Toleranzaktivismus: Was die „woke“ Bewegung mit Narzissmus und Dekadenz zu tun hat

Man stel­le sich vor, in einem tota­li­tär regier­ten Land gel­te eine Aus­wahl erwünsch­ter Fri­su­ren. Falls man mit einer uner­wünsch­ten Fri­sur nach Hau­se käme, wür­de die Par­tei­se­kre­tä­rin des Wohn­blocks klin­geln und fra­gen, ob sie hel­fen kann. Ange­nom­men, man wür­de sol­cher­lei „Hil­fe“ par­tout nicht anneh­men wol­len — dann käme man besuchs­wei­se über das Wochen­en­de in eine Ein­rich­tung, die man woan­ders und zu ande­ren Zei­ten Gulag oder KZ genannt hät­te. Zwei­ein­halb Tage, die einen qua­si vom Wunsch nach einer abwei­chen­den Fri­sur „befrei­en“ sollen.

Ange­sichts sol­cher Umstän­de wäre „mehr Frei­heit“ immer auch „bes­ser“, oder?

Lan­ge vor der Indi­vi­dua­li­sie­rung ent­stand Leid durch zu straf­fe Kon­ven­tio­nen, durch bei­ßen­de Armut und oft genug durch kal­te Macht oder alles über­schat­ten­de, alles durch­drin­gen­de, gewalt­tä­ti­ge Will­kür. Man konn­te sich nicht „ent­fal­ten“.

„Ent­fal­tung“ ist dabei aber ein eher heu­ti­ges Wort — sei­ner­zeit ging es viel­leicht „nur“ dar­um, nicht auf­zu­fal­len, nicht unter Vor­ur­tei­len oder kol­lek­ti­ven Beschrän­kun­gen zu leiden.

Heu­te geht es nicht mehr dar­um, mit einer Frei­heit von Repres­sa­li­en man selbst blei­ben zu kön­nen. Heu­te geht es eher um eine Frei­heit zu jedem belie­bi­gen Selbst — auch wenn sich die­ses heu­te oder mor­gen ändert.

Alles gut.

Mach, was Du willst.

Aber müs­sen die ande­ren Dein „Ich will machen, was ich will“ auch noch feiern?

Feie­re Dich selbst, aber erwar­te nicht, dass sich die ande­ren begeis­tert an Dein Lager­feu­er set­zen und Dich auch noch wär­men, wenn Dein Feu­er Dir nicht reicht.

Sich ein­fach assi­mi­lie­ren zu kön­nen, in der Mas­se unter­zu­ge­hen, wäre sei­ner­zeit für vie­le genug gewe­sen. Aber es ging nicht.

Die Abwe­sen­heit phy­si­scher Gewalt wäre für vie­le genug gewe­sen. Aber es ging nicht.

Ein biß­chen Frei­heit von all­zu ein­engen­den Rol­len­mus­tern wäre genug gewe­sen. Doch es ging nicht.

Wie lächer­lich wirkt man­ches heu­ti­ge Getö­se, wenn eine (ver­meint­li­che) Dis­kri­mi­nie­rung in einer ansons­ten ganz demo­kra­ti­schen Gesell­schaft wie der unse­ren gleich­ge­setzt wird mit dem Leid, wel­ches durch tota­li­tä­re Herr­schaft ver­ur­sacht wer­den kann! Es ist schwer zu ertra­gen, wenn Jahr­zehn­te nach dem Ende der tota­li­tä­ren Dis­kri­mi­nie­rung in Deutsch­land heu­ti­ge Kom­fort­zo­nen­ein­schrän­kun­gen — a somehow not yet final­ly defi­ned gen­der was not named cor­rect­ly — mit Begrif­fen beschrie­ben wer­den, deren Ver­wen­dungs­pra­xis am Ende heu­ti­ge, indi­vi­du­ell viel­leicht unan­ge­neh­me, aber oft weit weni­ger exis­tenz­be­dro­hen­de Phä­no­me­ne, mit den Lei­den jener Zei­ten gleichsetzt.

Der Begriff der Trau­ma­ti­sie­rung und eini­ge damit in Rela­ti­on ste­hen­de Begrif­fe (bspw. „safe spaces“) wer­den nicht mehr vor­sich­tig und ange­mes­sen, son­dern infla­tio­när — gleich­sam „psy­cho­lo­gi­sie­rend“ oder schlicht „küchen­psy­cho­lo­gisch“ — verwendet.

Tole­ranz und „neben­ein­an­der gut leben“ oder auch „leben und gern leben las­sen“ muss nicht in Begeis­te­rung für alles Mög­li­che aus­ar­ten. Es gibt einen Unter­schied zwi­schen unauf­dring­li­cher, viel­leicht auch ein biß­chen anony­mer Tole­ranz und demons­tra­ti­vem, jeder­zeit zum Bekennt­nis auf­for­dern­dem, im Gewand mora­li­sie­ren­der Belehr­sam­keit daher­kom­men­dem Tole­ranz­ak­ti­vis­mus.

Oder bist Du etwa begeis­tert von mir? Ich war auch mal anders als die damals ton­an­ge­ben­den Leu­te. Aber das glaubst Du nicht, schließ­lich bin ich mitt­ler­wei­le ein „alter wei­ßer Mann“.

Alter wei­ßer Mann hin oder her; die­se bei­den Fra­gen wür­de ich gern for­mu­lie­ren: Muss es gleich eine zu beju­beln­de Demons­tra­ti­on jed­we­der Opti­on sein? Reicht nicht fried­li­che Koexistenz?

Und — jetzt wer­de ich frech — was ist, wenn „die Ande­ren“ demons­trie­ren? Die jewei­li­gen Ande­ren sind meis­tens die, die gera­de nicht den Ton ange­ben. Wenn sich aber die ehe­ma­li­gen Ande­ren immer noch so füh­len wie die „eigent­li­chen“ Ande­ren und den neu­en Ande­ren nicht nur die Anders­ar­tig­keit abspre­chen, son­dern sie der all­zu radi­ka­len Gest­rig­keit bezich­ti­gen, wird es interessant.

Aus der „Frei­heit zu jedem belie­bi­gen Selbst“ wird ein neu­es — oft eben­so auto­ri­tä­res wie deka­den­tes, in man­chen Fäl­len regel­recht fie­ses — Mons­ter. Einst­wei­len äußert sich die­se Ten­denz bspw. in dem Vor­wurf, nicht inklu­siv genug kom­mu­ni­ziert zu haben. Die einst „kri­ti­sche“ Theo­rie ver­kehrt sich in ihr Gegen­teil, näm­lich in den Aus­schluss der Mög­lich­keit von Kri­tik, und da ist, so steht zu befürch­ten, „can­cel cul­tu­re“ ein eher harm­lo­ser Anfang. Ein abge­sag­tes Event ist sicher zu ver­schmer­zen. Eine mehr oder min­der zwangs­wei­se been­de­te beruf­li­che Lauf­bahn, nur weil man etwas Uner­wünsch­tes oder Unvor­sich­ti­ges gesagt hat (oder auch nur gesagt haben könn­te), ist eine erns­te Sache.

Ein kur­zer Test: Haben Sie bis­her tat­säch­lich nichts gesagt, das sich spä­ter als „irgend­wie falsch“ oder „vor­ur­teils­be­haf­tet“ her­aus­ge­stellt hat? Und was war, als Sie viel­leicht so ca. sieb­zehn, acht­zehn, neun­zehn Jah­re alt waren? Haben Sie da nie auch nur im Gerings­ten mit dem Gegen­teil des­sen koket­tiert, was Sie heu­te für „rich­tig“ hal­ten? Und haben Sie da nie­mals auch nur ein paar Din­ge getan, von denen es bes­ser ist, dass heu­te nie­mand davon weiß? Soll es in unse­rer Gesell­schaft wirk­lich in Ord­nung sein, dass man wegen sol­cher Feh­ler zum Bei­spiel sei­nen Beruf verliert?

In jeder wirk­lich radi­ka­len Theo­rie ist die Sicht­wei­se der Opfer egal, recht­fer­tigt der Zweck alle­mal die Mit­tel und oft genug auch die „Not­wen­dig­keit“, also bspw. die Sen­tenz, dass Opfer unver­meid­lich sei­en. Um nicht in Rela­ti­vie­rung abzu­glei­ten: An der kri­ti­schen Theo­rie war — und oft genug gilt auch noch: ist — etwas dran.

Gleich­zei­tig erscheint die heu­er aktu­el­le „woke“ Theo­rie bis­wei­len so „his­to­risch“ wie der sei­ner­zeit „real exis­tie­ren­de“ Sozialismus.

Am Anfang stand ein Gedan­ke, an dem etwas dran war, den es zu beden­ken galt. Aber der his­to­ri­sche Zusam­men­hang, in dem ein Pro­blem ent­steht, ist in der Regel nicht mehr der his­to­ri­sche Zusam­men­hang oder die Zeit, in der das Pro­blem abge­schafft wird. War also der Impuls zur Abschaf­fung eines Pro­blems SEINERZEIT viel­leicht rich­tig, wer­den die Metho­den zu sei­ner Abschaf­fung spä­tes­tens dann unan­ge­mes­sen und noch spä­ter falsch, wenn man sie mit „his­to­ri­schen“ Argu­men­ten verstetigt.

Man­che Theo­rien stim­men nur so lan­ge, wie die Theo­rien den Umstän­den wider­spre­chen, die Theo­rie also auf „irgend­wie zu besei­ti­gen­de Umstän­de“ abzie­len kann… so lan­ge es also ein erstre­bens­wer­tes Ide­al gibt, das (noch) abwe­send ist. Wenn jedoch erst ein­mal (fast) alles wie gewünscht ein­ge­tre­ten ist, ver­kommt die Sache und wird zum Theater.

Manch­mal schafft man ein Pro­blem qua­si auch dann immer noch ab, wenn es längst tot auf der Wie­se liegt. Aber weil man das nicht merkt oder nicht wahr­ha­ben will oder auf­grund der herr­schen­den Dok­trin nicht wahr­ha­ben darf, unter­stellt man (im Extrem­fall: denun­ziert man) die Exis­tenz des Pro­blems, damit man es wei­ter abschaf­fen kann.

Lang­sam, ganz lang­sam hieß es nicht mehr nur: „Sei frei von…“, son­dern auch: „Kom­mu­ni­zie­re so, dass sich auch alle ande­ren frei füh­len können.“

Ok, kein Problem.

Aber irgend­wann fol­gen die ers­ten „pro­phy­lak­ti­schen Unterstellungen“.

Und dann wird es, wie gesagt, interessant.

Klar schafft Spra­che Rea­li­tät, kann Spra­che ver­let­zen. Aber aus dem Recht, sich zu weh­ren, vor Gericht zu zie­hen, sein Leben irgend­wo anders frei­er zu leben, einen Club für die eige­nen Inter­es­sen auf­zu­ma­chen oder, wenn man wirk­lich extrem sel­te­ne Inter­es­sen hat, so lan­ge mit der Ber­li­ner Ring­bahn zu fah­ren, bis man end­lich doch den einen Gleich­ge­sinn­ten oder die eine Gleich­ge­sinn­te trifft, ist eine War­nung gewor­den, jeden­falls Sor­ge zu tra­gen, dass sich — unab­hän­gig davon, ob das Spe­zi­fi­sche schon bekannt ist — niemand getrig­gert füh­len soll oder gar darf.

Aber wie soll das gehen?

Die Spra­che ist so alt wie die (den­ken­de) Mensch­heit; sie dient uns seit ihrer Ent­ste­hung zur Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on. Spra­che basiert unter ande­rem auf Unter­schie­den. Jeder Begriff setzt im Grun­de auch einen Unter­schied — indem etwas benannt, etwas ande­res aber eben auch nicht benannt wird. Voll­stän­dig inklu­si­ves Spre­chen ist, kon­se­quent gedacht, unmög­lich, weil ich gar nicht an alle die­je­ni­gen den­ken kann, die ich gege­be­nen­falls aus­schlie­ßen könn­te. Der gan­ze Wahr­neh­mungs­ap­pa­rat basiert auf Unter­schei­dun­gen: Ich neh­me etwas wahr; mein Gehirn akti­viert Vor­wis­sen, anhand des­sen das Wahr­ge­nom­me­ne kate­go­ri­siert, also mit Begrif­fen ver­se­hen wird.

Auch wenn wir kei­ne Erfah­run­gen mit einem betref­fen­den Wahr­neh­mungs­ob­jekt oder mit einem bestimm­ten Men­schen haben — die Kate­go­ri­sie­rung funk­tio­niert trotz­dem. Zwar ent­ste­hen immer neue Begrif­fe, aber eben AUCH immer neue Unter­schei­dun­gen. Die Begrif­fe mögen zwar mit der Zeit „fei­ner“ wer­den, aber im letz­ten Sin­ne „ange­mes­sen“ kön­nen sie nicht sein, weil sich die Rea­li­tät schnel­ler ändert, als wir uns umdre­hen und mit­ein­an­der dar­über reden können.

Das Pro­blem ist nicht, dass dem so ist. Das Pro­blem ist, dass man­che unter uns mei­nen, man kön­ne gleich­sam gene­rell so kom­mu­ni­zie­ren, dass es erst über­haupt nie­man­den tref­fen kann.

Spra­che bleibt nicht ste­hen. Spra­che passt sich an, ent­wi­ckelt sich, erfin­det Zuspit­zun­gen. Die Bedeu­tung der Din­ge ergibt sich immer aus der Bezie­hung, die man zu ihnen hat, nicht umge­kehrt, und wenn umge­kehrt, dann eben nur so lan­ge, wie es von den jeweils Ton­an­ge­ben­den ver­langt wird — oder ver­langt wer­den kann.

Das Mus­ter ist immer das glei­che: Es gilt, ein bis­her tot­ge­schwie­ge­nes, ver­pön­tes, dis­kri­mi­nier­tes usw., aber eigent­lich natür­li­ches und voll­kom­men berech­tig­tes Phä­no­men nun end­lich in den Zustand der dis­kri­mi­nie­rungs­frei­en Berech­ti­gung zu überführen!

Am Ende scheint das Indi­vi­du­um voll­kom­men frei von Kon­ven­tio­nen zu sein. Das Indi­vi­du­um wird aber nicht mehr nur zu nichts gezwun­gen. Viel­mehr unter­wirft man sich heu­er oft pro­phy­lak­tisch den Gel­tungs­an­sprü­chen des Gegen­übers — und zwar gleich­sam schon dann, wenn die Ansprü­che nicht mehr nur vor­ge­tra­gen wer­den, son­dern allein schon ver­mu­tet wer­den könnten.

In der Fol­ge kom­mu­ni­ziert man in einer Art „inklu­si­ven Pro­phy­la­xe-Modus’“. Fra­gen wie die nach der Legi­ti­mi­tät der Ansprü­che kom­men im Extrem­fall über­haupt nicht mehr vor. Man unter­wirft sich qua­si von vorn­her­ein jedem mög­li­chen Gel­tungs­an­spruch — bis hin zur Unter­wer­fung unter nicht­mün­di­ge Per­so­nen, bspw. in Gestalt der Unter­wer­fung man­cher Eltern unter ihre Kin­der.

In der Zuspit­zung führt die­se Ent­wick­lung sogar bis hin zur Akzep­tanz jed­we­der For­de­rung, ohne dass die­se For­de­rung auf Herz und Nie­ren geprüft wor­den wäre — wie der­zeit bei man­chen Bezug­nah­men auf Mel­dun­gen wahl­wei­se der paläs­ti­nen­si­schen oder der israe­li­schen Sei­te zu beob­ach­ten ist. Natür­lich gab es jenen unfass­bar bru­ta­len Angriff der Hamas, und natür­lich gibt es Ver­bre­chen von israe­li­scher Sei­te — wo kom­men wir hin, wenn wir sofort alles durch die von der Moral­keu­le zer­dep­per­ten Bril­len der poli­ti­schen Kor­rekt­heit, der Anti­se­mi­tis­mus-Dis­kus­si­on, der Geno­zid-Behaup­tung usw. betrachten?

Wir zwin­gen uns qua­si schon durch die Art und Wei­se unse­rer Dis­kus­si­on, uns von vorn­her­ein auf eine Sei­te zu stel­len. Und wenn wir uns selbst gar nicht auf eine Sei­te stel­len wol­len, wer­den wir durch die Dis­kus­si­on auf eine Sei­te gestellt. Und wenn es (noch) kei­ne „Sei­te“ gibt, dann behaup­ten wir schnell eine, nur um sie manch­mal, etwa im Fal­le eines klei­nen Shit­s­torms, schnell wie­der zu wech­seln. In jedem Fall tun wir dies in der Hal­tung höchs­ter mora­li­scher Erleuch­tung und mit bei­na­he bil­der­stür­me­ri­schem Eifer.

Bedeu­tet die Abkehr von Ein­schrän­kun­gen, Vor­ur­tei­len usw. einer­seits eine Befrei­ung, hat die Hin­wen­dung zum Indi­vi­du­um als bestim­men­de Kate­go­rie lang­fris­tig auch gra­vie­ren­de nega­ti­ve Kon­se­quen­zen: Die bei­na­he voll­stän­di­ge Indi­vi­dua­li­sie­rung der Gesell­schaft führt… zur Unter­wer­fung man­cher Eltern unter ihre Kin­der, zur zuneh­men­den Akzep­tanz abwei­chen­den Ver­hal­tens an Schu­len, zur gleich­sam pro­phy­lak­ti­schen 1,x für alle in man­chen Stu­di­en­gän­gen, zur Unter­wer­fung man­cher Füh­rungs­kräf­te unter die zum Teil wenig ange­mes­se­nen Erwar­tun­gen ihrer Mit­ar­bei­te­rin­nen oder Mit­ar­bei­ter usw.

Der Unter­wer­fung auf der einen Sei­te steht die expo­nen­ti­el­le Zunah­me nar­ziss­ti­schen Ver­hal­tens auf der ande­ren Sei­te gegenüber.

Kern des Nar­ziss­mus’ ist bekannt­lich die über­trie­be­ne Selbstbezogenheit.

Böse Fra­ge: Was geschieht die­ser Tage öfter, als dass ein Indi­vi­du­um sei­ne eige­nen Belan­ge für „wich­ti­ger“ oder „gül­ti­ger“ hält als die sei­nes jewei­li­gen Gegen­übers (Kum­pel, Freun­din, Part­ner, Arbeit­ge­be­rin, Eltern usw.)? Oder dass eine Mit­ar­bei­te­rin die Belan­ge des „jeweils Gemein­sa­men“ (bspw. die Orga­ni­sa­ti­on, für die man gemein­sam tätig ist und sich gemein­sam enga­giert) für weni­ger rele­vant hält als die jeweils eige­nen Belange?

War es in frü­he­ren Zei­ten viel­leicht kaum mög­lich, den eige­nen Belan­gen Aus­druck zu ver­lei­hen, so hul­digt man heu­te den eige­nen Bedürf­nis­sen und Gefüh­len, folgt ihnen und stellt sie ggf. sogar über das Gemeinsame.

Die Fra­ge lau­tet hier, wann „mehr Frei­heit“ auf­hört, auch „bes­ser“ zu sein.

Die Befrei­ung von den Kon­ven­tio­nen hat erwar­tungs- und absichts­ge­mäß zu selbst­be­wuss­te­ren Ent­schei­dun­gen geführt. Nie­mand MUSS mehr etwas machen. Ob jemand etwas machen WILL, ist eine ganz ande­re Fra­ge. Wenn sich dann noch her­um­spricht, dass man heu­er auch — ein­fach so — for­dern kann, wächst schnell ein „Traum­zau­ber­wald“, wo vor Jahr­zehn­ten noch Unter­drü­ckung herrschte.

Das ist frei­lich alles zuge­spitzt dar­ge­stellt. Die Zuspit­zung dient der Verdeutlichung.

Wir tref­fen immer unab­hän­gi­ge­re Ent­schei­dun­gen. Dabei sind wir zumeist der Annah­me, dass wir uns von irgend­et­was lösen.

Neh­men wir ein­mal ein paar aktu­el­le Trend­be­grif­fe: Wir lösen uns von „nar­ziss­ti­schen“ oder gar „toxi­schen“ Part­nern, von „über­grif­fi­gen“ Eltern oder unse­rer „trau­ma­ti­sie­ren­den“ Kind­heit — und so weiter.

Zunächst fühlt sich das Leben nach so einer Ent­schei­dung in der Regel auch frei­er an, fällt das Leben leich­ter. Aber auf der ande­ren Sei­te wird vie­len Men­schen Jah­re spä­ter etwas fehlen.

Das ist der Preis der Indi­vi­dua­li­sie­rung: Wir wer­den dadurch auch ein­sa­mer; durch die Ein­sam­keit eska­lie­ren wir öfter Situa­tio­nen, und der Wech­sel­wil­le (bei Bezie­hun­gen eben­so wie bei Arbeit­ge­bern) steigt. Wir tref­fen zwar freie­re Ent­schei­dun­gen, lei­den dann aber oft genug unter den Konsequenzen.

Weil wir uns aber durch freie­re Ent­schei­dun­gen von dem Unge­mach der Über­grif­fig­keit, Toxi­zi­tät, Ein­schrän­kung usw. befreit haben und also über die Erfah­rung ver­fü­gen, dass es genau dadurch leich­ter wur­de, machen wir genau das wei­ter — und wer­den immer ein­sa­mer — oder nar­ziss­ti­scher, je nach­dem, wie man das sieht.

Lang­fris­tig führt das zu einer neu­en Form von Kummer.

Was für ein altes, irgend­wie unpas­sen­des Wort: Kummer!

Aber genau das ist der Fall: Jene tie­fe Trau­rig­keit, die man nur erfährt, wenn man (ver­meint­lich) voll­stän­dig indi­vi­dua­li­siert ist, besucht immer mehr Men­schen. Und oft genug kommt sie, um zu bleiben.

In die­sem Kum­mer ent­fal­tet sich qua­si die Kehr­sei­te der Ent­fal­tung: „Ich ent­fal­te mich, aber nie­mand schaut mir dabei zu. … Ach Quatsch, das stimmt gar nicht. Schau doch mal, mei­ne Social-Media-Pro­fi­le. Guck, wie vie­le Leu­te das gut fin­den, wie vie­le Leu­te mir schreiben.“

Im Grun­de han­delt es sich um einen „dop­pel­ten Nar­ziss­mus“ oder eine „nar­ziss­ti­sche Pro­jek­ti­on“: Die Ver­stär­kung der Indi­vi­dua­li­sie­rung hat einen gewis­sen Nar­ziss­mus zur Vor­aus­set­zung und zur Fol­ge glei­cher­ma­ßen. Die heu­te durch­schnitt­li­che Ich-Bezo­gen­heit hät­te vor vier­zig, fünf­zig Jah­ren womög­lich noch als nar­ziss­tisch gegolten.

Wäh­rend sich die Fremd­zu­schrei­bung „Nar­ziss­mus“ als (oft genug nur küchen­psy­cho­lo­gi­sche) All­tags­dia­gno­se erhal­ten hat, ist die Selbst­kon­zep­tua­li­sie­rung unter­schwel­lig gleich­zei­tig nar­ziss­ti­scher und depres­si­ver gewor­den, was letzt­lich so viel bedeu­tet, wie: immer nar­ziss­ti­sche­re Men­schen bele­gen sich gegen­sei­tig häu­fi­ger mit Nar­ziss­mus-Feed­backs oder ‑Ein­schät­zun­gen, wäh­rend sie immer lau­ter nach Acht­sam­keit, safe spaces, Ver­ein­bar­keit von Pri­vat­le­ben und Beruf usw. rufen — und ihre Stress­ein­tritts­schwel­le kon­ti­nu­ier­lich sinkt.

Spitz for­mu­liert: Eine Hor­de Ego­ma­nen bezich­tigt sich gegen­sei­tig immer häu­fi­ger der Ego­ma­nie, wäh­rend der Ego­ma­nie-Index der gan­zen Hor­de kon­ti­nu­ier­lich steigt, die Hor­de aber im Schnitt immer mehr Belas­tung und Stress wahr­nimmt und ver­sucht, sich davor zu schüt­zen — und somit die Stress­ein­tritt­schwel­le kon­ti­nu­ier­lich sinkt.

Die Fol­ge: Immer mehr Leu­te stel­len ihre eige­nen Bedürf­nis­se über das Funk­tio­nie­ren des Gemein­we­sens. Para­dox nur: Der Staat über­nimmt immer mehr Auf­ga­ben, gleich­zei­tig sinkt jedoch die Bereit­schaft, signi­fi­kan­te Bei­trä­ge in das Gemein­we­sen ein­zu­zah­len — wäh­rend die Erwar­tun­gen an das Gemein­we­sen wach­sen, wie­der­um gleich­zei­tig jedoch auch die Frus­tra­ti­on über die Steue­rung des Gemein­we­sens wächst.

Die gesell­schaft­li­che Kat­ze beißt sich nicht mehr nur in den eige­nen Schwanz, sie beißt sich den Schwanz ab. 

Und wir?

Wir sind und blei­ben „spä­te“ Men­schen, zuneh­men­de Deka­denz inklusive.

Jörg Hei­dig

PS: Das Bei­trags­bild wur­de mit Hil­fe künst­li­cher Intel­li­genz erstellt.

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.