Kehrt die Autorität in unsere Organisationen zurück?

Der­zeit beob­ach­te ich in Orga­ni­sa­tio­nen unter­schied­lichs­ter Art eine „selt­sam gegen­sätz­li­che“ Ent­wick­lung. Es ist, als ob es gleich­zei­tig in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen gin­ge. 

Einer­seits sind da all die Bemü­hun­gen der ver­gan­ge­nen 50 oder mehr Jah­re, die nega­ti­ven Effek­te von Hier­ar­chien zu redu­zie­ren. Heu­te weiß man, dass selbst tra­di­tio­nell hier­ar­chi­sche Orga­ni­sa­tio­nen dann effi­zi­en­ter wer­den, wenn sie hier­ar­chie­ni­vel­lie­ren­de Lern­me­cha­nis­men ent­wi­ckeln — also eine Art (tem­po­rä­rer) „Hier­ar­chie­frei­heit“, etwa bei Debrie­fings, um aus Feh­lern zu ler­nen oder beim orga­ni­sa­tio­na­len Ler­nen gene­rell, also etwa der Ein­füh­rung neu­er Abläu­fe oder der Anpas­sung von Rou­ti­nen an neue Anfor­de­run­gen. 

Hin­zu kom­men die hier­ar­chie­kom­pen­sie­ren­den Effek­te der Digi­ta­li­sie­rung. Es ist durch com­pu­ter­ba­sier­te Werk­zeu­ge bis hin zu unter­neh­mens­in­ter­nen Platt­for­men ein­fa­cher gewor­den, Per­so­nen aus ande­ren Abtei­lun­gen oder auf obe­ren Hier­ar­chie­ebe­nen anzu­spre­chen. In man­chen Unter­neh­men haben face­book-ähn­li­che Umge­bun­gen die her­kömm­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on per E‑Mail oder Tele­fon redu­ziert. Die Schaf­fung von „agi­len“ Rol­len wie „pro­ject owner“ oder „Mode­ra­tor“ par­al­lel zur oft nach wie vor bestehen­den Lini­en­hier­ar­chie weicht letz­te­re wei­ter auf. Man­che IT-las­ti­gen Unter­neh­men behaup­ten von sich, fast hier­ar­chie­frei zu arbei­ten, und selbst in eher tra­di­tio­nell hier­ar­chi­schen Bran­chen gibt es erstaun­lich hier­ar­chie­freie (und oft gleich­zei­tig ent­spre­chend IT-las­ti­ge) Beispiele.

Ande­rer­seits befin­den sich vie­le unse­rer Orga­ni­sa­tio­nen nach mei­ner Beob­ach­tung mit­ten in einer Ent­wick­lung, die ich „auto­ri­tä­re Wen­de“ nen­nen wür­de. Man könn­te die­se Ent­wick­lung als eine Art Gegen­re­ak­ti­on ver­ste­hen. Die zuneh­men­de Ver­net­zung außer­halb und inner­halb von Orga­ni­sa­tio­nen, ein­her­ge­hend mit immer spe­zi­el­le­rem Wis­sen und ent­spre­chen­den Rol­len, redu­ziert Hier­ar­chien und Ent­schei­dungs- oder Gestal­tungs­spiel­räu­me. Und gera­de weil alles gleich­zei­tig kom­ple­xer, schnel­ler, weni­ger „durch­re­gel­bar“ und immer abhän­gi­ger von gelin­gen­der Kom­mu­ni­ka­ti­on wird steigt die Sehn­sucht nach Auto­ri­tät und nach ein­fa­chem Dienst nach Vor­schrift in den Orga­ni­sa­tio­nen wie­der an.

Die­se Ent­wick­lung führt dazu, dass in eini­gen Orga­ni­sa­tio­nen tat­säch­lich bestimm­te Füh­rungs­kräf­te rele­van­ter wer­den. In einem Unter­neh­men hieß es zum Bei­spiel: „Wir haben den vier­ten Fer­ti­gungs­lei­ter in weni­gen Jah­ren. Das ist eine sehr wich­ti­ge Posi­ti­on, für die man gebo­ren sein muss.“ und im Ret­tungs­dienst habe ich oft den Satz gehört: „Die Rol­le des Ret­tungs­dienst­lei­ters wird immer wich­ti­ger.“ Das mag stim­men — aber die Kapa­zi­tä­ten sol­cher „kri­ti­schen“ Füh­rungs­po­si­tio­nen wie Werks­lei­ter, Pro­duk­ti­ons­lei­ter, Pfle­ge­dienst­lei­ter oder eben Ret­tungs­dienst­lei­ter sind begrenzt. Eine ein­fa­che „Rol­len­an­rei­che­rung“ bei die­sen Posi­tio­nen, wie in der Pra­xis oft gesche­hen, führt oft zu Über­las­tung oder zu schlich­tem Durcheinander.

Ver­meint­lich ver­flacht man Hier­ar­chien, wenn aber die Men­schen in den Orga­ni­sa­tio­nen ihre Gewohn­hei­ten nicht ändern, wer­den sol­che „kri­ti­schen“ mitt­le­ren Posi­tio­nen zu regel­rech­ten Soll­bruch­stel­len. Schaut man genau hin, dass haben in die­sen Fäl­len ja auch alle etwas davon, wenn auch oft eben­so unbe­ab­sich­tigt wie unbemerkt:

  1. Die Betrof­fe­nen haben eine Zuwachs an Ver­ant­wor­tung, was in der Regel (zunächst) als höhe­rer Gestal­tungs­spiel­raum erlebt wird.
  2. Die Füh­rungs­kräf­te dar­über und dar­un­ter müs­sen kei­ne Gewohn­hei­ten ändern, im Gegen­teil: sie wis­sen jetzt, wo sie alle Fra­gen und damit auch ihre Ver­ant­wor­tung loswerden.

Das mag eine zuge­spitz­te Dar­stel­lung sein. Aber ich habe in den ver­gan­ge­nen Jah­ren eini­ge Orga­ni­sa­tio­nen gese­hen, die sich genau so ent­wi­ckelt haben. Auf der einen Sei­te bemer­ken Füh­rungs­kräf­te, dass die Anfor­de­run­gen an ihre Orga­ni­sa­ti­on stei­gen (Geschwin­dig­keit, Kom­ple­xi­tät, Qua­li­tät; in man­chen Pro­duk­ti­ons­un­ter­neh­men bspw. bemerk­bar an einer Ver­brei­te­rung der Pro­dukt­pa­let­te bei gleich­zei­ti­ger Redu­zie­rung von Stück­zah­len aber wach­sen­den Anfor­de­run­gen an Qua­li­tät und Lie­fer­treue). Auf der ande­ren Sei­te ler­nen die­se Füh­rungs­kräf­te auf Wei­ter­bil­dun­gen und „best-prac­ti­ce-Ver­an­stal­tun­gen“, dass man auf die­se Ent­wick­lun­gen mit einer Ver­än­de­rung der Füh­rung und der Manage­ment-Metho­den reagie­ren kann. Also wer­den die ent­spre­chen­den Struk­tu­ren und Pro­zes­se ange­passt. Aber halt: Wer­den sie wirk­lich ange­passt? Oder heißt es jetzt nur zum Bei­spiel „Lean Manage­ment“, sind aber die Gewohn­hei­ten noch die alten? Das rea­le Ergeb­nis der Bemü­hun­gen um die Ver­la­ge­rung von Ver­ant­wor­tung besteht eben oft genug ledig­lich in der Anrei­che­rung bestimm­ter mitt­le­rer Posi­tio­nen, die dadurch „kri­tisch“ werden.

Zuge­ge­be­ner­ma­ßen ist es sehr schwer, die eige­nen Gewohn­hei­ten zu reflek­tie­ren. Wie kann es den­noch gelingen?

Wohl am ehes­ten durch kon­ti­nu­ier­li­che Refle­xi­ons­pro­zes­se. Wir ler­nen nur etwas, wenn etwas nicht zu den beab­sich­tig­ten Ergeb­nis­sen geführt hat („Feh­ler“), oder wenn etwas zum ers­ten Mal gelingt (Chris Argy­ris). Dafür muss es aber einen Ort und einen Modus geben. Im All­tag bzw. im lau­fen­den Geschäft habe ich in der Regel kei­ne Zeit und kei­ne Gele­gen­heit, mich etwas zu fra­gen oder fra­gen zu las­sen oder ande­re etwas zu fra­gen. Aber genau dar­um geht es: Habe ich ein­mal in der Woche Zeit, mich mit den dafür rele­van­ten Per­so­nen zusam­men­zu­set­zen (oder manch­mal bes­ser: zusam­men­zu­stel­len), die bis­he­ri­gen Hand­lungs­ver­läu­fe aus­zu­wer­ten und zu über­le­gen, was gut lief, was wir bes­ser machen könn­ten und wo wir Hil­fe brauchen?

In kri­ti­schen Struk­tu­ren oder Pro­zes­sen (bspw. Luft­fahrt) geschieht dies mit­un­ter nach jedem Ein­satz; in sehr schnel­len Pro­jek­ten (man­che IT-Pro­jek­te, man­che Bau­stel­len) immer­hin täg­lich. In vie­len Orga­ni­sa­tio­nen reicht das ein­mal wöchent­lich; ein­mal monat­lich ist hin­ge­gen oft zu wenig. Ziel ist, die Ver­ant­wor­tung zum „Besitz einer Grup­pe“ zu machen. Nicht im Sin­ne des Abge­bens von Ver­ant­wor­tung — die jewei­li­ge „kri­ti­sche“ Füh­rungs­kraft ist ja nach wie vor Füh­rungs­kraft, aber sie regelt nicht alles selbst, son­dern sorgt für einen Pro­zess, mit des­sen Hil­fe die Ver­ant­wor­tung dort umge­setzt wer­den kann, wo sie hin­ge­hört. Das besteht in der Regel aus der Refle­xi­on des bis­her Gesche­he­nen und dem Ver­such, sich an die Anfor­de­run­gen anzu­pas­sen, sich Zie­le zu set­zen, Maß­nah­men zu ent­wi­ckeln und umzu­set­zen, ggf. auch Kenn­zah­len zu bestim­men, anhand derer Ver­än­de­run­gen beob­ach­tet wer­den kön­nen usw.

Wenn es gelingt, einen „gene­ti­schen Trä­ger“ für die jewei­li­gen Ver­än­de­rungs­zie­le zu defi­nie­ren (eine Run­de aus mitt­le­ren Füh­rungs­kräf­ten bei­spiels­wei­se oder ein bestimm­tes Team zusam­men mit rele­van­ten „Schnitt­stel­len­in­ha­bern“ aus ande­ren Teams) und die­se Grup­pe zu befä­hi­gen, pro­duk­tiv mit­ein­an­der zu arbei­ten — die Tren­nung von Füh­rungs­ver­ant­wor­tung und/oder Fach­ex­per­ti­se und/oder Mode­ra­to­ren­rol­le ist oft hilf­reich — dann ist dies oft der bes­se­re Weg als die schlich­te Anrei­che­rung von bestimm­ten Rollen.

Die Auto­ri­tät kommt den­noch zurück, denn mit den beschrie­be­nen Ent­wick­lun­gen erhöht sich auch die Unsi­cher­heit. Das heißt, die genann­ten Füh­rungs­kräf­te wer­den „sym­bo­lisch“ rele­van­ter, indem sie Sicher­heit und Rück­halt geben. Aber sie soll­ten das nicht tun, indem sie mehr eige­ne Ent­schei­dun­gen tref­fen oder „durch­re­geln“, son­dern indem sie ent­spre­chen­de Pro­zes­se schaf­fen und die Ver­ant­wor­tung dort­hin dele­gie­ren, wo sie hin­ge­hört, ohne sich das Recht auf ein „letz­tes Wort“ in kri­ti­schen Situa­tio­nen neh­men zu las­sen. Dann wer­den Sicher­heit und Ent­schei­dungs­fä­hig­keit zum „Besitz der Grup­pe“, und die Kom­mu­ni­ka­ti­on in der Orga­ni­sa­ti­on wird ver­trau­ens­vol­ler und pro­ak­ti­ver. 

In einem Kin­der­gar­ten kann das zum Bei­spiel bedeu­ten, dass die Lei­te­rin auf zuneh­men­de Kri­tik oder Hin­ter­fra­gung durch Eltern reagiert, indem sie gemein­sam mit ihrem Team über­legt, wie damit umge­gan­gen wird, was kon­struk­ti­ve Kri­tik und was über­trie­be­ne Hin­ter­fra­gung ist usw. Damit schafft sie ein star­kes, sich selbst ver­ge­wis­sern­des Team und muss sich nicht selbst jedes Mal in die Bre­sche wer­fen — um ihr Team damit nur tem­po­rär zu ent­las­ten und dadurch mit der Zeit selbst zur „Soll­bruch­stel­le“ zu wer­den. Sie kann ihrer sym­bo­li­schen Auto­ri­tät Rech­nung tra­gen, indem sie Sicher­heit und Rück­halt signa­li­siert und einen kol­lek­ti­ven Pro­zess der Ver­ge­gen­wär­ti­gung schafft, der kol­lek­ti­ve Ver­ant­wor­tungs­über­nah­me, gegen­sei­ti­ge Unter­stüt­zung und pro­ak­ti­ves Han­deln bewirkt. Wich­tig ist nur, den betref­fen­den Pro­zess ent­spre­chend offen und kon­ti­nu­ier­lich zu gestalten.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.