distanz zu gehen, son­dern sich selbst zu akzep­tie­ren oder gar zu lie­ben, kom­men die eige­nen Gefüh­le, Wün­sche und Gren­zen zuneh­mend selbst­ver­ständ­li­cher zum Aus­druck. Das irri­tiert die bis­he­ri­ge Bezie­hung zutiefst. Es kann sein, dass die Per­son, die das Gegen­über eigent­lich liebt, eine völ­lig ande­re wird. Die Wahr­schein­lich­keit, dass mit sol­chen Ver­än­de­run­gen auch eine Tren­nung ein­her­geht, ist also hoch.

Wenn hier von „Schrit­ten“ und „Ler­nen“ die Rede ist, dann impli­ziert dies mög­li­cher­wei­se eine Art Mach­bar­keit, wie man sie aus Rat­ge­bern mit Weis­hei­ten zur Lebens­füh­rung kennt. Soll­te die­ser Ein­druck ent­ste­hen, so sei noch ein­mal betont: Es han­delt sich um den wahr­schein­lich schmerz­lichs­ten und irri­tie­rends­ten Ent­wick­lungs­pro­zess, den ein Mensch durch­le­ben kann, abge­se­hen frei­lich von schwe­ren Krank­hei­ten oder lebens­be­droh­li­chen Ereignissen.

Zurück zu Dir: Es gibt wenig, was Men­schen so bewegt wie die Lie­be. Vie­le hal­ten die Lie­be für das Wich­tigs­te in ihrem Leben. Falls Du zu denen gehörst, die sich selbst nicht lie­ben, oder falls Du mit jeman­dem zusam­men bist, von dem Du den Ein­druck hast, dass es ihr oder ihm schwer fällt, sich zu lie­ben, dann ist die­ser Text für Dich. In der Kind­heit nicht oder nur für bestimm­te Ver­hal­tens­wei­sen oder Leis­tun­gen geliebt zu wer­den, ist eine der­art bit­te­re Erfah­rung, dass man sie nie wie­der machen möch­te und sich davor schüt­zen will. Doch die­ser Selbst­schutz ver­hin­dert, dass man erle­ben kann, was man am meis­ten braucht: geliebt zu wer­den. Lie­be und Ver­letz­lich­keit sind mit­ein­an­der ver­bun­den. Die Fähig­keit, sich zu äußern und das Gefühl der Ver­letz­lich­keit zu ertra­gen, das es bedeu­tet, sich wirk­lich zu zei­gen, ist die Vor­aus­set­zung dafür, zu lie­ben und geliebt zu wer­den. Es ist ein Wag­nis, und der Preis ist hoch. Der Preis lau­tet: Du gibst Dei­nen Selbst­schutz, Dei­ne lieb gewor­de­nen Bil­der von Dir und alle Distanz auf. Du bist da. Dein Gegen­über kann auf Dich reagie­ren. Du wirst wahr­ge­nom­men und aner­kannt, wie Du bist. Nicht, wie Du sein sollst oder sein willst. Dazu gehö­ren auch Din­ge, die Dein Gegen­über nicht lei­den kann. Aber das muss so sein. Am Anfang tut es weh. Dann ist es großartig.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.