Methoden der Teamentwicklung: um was geht es essentiell?

Im Grun­de kann man bei der Durch­füh­rung von Team­ent­wick­lun­gen zwei Arten unter­schei­den. Zum einen gibt es da die „Team­ent­wick­lung als Inter­ven­ti­on“, etwa wenn es schon län­ger Kon­flik­te gibt, oder die Umwelt Kon­flik­te lang­sam bemerkt oder gar durch Kon­flik­te in Mit­lei­den­schaft gezo­gen wird. Zum ande­ren gibt es die „pro­phy­lak­ti­sche Team­ent­wick­lung“, die regel­mä­ßig ohne kon­kre­ten Anlass durch­ge­führt wird, und die vor allem der Refle­xi­on dient. Letz­te­re Vari­an­te ist eher sel­ten, aber wenn sie zum Ein­satz kommt und sich die Effek­te sogar über Jah­re hin­weg ent­fal­ten kön­nen, dann hat sie in der Regel eine deut­lich spür­ba­re posi­ti­ve Wir­kung auf die Klar­heit der Rol­len im Team, das Aus­maß der gegen­sei­ti­gen Unter­stüt­zung, das Team­kli­ma all­ge­mein und nicht zuletzt die Bereit­schaft, Stö­run­gen anzusprechen.

Denn eines bleibt fest­zu­hal­ten: Stö­run­gen, also zumeist Kon­flik­te, gibt es sowie­so. Die Fra­ge ist nur, wie Team und Lei­tung damit umgehen.

 

Der Pro­zess, durch den sich Grup­pen oder Teams bilden

Jen­seits aller Pha­sen­mo­del­le der Ent­wick­lung von Grup­pen oder Teams über die Zeit hin­weg sind es ins­be­son­de­re zwei Pha­sen, die Grup­pen in ihrer Ent­wick­lung durch­lau­fen. Hilf­rei­cher fin­de ich es, wenn man anstel­le von Pha­sen bes­ser von „Zustän­den“ redet, die eine Grup­pe anneh­men und zwi­schen denen eine Grup­pe oszil­lie­ren kann. Doch bevor wir zu den bei­den Zustän­den kom­men, sei hier zunächst erläu­tert, wie sich Grup­pen oder Teams bil­den. Unab­hän­gig davon, ob sich eine Grup­pe frei­wil­lig zusam­men­fin­det oder durch eine Ent­schei­dung Drit­ter zusam­men­ge­setzt wird, ist der Pro­zess der Grup­pen- oder Team­bil­dung – also der Pro­zess, in des­sen Rah­men sich die defi­ni­to­ri­schen Eigen­schaf­ten von Grup­pen oder Teams her­aus­bil­den (Kohä­si­on, Inter­de­pen­denz, Zie­le etc.) – essen­ti­ell gleich.

Ange­nom­men, die Mit­glie­der eines neu­en Teams ken­nen sich noch nicht. Das Team trifft sich zum aller­ers­ten Mal. Die Lei­te­rin des neu­en Teams hat viel­leicht für eine locke­re Atmo­sphä­re gesorgt – man kann bei einem Kaf­fee oder einem ande­ren Getränk erst ein­mal „ankom­men“. Ange­nom­men, ein Team­mit­glied geht auf ein ande­res zu, stellt sich kurz vor und fragt nach dem Woher und dem beruf­li­chen Hin­ter­grund sei­nes Gegen­übers. Je nach dem, was das Gegen­über nun erzählt, wird die Per­son, wel­che die Initia­ti­ve ergrif­fen hat­te, reagie­ren. Ist die Reak­ti­on auf­merk­sam und posi­tiv, stei­gert das die Wahr­schein­lich­keit, dass die betei­lig­ten Per­so­nen gern wie­der mit­ein­an­der spre­chen, sowie die Wahr­schein­lich­keit, noch ein­mal das The­ma, um das es gegan­gen ist, anzu­spre­chen. Ist die Reak­ti­on neu­tral-distan­ziert oder gar nega­tiv, sin­ken die genann­ten Wahr­schein­lich­kei­ten. Die Betei­lig­ten wer­den dann weni­ger gern noch ein­mal spon­tan auf­ein­an­der zuge­hen, und ein ange­spro­che­nes The­ma wird viel­leicht weni­ger gern noch ein­mal ange­spro­chen. Die­sen grund­le­gen­den Pro­zess muss man sich wäh­rend der ers­ten Tage eines Teams und auch dar­über hin­aus hun­dert­fach wie­der­holt und nuan­ciert vor­stel­len. Die ers­ten Tage sind nur des­halb von beson­de­rer Bedeu­tung, weil sich hier die ers­ten Inter­ak­ti­ons­mus­ter und The­men­pfa­de bilden.

 

Die Macht der „Grup­pen­men­ta­li­tät“

Phä­no­me­ne wie das so genann­te „Grup­pen­den­ken“ oder die viel bespro­che­ne Fest­stel­lung, dass die Grup­pe mehr sei als die rei­ne Ansamm­lung der zu ihr gehö­ren­den Indi­vi­du­en, illus­trie­ren den Umstand, dass sich das Wesen einer Grup­pe aus der Ansamm­lung selbst bezie­hungs­wei­se der Dyna­mik, die eine sol­che Ansamm­lung ver­ur­sacht, ergibt. Salopp könn­te man sagen: Ein­zeln ist der Mensch ein Wun­der­werk. Zu zweit ist es bereits nicht mehr ganz ein­fach, und das Wun­der­werk zeigt sich nicht mehr nur von der bes­ten Sei­te. Ein Freund ist mit­hin jemand, der mich gut lei­den kann, obwohl er mich kennt. Sind mehr als zwei zugan­ge, wird es in der Regel – zumin­dest erst ein­mal – schwierig.

Schau­en wir uns den Grup­pen­bil­dungs­pro­zess noch ein­mal genau­er an: Men­schen, die sich nicht ken­nen, tre­ten zu einer neu­en Grup­pe oder einem neu­en Team zusam­men. Der zunächst zu beob­ach­ten­de Inter­ak­ti­ons­pro­zess ist von Vor­sicht und einer gewis­sen Rück­sicht­nah­me gekenn­zeich­net. Vie­le sind einst­wei­len noch unsi­cher und beob­ach­ten erst ein­mal, wie die ande­ren auf ihre Äuße­run­gen reagie­ren. Aus den vie­len Ein­zel­in­ter­ak­tio­nen der ers­ten Tage erge­ben sich bestimm­te Inter­ak­ti­ons­mus­ter, die sich spä­ter fes­ti­gen: eini­ge The­men wer­den immer häu­fi­ger ange­spro­chen, ande­re gera­ten in den Hin­ter­grund; eini­ge inter­agie­ren öfter mit­ein­an­der, ande­re blei­ben neu­tral; man­che Grup­pen­mit­glie­der mögen sich mit einer gewis­sen Skep­sis begeg­nen. Wich­tig ist, dass dies kein durch­gän­gig absichts­vol­ler Pro­zess ist – es ergibt sich ein­fach aus den Inter­ak­tio­nen. Nun kommt aber zu den Ein­zel­in­ter­ak­tio­nen noch eine ande­re Ebe­ne hin­zu. In dem neu­en Team gibt es ja nicht nur Inter­ak­tio­nen zwi­schen zwei Per­so­nen, son­dern es gibt auch eine gan­ze Rei­he von Inter­ak­ti­ons­pro­zes­sen, die im gesam­ten Team oder in Tei­len des Teams, aber eben mit mehr als zwei Betei­lig­ten statt­fin­den. Hier spricht eine Per­son nicht mehr nur zu einem Genen­über, son­dern zu meh­re­ren gleich­zei­tig. Die Reak­tio­nen kom­men nun nicht mehr nur von einer Per­son, son­dern von meh­re­ren. Da ein Mensch sei­nen sozia­len Sta­tus nicht selbst bestim­men kann, son­dern die Infor­ma­tio­nen über sei­nen momen­ta­nen Sta­tus im sozia­len Gefü­ge anhand der Reak­tio­nen von ande­ren erhält, wird der beschrie­be­ne Inter­ak­ti­ons­pro­zess unter meh­re­ren Grup­pen­mit­glie­dern „selbst­wert­wirk­sam“ – ich sage nicht zwin­gend das, was ich tat­säch­lich den­ke, son­dern ich sage das, wovon ich mei­ne, dass dies bei den ande­ren sol­che Reak­tio­nen her­vor­ruft, die mei­nem Sta­tus oder Selbst­wert zuträg­lich sind. Die­ser Umstand bil­det ein wei­te­res Ele­ment der Mus­ter­bil­dung – indem ein Grup­pen­mit­glied beob­ach­tet, wel­che The­men „en vogue“ sind, wird es vor allem sol­che The­men anspre­chen. Das erklärt auch die Homo­ge­ni­sie­rung in den Ansich­ten von Grup­pen­mit­glie­dern mit der Zeit und die Abnah­me in der Grup­pe selbst denk­ba­rer Alter­na­ti­ven – ein Umstand, der als „Grup­pen­den­ken“ bekannt wur­de und der eine wesent­li­che Rol­le bei der Ver­ur­sa­chung eini­ger Kri­sen und Krie­ge spielte.

 

Mob­bing als unbe­ab­sich­tig­ter Effekt

An die­ser Stel­le wird deut­lich, wie Mob­bing als „eigent­lich unbe­ab­sich­tig­ter Neben­ef­fekt“ einer sol­chen Grup­pen­men­ta­li­tät ent­ste­hen kann: ein Team­mit­glied (A) ist viel­leicht anfangs ein wenig unsi­cher und hält sich des­halb etwas län­ger zurück. Es beob­ach­tet, dass zwei Team­mit­glie­der, die ver­gleichs­wei­se häu­fig spre­chen (X und Y), immer wie­der kri­tisch auf Ideen und ande­re Wort­mel­dun­gen eines drit­ten Team­mit­glieds (B). Obwohl A die Ideen von B viel­leicht sogar über­le­gens­wert fin­det, hält sich A zurück und unter­stützt B nicht, wenn die – ohne­hin durch die rela­tiv hohe Wort­mel­de­häu­fig­keit schon recht prä­sen­ten und oft zusam­men auf­tre­ten­den – Team­mit­glie­der X und Y die Ein­las­sun­gen von B kri­ti­sie­ren. Im Gegen­teil: um dazu­zu­ge­hö­ren und den eige­nen Sta­tus zu sichern, kann das ver­gleichs­wei­se unsi­che­re A zu fol­gen­der Dop­pel­stra­te­gie kom­men: im Team unter­stützt A die bei­den „lau­ten“ Team­mit­glie­der X und Y, im per­sön­li­chen Gespräch ver­si­chert A hin­ge­gen, dass sie oder er B gut ver­ste­hen kann. B wird dadurch mög­lich­wer­wei­se stär­ker ver­un­si­chert als durch eine kla­re und offen kom­mu­ni­zie­ren­de „Front“. Gewinnt die­ser Pro­zess an Dyna­mik, kann er leicht zu dem wer­den, was man als Mob­bing bezeich­net. Dies ist ins­be­son­de­re dann wahr­schein­lich, wenn X oder Y mit A oder wei­te­ren Team­mit­glie­dern in Abwe­sen­heit von B Ver­mu­tun­gen dar­über anstellt, war­um B so und nicht anders sei, war­um dies womög­lich so nicht akzep­ta­bel sei und so weiter.

So lan­ge ein sol­cher Pro­zess noch nicht zu weit fort­ge­schrit­ten ist, lässt er sich im Rah­men einer Team­ent­wick­lung bear­bei­ten, indem – idea­ler­wei­se an kon­kre­ten Bei­spie­len, also bei­spiels­wei­se Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten – unter­schied­li­che Sicht­wei­sen benannt wer­den und dann die damit ver­bun­de­nen emo­tio­na­len Zustän­de the­ma­ti­siert wer­den. Ziel ist, dass die „schwei­gen­den Min­der­hei­ten“ wie A sich irgend­wann zu Wort mel­den und sich aus der Anony­mi­tät her­aus­be­ge­ben. Indem A nun auch vor X und Y eine eige­ne Posi­ti­on – mög­li­cher­wei­se zwi­schen X und Y auf der einen und B auf der ande­ren Sei­te, wird deut­lich, dass es kei­ne „homo­ge­ne Mehr­heit“ im Team gibt, son­dern eine hete­ro­ge­ne Mei­nungs­viel­falt. Indem A viel­leicht auch öffent­lich Mit­ge­fühl für die Emo­tio­nen von B zeit, brö­ckelt die – oft nur von außen als sol­che wahr­ge­nom­me­ne – „Alli­anz“ zwi­schen X und Y und eine die­ser bei­den Per­so­nen beginnt, Ver­ständ­nis für B zu zei­gen. Mehr braucht es nicht – nur Ver­ständ­nis und die Fähig­keit, die Unsi­cher­heit zu ertra­gen, die es bedeu­tet, zur Kennt­nis zu neh­men, dass eine Grup­pe kein „har­mo­ni­sches Gan­zes“ ist, son­dern eine „dyna­mi­sche Hete­ro­ge­ni­tät“ besitzt. Die­se „dyna­mi­sche Hete­ro­ge­ni­tät“ macht vie­le Men­schen unsi­cher, weil sie dann in der Regel nicht wis­sen, wo sie sta­tus­mä­ßig gera­de ste­hen. Es braucht die Erfah­rung, dass der Sta­tus eines Team­mit­glieds trotz des Aus­tra­gens von Kon­flik­ten noch in Ord­nung ist. Das erfor­dert aber zunächst den Mut, die Har­mo­nie-Illu­sio­nen, die Grup­pen zunächst pro­du­zie­ren, zu ver­las­sen – und dies erfor­dert eben jene bereits ange­spro­che­ne Fähig­keit zum Ertra­gen von Unsicherheit.

 

Wor­auf es bei Team­ent­wick­lun­gen ankommt

Anhand des soeben geschil­der­ten Bei­spiels wird deut­lich, wor­auf es bei Team­ent­wick­lun­gen ankommt. Es geht weni­ger um die For­mu­lie­rung eines Ziels und den Ein­satz mög­lichst geeig­ne­ter Metho­den, son­dern es geht dar­um, einen hilf­rei­chen Inter­ak­ti­ons­pro­zess zu initi­ie­ren. Das Pro­blem dabei ist aller­dings regel­mä­ßig das fol­gen­de: Zwar wer­den sol­che Teams sagen, dass es Pro­ble­me gibt und sich etwas ändern soll – wird es aber kon­kret, zieht man sich schnell zurück. Eine der Fal­len, in die Team­ent­wick­ler, Bera­ter oder Mode­ra­to­ren dann tre­ten kön­nen ist die Bit­te, dass doch „der Herr Exper­te“ ein­mal sei­ne Sicht auf das Team schil­dern möge. Tut man dies, so ern­tet man im ange­neh­me­ren Fall ver­wun­der­tes Schwei­gen, im weni­ger ange­neh­mes Fall kommt es zu einer Rei­he wort­rei­cher Erläu­te­run­gen, war­um die – ansons­ten klu­gen und im pas­sen­den Fall sicher hilf­rei­chen – Rat­schlä­ge des Exper­ten in die­sem Fall nicht funk­tio­nie­ren würden.

Im Grun­de kommt es nach der oben beschrie­be­nen ers­ten und „net­ten“ Pha­se in jedem Team zu Kon­flik­ten. Auch bestehen­de Teams, die jah­re­lang kon­flikt­arm funk­tio­niert haben, kann dies tref­fen, etwa nach Per­so­nal­wech­sel oder einer Ver­än­de­rung der Rol­len­kon­stel­la­ti­on. Die Kon­flik­te bah­nen sich an und wer­den bemerkt. Es gibt jedoch, wie wir bereits dar­ge­stellt haben, Grün­de, so zu han­deln, dass der eige­ne Sta­tus min­des­tens nicht sinkt, son­dern eher steigt. Man sagt also vor­nehm­lich sol­che Din­ge, von denen man meint, dadurch güns­ti­ge Grup­pen­re­ak­tio­nen her­vor­zu­ru­fen. Der Preis: Kon­flik­te sind zwar da, wer­den aber zuguns­ten einer mög­lichst allen irgend­wie zu einem halb­wegs sta­bi­len Sta­tus ver­hel­fen­den „Pseu­do-Har­mo­nie“ nicht ange­spro­chen. Wer­den die Kon­flik­te den­noch stär­ker, erfin­den sich Grup­pen bis­wei­len eine Art „Blitz­ab­lei­ter“. So wird bei­spiels­wei­se eine ande­re Grup­pe zum Feind­bild erklärt. Man lei­tet die „Kon­flikt­en­er­gie“ in den Kampf gegen die ande­re Grup­pe um. Oder man wählt sich einen Füh­rer oder eine Füh­re­rin (bis­wei­len auch ein Paar), die dann die Kon­flik­te für die Grup­pe regeln sol­len. Wenn A und B sich strei­ten, so ist eine „har­mo­ni­sche“ Lösung, auf C zu ver­wei­sen und C zu bit­ten, die Sache zu ent­schei­den. C emp­fin­det das dann bis­wei­len sogar als Kom­pli­ment, indem sein oder ihr Sta­tus steigt. Aber dies funk­tio­niert nur so lan­ge, bis auch C nicht mehr in der Lage ist, den Blitz­ab­lei­ter für die Kon­flik­te dar­zu­stel­len. Dann wird ent­we­der neu­es Füh­rungs­per­so­nal „gewählt“ („C bringt es nicht. Frü­her dach­te ich, sie sei kom­pe­tent und so. Jetzt in der Kri­se zeigt sich, dass sie eben doch kei­ne rich­ti­gen Füh­rungs­qua­li­tä­ten hat. Ich wür­de mir wün­schen, dass Du eine stär­ke­re Rol­le in unse­rem Team spielst.“) – oder die Kon­flik­te müs­sen aus­ge­tra­gen werden.

Genau dar­um geht es in Team­ent­wick­lun­gen – die betref­fen­den Teams vom „Har­mo­nie-Modus“, in dem Kon­flik­te ver­drängt wer­den, in den „Arbeits­mo­dus“ zu brin­gen. Das geht nur, indem Kon­flik­te ange­spro­chen und aus­ge­tra­gen wer­den. Aller­dings liegt die Lösung nur sehr sel­ten in einem „von allen getra­ge­nen“ Kon­sens. Allein das Bestre­ben, dass eine Lösung „von allen getra­gen“ wer­den soll, spricht eher für eine Sehn­sucht zurück in die Har­mo­nie, denn für eine tat­säch­li­che Bereit­schaft zur kon­struk­ti­ven Aus­ein­an­der­set­zung. Lösun­gen haben oft mehr mit Klar­heit als mit Kon­sens zu tun. Und die Fähig­keit zum Kon­sens hat mehr mit dem Ertra­gen von Unsi­cher­heit, von Unter­schied­lich­keit, von Ambi­va­lenz und so wei­ter zu tun als mit einer tat­säch­lich gemein­sam geteil­ten Ver­si­on der Din­ge. Es geht eher um die Akzep­tanz, dass es auch ande­re Sicht­wei­sen gibt. Im Ide­al­fall kommt man zu der (dann gern: gemein­sa­men) Ein­sicht, dass eben die­se ande­ren Sicht­wei­sen hilf­reich sein kön­nen. Sind vie­le Sicht­wei­sen mög­lich – anstel­le des auf „Har­mo­nie“ gerich­te­ten Grup­pen­drucks – sind bes­se­re Lösun­gen mög­lich. Aber die Din­ge gehen dann auch lang­sa­mer. Man fin­det sich eher ab, man akzep­tiert eher, man weiß, dass Ver­än­de­run­gen Zeit brau­chen, und man weiß auch, dass man vie­le Ideen braucht, bis mal eine gute dabei ist. Und man weiß auch, dass man nur aus Feh­lern lernt oder in dem Moment, wenn etwas zum ers­ten Mal klappt.

Als Ein­stieg in sol­che Klä­rungs­pro­zes­se haben sich drei Fra­gen als hilf­reich erwie­sen (reih­um zu beantworten):

  • Wie waren die ver­gan­ge­nen Mona­te? Was war wichtig?
  • Wie geht es Ihnen momentan?
  • Was wün­schen Sie sich für die Zukunft (von die­sem Team)?

Wenn man die­se – und wei­te­re in ähn­li­cher Rich­tung lie­gen­de – Fra­gen behut­sam und gedul­dig ein­setzt, und vor allem mit der Zeit auch jene stär­ker ein­be­zieht, die wenig oder kaum etwas sagen, wird die – oft zunächst als homo­gen erschei­nen­de – Grup­pen­men­ta­li­tät zuguns­ten der Arti­ku­la­ti­on von „Min­der­hei­ten­mei­nun­gen“ auf­bre­chen. Gefragt sind Behut­sam­keit, Neu­tra­li­tät und Geduld. Im rich­ti­gen Moment kann auch eine Kon­fron­ta­ti­on hilf­reich sein, aber nur dann, wenn bereits eine Bezie­hung zwi­schen Grup­pe und Inter­ven­tio­nist gewach­sen ist. Man kann in schwie­ri­gen (was in der Regel so viel heißt wie: beson­ders pola­ri­sie­ren­den Dis­kus­sio­nen, beson­ders ein­heit­li­cher Mehr­heit, beson­ders schar­fe Schuld­zu­wei­sun­gen) auch das reflec­ting team zur Hil­fe neh­men oder gar eine Auf­stel­lung. Nor­ma­ler­wei­se reicht aber auch in kon­flikt­rei­chen Teams die behut­sa­me Befra­gung. Wich­tig ist nur, dass die mode­rie­ren­de Per­son neu­tral und gedul­dig bleibt und dem Har­mo­nie­be­stre­ben der Grup­pe nicht nach­gibt. In einem Extrem­fall sag­te ein Teil­neh­mer am Ende einer Team­ent­wick­lungs­sit­zung zu einem ande­ren Team­mit­glied: „Wenn ich Du wäre, wür­de ich mich heu­te Abend umbrin­gen.“ Eine sol­che Äuße­rung ist denk­bar krass. Aber: Die Per­son sagt zwar etwas über ihren Kol­le­gen, aber sie sagt auch etwas über sich selbst: „Das, was hier pas­siert ist, kann ich schwer ertra­gen.“ Inso­fern reicht die Akzep­tanz der Äuße­rung mit der Bit­te, die jet­zi­ge, für die meis­ten Team­mit­glie­der schwie­ri­ge Situa­ti­on zu ertra­gen, völ­lig aus. Alles ande­re hie­ße, der Har­mo­nie wie­der nach­zu­ge­ben. Was aber dem Team nichts hilft – nur den momen­ta­nen Sta­tus- oder Selbst­wert­be­dürf­nis­sen ein­zel­ner Teammitglieder.

Sind Min­der­hei­ten­mei­nun­gen wie­der mög­lich, „ver­flüs­si­gen“ sich auch die Front­li­ni­en wie­der und der Team­pro­zess öff­net sich in Rich­tung Zukunft.

Jörg Hei­dig

 

Wei­ter­le­sen: Bion, W. (2015): Erfah­run­gen in Grup­pen und ande­re Schrif­ten. Klett-Cotta.

 

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt als Dozent tätig und hatte viele Jahre Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.

Ein Kommentar

  1. Hal­lo, Herr Heidig.

    Neben tol­len Semi­na­ren füh­ren Sie schein­bar auch einen inter­es­san­ten und gut ver­ständ­li­chen Blog. Sie haben ab jetzt auf jeden Fall eine Lese­rin mehr :-).

    Ich möch­te an die­ser Stel­le noch­mal für das super Semi­nar heu­te dan­ken, da kommt man doch ger­ne auch mal am Frei­tag zur Uni :-P.

    Auch sehr inter­es­sant, dass sie zwi­schen mei­ner Kom­mi­li­to­nin und mir bei einem (für mich doch eher uner­war­tet auf­ge­tre­te­nem) Pro­blem aus­hel­fen woll­ten. Sagen wir es so: wäre das Semes­ter noch nicht zu Ende und dem­entspre­chend gro­ßer Klä­rungs­be­darf für mich da gewe­sen, hät­te ich mich sicher für eine Lösung an Sie gewandt. Jetzt, wo sowie­so alle getrenn­te Wege gehen wer­den, kann ich nur sagen: Es hat doch jeder sei­ne Wahrheit.

    Jeden­falls den­ke ich, dass Sie tol­le Arbeit leis­ten und hof­fe, dass ich viel­leicht auch mal sol­che Erfol­ge als Super­vi­sor/­Be­ra­ter/­Team­lei­ter/­was-auch-immer-die-Zukunft-bringt haben kann :-).

    Mit bes­ten Grüßen,
    Lisa Schröter

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