Im Grunde kann man bei der Durchführung von Teamentwicklungen zwei Arten unterscheiden. Zum einen gibt es da die „Teamentwicklung als Intervention“, etwa wenn es schon länger Konflikte gibt, oder die Umwelt Konflikte langsam bemerkt oder gar durch Konflikte in Mitleidenschaft gezogen wird. Zum anderen gibt es die „prophylaktische Teamentwicklung“, die regelmäßig ohne konkreten Anlass durchgeführt wird, und die vor allem der Reflexion dient. Letztere Variante ist eher selten, aber wenn sie zum Einsatz kommt und sich die Effekte sogar über Jahre hinweg entfalten können, dann hat sie in der Regel eine deutlich spürbare positive Wirkung auf die Klarheit der Rollen im Team, das Ausmaß der gegenseitigen Unterstützung, das Teamklima allgemein und nicht zuletzt die Bereitschaft, Störungen anzusprechen.
Denn eines bleibt festzuhalten: Störungen, also zumeist Konflikte, gibt es sowieso. Die Frage ist nur, wie Team und Leitung damit umgehen.
Der Prozess, durch den sich Gruppen oder Teams bilden
Jenseits aller Phasenmodelle der Entwicklung von Gruppen oder Teams über die Zeit hinweg sind es insbesondere zwei Phasen, die Gruppen in ihrer Entwicklung durchlaufen. Hilfreicher finde ich es, wenn man anstelle von Phasen besser von „Zuständen“ redet, die eine Gruppe annehmen und zwischen denen eine Gruppe oszillieren kann. Doch bevor wir zu den beiden Zuständen kommen, sei hier zunächst erläutert, wie sich Gruppen oder Teams bilden. Unabhängig davon, ob sich eine Gruppe freiwillig zusammenfindet oder durch eine Entscheidung Dritter zusammengesetzt wird, ist der Prozess der Gruppen- oder Teambildung – also der Prozess, in dessen Rahmen sich die definitorischen Eigenschaften von Gruppen oder Teams herausbilden (Kohäsion, Interdependenz, Ziele etc.) – essentiell gleich.
Angenommen, die Mitglieder eines neuen Teams kennen sich noch nicht. Das Team trifft sich zum allerersten Mal. Die Leiterin des neuen Teams hat vielleicht für eine lockere Atmosphäre gesorgt – man kann bei einem Kaffee oder einem anderen Getränk erst einmal „ankommen“. Angenommen, ein Teammitglied geht auf ein anderes zu, stellt sich kurz vor und fragt nach dem Woher und dem beruflichen Hintergrund seines Gegenübers. Je nach dem, was das Gegenüber nun erzählt, wird die Person, welche die Initiative ergriffen hatte, reagieren. Ist die Reaktion aufmerksam und positiv, steigert das die Wahrscheinlichkeit, dass die beteiligten Personen gern wieder miteinander sprechen, sowie die Wahrscheinlichkeit, noch einmal das Thema, um das es gegangen ist, anzusprechen. Ist die Reaktion neutral-distanziert oder gar negativ, sinken die genannten Wahrscheinlichkeiten. Die Beteiligten werden dann weniger gern noch einmal spontan aufeinander zugehen, und ein angesprochenes Thema wird vielleicht weniger gern noch einmal angesprochen. Diesen grundlegenden Prozess muss man sich während der ersten Tage eines Teams und auch darüber hinaus hundertfach wiederholt und nuanciert vorstellen. Die ersten Tage sind nur deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich hier die ersten Interaktionsmuster und Themenpfade bilden.
Die Macht der „Gruppenmentalität“
Phänomene wie das so genannte „Gruppendenken“ oder die viel besprochene Feststellung, dass die Gruppe mehr sei als die reine Ansammlung der zu ihr gehörenden Individuen, illustrieren den Umstand, dass sich das Wesen einer Gruppe aus der Ansammlung selbst beziehungsweise der Dynamik, die eine solche Ansammlung verursacht, ergibt. Salopp könnte man sagen: Einzeln ist der Mensch ein Wunderwerk. Zu zweit ist es bereits nicht mehr ganz einfach, und das Wunderwerk zeigt sich nicht mehr nur von der besten Seite. Ein Freund ist mithin jemand, der mich gut leiden kann, obwohl er mich kennt. Sind mehr als zwei zugange, wird es in der Regel – zumindest erst einmal – schwierig.
Schauen wir uns den Gruppenbildungsprozess noch einmal genauer an: Menschen, die sich nicht kennen, treten zu einer neuen Gruppe oder einem neuen Team zusammen. Der zunächst zu beobachtende Interaktionsprozess ist von Vorsicht und einer gewissen Rücksichtnahme gekennzeichnet. Viele sind einstweilen noch unsicher und beobachten erst einmal, wie die anderen auf ihre Äußerungen reagieren. Aus den vielen Einzelinteraktionen der ersten Tage ergeben sich bestimmte Interaktionsmuster, die sich später festigen: einige Themen werden immer häufiger angesprochen, andere geraten in den Hintergrund; einige interagieren öfter miteinander, andere bleiben neutral; manche Gruppenmitglieder mögen sich mit einer gewissen Skepsis begegnen. Wichtig ist, dass dies kein durchgängig absichtsvoller Prozess ist – es ergibt sich einfach aus den Interaktionen. Nun kommt aber zu den Einzelinteraktionen noch eine andere Ebene hinzu. In dem neuen Team gibt es ja nicht nur Interaktionen zwischen zwei Personen, sondern es gibt auch eine ganze Reihe von Interaktionsprozessen, die im gesamten Team oder in Teilen des Teams, aber eben mit mehr als zwei Beteiligten stattfinden. Hier spricht eine Person nicht mehr nur zu einem Genenüber, sondern zu mehreren gleichzeitig. Die Reaktionen kommen nun nicht mehr nur von einer Person, sondern von mehreren. Da ein Mensch seinen sozialen Status nicht selbst bestimmen kann, sondern die Informationen über seinen momentanen Status im sozialen Gefüge anhand der Reaktionen von anderen erhält, wird der beschriebene Interaktionsprozess unter mehreren Gruppenmitgliedern „selbstwertwirksam“ – ich sage nicht zwingend das, was ich tatsächlich denke, sondern ich sage das, wovon ich meine, dass dies bei den anderen solche Reaktionen hervorruft, die meinem Status oder Selbstwert zuträglich sind. Dieser Umstand bildet ein weiteres Element der Musterbildung – indem ein Gruppenmitglied beobachtet, welche Themen „en vogue“ sind, wird es vor allem solche Themen ansprechen. Das erklärt auch die Homogenisierung in den Ansichten von Gruppenmitgliedern mit der Zeit und die Abnahme in der Gruppe selbst denkbarer Alternativen – ein Umstand, der als „Gruppendenken“ bekannt wurde und der eine wesentliche Rolle bei der Verursachung einiger Krisen und Kriege spielte.
Mobbing als unbeabsichtigter Effekt
An dieser Stelle wird deutlich, wie Mobbing als „eigentlich unbeabsichtigter Nebeneffekt“ einer solchen Gruppenmentalität entstehen kann: ein Teammitglied (A) ist vielleicht anfangs ein wenig unsicher und hält sich deshalb etwas länger zurück. Es beobachtet, dass zwei Teammitglieder, die vergleichsweise häufig sprechen (X und Y), immer wieder kritisch auf Ideen und andere Wortmeldungen eines dritten Teammitglieds (B). Obwohl A die Ideen von B vielleicht sogar überlegenswert findet, hält sich A zurück und unterstützt B nicht, wenn die – ohnehin durch die relativ hohe Wortmeldehäufigkeit schon recht präsenten und oft zusammen auftretenden – Teammitglieder X und Y die Einlassungen von B kritisieren. Im Gegenteil: um dazuzugehören und den eigenen Status zu sichern, kann das vergleichsweise unsichere A zu folgender Doppelstrategie kommen: im Team unterstützt A die beiden „lauten“ Teammitglieder X und Y, im persönlichen Gespräch versichert A hingegen, dass sie oder er B gut verstehen kann. B wird dadurch möglichwerweise stärker verunsichert als durch eine klare und offen kommunizierende „Front“. Gewinnt dieser Prozess an Dynamik, kann er leicht zu dem werden, was man als Mobbing bezeichnet. Dies ist insbesondere dann wahrscheinlich, wenn X oder Y mit A oder weiteren Teammitgliedern in Abwesenheit von B Vermutungen darüber anstellt, warum B so und nicht anders sei, warum dies womöglich so nicht akzeptabel sei und so weiter.
So lange ein solcher Prozess noch nicht zu weit fortgeschritten ist, lässt er sich im Rahmen einer Teamentwicklung bearbeiten, indem – idealerweise an konkreten Beispielen, also beispielsweise Meinungsverschiedenheiten – unterschiedliche Sichtweisen benannt werden und dann die damit verbundenen emotionalen Zustände thematisiert werden. Ziel ist, dass die „schweigenden Minderheiten“ wie A sich irgendwann zu Wort melden und sich aus der Anonymität herausbegeben. Indem A nun auch vor X und Y eine eigene Position – möglicherweise zwischen X und Y auf der einen und B auf der anderen Seite, wird deutlich, dass es keine „homogene Mehrheit“ im Team gibt, sondern eine heterogene Meinungsvielfalt. Indem A vielleicht auch öffentlich Mitgefühl für die Emotionen von B zeit, bröckelt die – oft nur von außen als solche wahrgenommene – „Allianz“ zwischen X und Y und eine dieser beiden Personen beginnt, Verständnis für B zu zeigen. Mehr braucht es nicht – nur Verständnis und die Fähigkeit, die Unsicherheit zu ertragen, die es bedeutet, zur Kenntnis zu nehmen, dass eine Gruppe kein „harmonisches Ganzes“ ist, sondern eine „dynamische Heterogenität“ besitzt. Diese „dynamische Heterogenität“ macht viele Menschen unsicher, weil sie dann in der Regel nicht wissen, wo sie statusmäßig gerade stehen. Es braucht die Erfahrung, dass der Status eines Teammitglieds trotz des Austragens von Konflikten noch in Ordnung ist. Das erfordert aber zunächst den Mut, die Harmonie-Illusionen, die Gruppen zunächst produzieren, zu verlassen – und dies erfordert eben jene bereits angesprochene Fähigkeit zum Ertragen von Unsicherheit.
Worauf es bei Teamentwicklungen ankommt
Anhand des soeben geschilderten Beispiels wird deutlich, worauf es bei Teamentwicklungen ankommt. Es geht weniger um die Formulierung eines Ziels und den Einsatz möglichst geeigneter Methoden, sondern es geht darum, einen hilfreichen Interaktionsprozess zu initiieren. Das Problem dabei ist allerdings regelmäßig das folgende: Zwar werden solche Teams sagen, dass es Probleme gibt und sich etwas ändern soll – wird es aber konkret, zieht man sich schnell zurück. Eine der Fallen, in die Teamentwickler, Berater oder Moderatoren dann treten können ist die Bitte, dass doch „der Herr Experte“ einmal seine Sicht auf das Team schildern möge. Tut man dies, so erntet man im angenehmeren Fall verwundertes Schweigen, im weniger angenehmes Fall kommt es zu einer Reihe wortreicher Erläuterungen, warum die – ansonsten klugen und im passenden Fall sicher hilfreichen – Ratschläge des Experten in diesem Fall nicht funktionieren würden.
Im Grunde kommt es nach der oben beschriebenen ersten und „netten“ Phase in jedem Team zu Konflikten. Auch bestehende Teams, die jahrelang konfliktarm funktioniert haben, kann dies treffen, etwa nach Personalwechsel oder einer Veränderung der Rollenkonstellation. Die Konflikte bahnen sich an und werden bemerkt. Es gibt jedoch, wie wir bereits dargestellt haben, Gründe, so zu handeln, dass der eigene Status mindestens nicht sinkt, sondern eher steigt. Man sagt also vornehmlich solche Dinge, von denen man meint, dadurch günstige Gruppenreaktionen hervorzurufen. Der Preis: Konflikte sind zwar da, werden aber zugunsten einer möglichst allen irgendwie zu einem halbwegs stabilen Status verhelfenden „Pseudo-Harmonie“ nicht angesprochen. Werden die Konflikte dennoch stärker, erfinden sich Gruppen bisweilen eine Art „Blitzableiter“. So wird beispielsweise eine andere Gruppe zum Feindbild erklärt. Man leitet die „Konfliktenergie“ in den Kampf gegen die andere Gruppe um. Oder man wählt sich einen Führer oder eine Führerin (bisweilen auch ein Paar), die dann die Konflikte für die Gruppe regeln sollen. Wenn A und B sich streiten, so ist eine „harmonische“ Lösung, auf C zu verweisen und C zu bitten, die Sache zu entscheiden. C empfindet das dann bisweilen sogar als Kompliment, indem sein oder ihr Status steigt. Aber dies funktioniert nur so lange, bis auch C nicht mehr in der Lage ist, den Blitzableiter für die Konflikte darzustellen. Dann wird entweder neues Führungspersonal „gewählt“ („C bringt es nicht. Früher dachte ich, sie sei kompetent und so. Jetzt in der Krise zeigt sich, dass sie eben doch keine richtigen Führungsqualitäten hat. Ich würde mir wünschen, dass Du eine stärkere Rolle in unserem Team spielst.“) – oder die Konflikte müssen ausgetragen werden.
Genau darum geht es in Teamentwicklungen – die betreffenden Teams vom „Harmonie-Modus“, in dem Konflikte verdrängt werden, in den „Arbeitsmodus“ zu bringen. Das geht nur, indem Konflikte angesprochen und ausgetragen werden. Allerdings liegt die Lösung nur sehr selten in einem „von allen getragenen“ Konsens. Allein das Bestreben, dass eine Lösung „von allen getragen“ werden soll, spricht eher für eine Sehnsucht zurück in die Harmonie, denn für eine tatsächliche Bereitschaft zur konstruktiven Auseinandersetzung. Lösungen haben oft mehr mit Klarheit als mit Konsens zu tun. Und die Fähigkeit zum Konsens hat mehr mit dem Ertragen von Unsicherheit, von Unterschiedlichkeit, von Ambivalenz und so weiter zu tun als mit einer tatsächlich gemeinsam geteilten Version der Dinge. Es geht eher um die Akzeptanz, dass es auch andere Sichtweisen gibt. Im Idealfall kommt man zu der (dann gern: gemeinsamen) Einsicht, dass eben diese anderen Sichtweisen hilfreich sein können. Sind viele Sichtweisen möglich – anstelle des auf „Harmonie“ gerichteten Gruppendrucks – sind bessere Lösungen möglich. Aber die Dinge gehen dann auch langsamer. Man findet sich eher ab, man akzeptiert eher, man weiß, dass Veränderungen Zeit brauchen, und man weiß auch, dass man viele Ideen braucht, bis mal eine gute dabei ist. Und man weiß auch, dass man nur aus Fehlern lernt oder in dem Moment, wenn etwas zum ersten Mal klappt.
Als Einstieg in solche Klärungsprozesse haben sich drei Fragen als hilfreich erwiesen (reihum zu beantworten):
- Wie waren die vergangenen Monate? Was war wichtig?
- Wie geht es Ihnen momentan?
- Was wünschen Sie sich für die Zukunft (von diesem Team)?
Wenn man diese – und weitere in ähnlicher Richtung liegende – Fragen behutsam und geduldig einsetzt, und vor allem mit der Zeit auch jene stärker einbezieht, die wenig oder kaum etwas sagen, wird die – oft zunächst als homogen erscheinende – Gruppenmentalität zugunsten der Artikulation von „Minderheitenmeinungen“ aufbrechen. Gefragt sind Behutsamkeit, Neutralität und Geduld. Im richtigen Moment kann auch eine Konfrontation hilfreich sein, aber nur dann, wenn bereits eine Beziehung zwischen Gruppe und Interventionist gewachsen ist. Man kann in schwierigen (was in der Regel so viel heißt wie: besonders polarisierenden Diskussionen, besonders einheitlicher Mehrheit, besonders scharfe Schuldzuweisungen) auch das reflecting team zur Hilfe nehmen oder gar eine Aufstellung. Normalerweise reicht aber auch in konfliktreichen Teams die behutsame Befragung. Wichtig ist nur, dass die moderierende Person neutral und geduldig bleibt und dem Harmoniebestreben der Gruppe nicht nachgibt. In einem Extremfall sagte ein Teilnehmer am Ende einer Teamentwicklungssitzung zu einem anderen Teammitglied: „Wenn ich Du wäre, würde ich mich heute Abend umbringen.“ Eine solche Äußerung ist denkbar krass. Aber: Die Person sagt zwar etwas über ihren Kollegen, aber sie sagt auch etwas über sich selbst: „Das, was hier passiert ist, kann ich schwer ertragen.“ Insofern reicht die Akzeptanz der Äußerung mit der Bitte, die jetzige, für die meisten Teammitglieder schwierige Situation zu ertragen, völlig aus. Alles andere hieße, der Harmonie wieder nachzugeben. Was aber dem Team nichts hilft – nur den momentanen Status- oder Selbstwertbedürfnissen einzelner Teammitglieder.
Sind Minderheitenmeinungen wieder möglich, „verflüssigen“ sich auch die Frontlinien wieder und der Teamprozess öffnet sich in Richtung Zukunft.
Weiterlesen: Bion, W. (2015): Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Klett-Cotta.
Hallo, Herr Heidig.
Neben tollen Seminaren führen Sie scheinbar auch einen interessanten und gut verständlichen Blog. Sie haben ab jetzt auf jeden Fall eine Leserin mehr :-).
Ich möchte an dieser Stelle nochmal für das super Seminar heute danken, da kommt man doch gerne auch mal am Freitag zur Uni :-P.
Auch sehr interessant, dass sie zwischen meiner Kommilitonin und mir bei einem (für mich doch eher unerwartet aufgetretenem) Problem aushelfen wollten. Sagen wir es so: wäre das Semester noch nicht zu Ende und dementsprechend großer Klärungsbedarf für mich da gewesen, hätte ich mich sicher für eine Lösung an Sie gewandt. Jetzt, wo sowieso alle getrennte Wege gehen werden, kann ich nur sagen: Es hat doch jeder seine Wahrheit.
Jedenfalls denke ich, dass Sie tolle Arbeit leisten und hoffe, dass ich vielleicht auch mal solche Erfolge als Supervisor/Berater/Teamleiter/was-auch-immer-die-Zukunft-bringt haben kann :-).
Mit besten Grüßen,
Lisa Schröter