In Organisationsentwicklungsprojekten geht es zunächst darum, die betreffende Organisation zu verstehen. Etwas generalisierend könnte man behaupten, dass man ein Unternehmen so lange nicht verstanden hat, bis man versucht hat, es zu verändern. Da ist etwas dran, aber irgendwo muss man beginnen. Deshalb sollte man meines Erachtens, und zwar unabhängig davon, ob man eher Change Management oder Organisationsentwicklung betreiben möchte, das betreffende Unternehmen erst einmal kennenlernen, um überhaupt eine Grundlage für den Ansatz von Entwicklungs- oder Veränderungsmaßnahmen zu schaffen. Im Grunde gibt es drei denkbare Wege:
- teilnehmende Beobachtung: Dafür hat man in der Regel weder die Zeit noch das Budget.
- Mitarbeiterbefragung: Ein guter Fragebogen kann helfen, die „Baustellen“ eines Unternehmens genau zu identifizieren. Insbesondere ermöglichen Mitarbeiterbefragungen einen Vergleich zwischen verschiedenen Abteilungen/Bereichen/Teams. Zudem kann man bezüglich wichtiger Variablen den Branchendurchschnitt mit den Werten des jeweiligen Unternehmens vergleichen. Deshalb führen wir gemeinsam mit MAS Partners alle zwei Jahre eine große, für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen repräsentative Mitarbeiterbefragung durch, die uns ermöglicht, für wichtige Branchen genau zu beziffern, wie zufrieden Mitarbeiter mit ihren Arbeitgebern sind, wie hoch die Wechselbereitschaft ist, was Mitarbeiter von ihren Arbeitgebern und ihren Vorgesetzten erwarten, wie hoch die Motivation ist usw.
- Interviews: Meines Erachtens sind Interviews die zunächst offenste Methode, sich einer Organisation anzunähern. In diesem Beitrag geht es darum, welche Fragen helfen, eine Organisation analysieren und verstehen zu können.
Die nach meiner Erfahrung effektivste Methode, eine Organisation zu verstehen, ist eine Kombination aus allen drei Methoden: Man läuft ein paar Tage in verschiedenen Unternehmensbereichen mit und beobachtet, anschließend führt man eine Reihe von Interviews durch und schließlich erhebt man vermittels eines passgenauen Fragebogens ein repräsentatives Meinungsbild. Aber wie gesagt: Man hat selten die Zeit und noch seltener das Budget dazu.
Man kann sich einer Organisation aus verschiedenen Perspektiven annähern:
- Aufbau/Struktur
- Prozess/Abläufe
- Kultur
- Werte/Leitbild
Aufbau/Struktur
Man kann sich zunächst das Organigramm eines Unternehmens zeigen lassen. Dabei steht man regelmäßig dem Problem gegenüber, dass die formale Organisationsbeschreibung das eine ist, sich die gelebte Organisationsstruktur aber oft anders darstellt. In anderen Worten: Ob jemand tatsächlich die Rolle spielt, die sie oder er offiziell einnimmt, ist von den informellen, tatsächlich gelebten Beziehungen abhängig. Ein Grundsatz des human-relations-Ansatzes besagt daher zu Recht, dass die Organisationsmitglieder ihre Handlungen eher an der informellen Organisationsstruktur ausrichten und weniger an der formalen.
Ein weiteres Problem mit einer reinen Fokussierung auf Strukturen ist, dass eine Analyse der Ist-Struktur allein noch nichts besagt. Man kann die Ist-Struktur einer Organisation mit verschiedenen Soll-Vorstellungen oder Denkmodellen über Organisationen (bspw. klassische Linien-Hierarchie, Matrix-Organisation, agile Organisation) vergleichen und daraus Schlussfolgerungen ziehen. Man kann dann z.B. entscheiden, ob man ein anderes Modell bevorzugt, aber man weiß deshalb noch nicht, ob es in einem konkreten Fall tatsächlich besser funktioniert. Nur weil bspw. in einem anderen Unternehmen der gleichen Branche eine agilere Struktur gut funktioniert, ist noch nicht gesagt, dass das auch für das konkret betrachtete Unternehmen zutrifft. Deshalb muss immer auch betrachtet werden, wie die Beteiligten konkret handeln, also wie die Strukturen gelebt werden — womit man bei der zweiten Perspektive, nämlich den Prozessen ist.
Lesen Sie zum Thema agile Organisationsstrukturen auch diesen Beitrag: Agile Unternehmen zeigen sich deutlich wandlungsfähiger als traditionelle Unternehmen — und deutlich unbeeindruckter von Corona
Prozesse/Abläufe
Organisationen bestehen aus verketteten Handlungen, die sich auf die Erfüllung eines Unternehmens- oder Organisationszwecks richten. Hier kann man so genannte Kernprozesse (direkte Wertschöpfung oder direkt auf den Organisationszweck gerichtet) von Unterstützungsprozessen (alles, was an sekundären Leistungen für die Erfüllung des primären Zwecks notwendig ist, also bspw. Personalmanagement oder Marketing) unterscheiden. Im Grunde betrachtet man hier, wie im Unternehmen konkret gehandelt wird. Man wird in der Praxis eher wenige Führungskräfte und noch weniger Mitarbeiter finden, die die Struktur des Unternehmens umfassend und tiefgreifend reflektieren. Aber jeder Mitarbeiter und jede Führungskraft hat ein Bild von der eigenen Rolle bzw. von den eigenen Aufgaben. Und jede und jeder wird eine Antwort auf die Frage finden, was im eigenen Arbeitsbereich und an den — so vorhanden — Schnittstellen zu anderen Arbeitsbereichen gut funktioniert und was sich ggf. ändern müsste, damit es reibungsärmer oder effizienter läuft.
Deshalb sollte man m.E. zunächst nach konkreten Handlungen fragen. Daraus kann man direkte Rückschlüsse auf die Abläufe und indirekte Rückschlüsse auf die Struktur ziehen. Die Erkenntnisse zum Thema Struktur (also die Antworten auf die Frage, ob die Struktur funktioniert oder was sich an ihr verändern müsste) ergeben sich also aus der Analyse konkreter Handlungen.
Kultur
Bei der Analyse einer Unternehmenskultur ist es ähnlich wie mit der Struktur: Die beobachtbaren Handlungen sind keinesfalls die Kultur selbst, sondern eher ihr Ausdruck, so wie etwa eine menschliche Handlung ein Ausdruck einer bestimmten Haltung oder Eigenschaft ist, aber keinesfalls die Haltung oder Eigenschaft selbst. Diesen Zusammenhang verdeutlicht kein Modell besser als Edgar Scheins Modell der Organisationskultur:
Abbildung: Das Organisationskultur-Modell nach Edgar Schein; Inhalt der Abbildung: Schein, E.H. (2010). Organizational Culture and Leadership. Wiley; Abbildung aus: Heidig et al. (2012). Prozesspsychologie. Edition Humanistische Psychologie; Zeichnung: Juliane Wedlich
Zu der Frage, wie eine Organisationskultur entsteht und wie sich das Scheinsche Organisationskultur-Modell verstehen lässt, siehe diesen Beitrag.
Man hat bei der Analyse einer Organisationskultur zwei Möglichkeiten:
- Man beobachtet oder erfragt konkrete Handlungen und ggf. auch die dahinter liegenden Motive und Werte und zieht daraus Schlüsse auf den „Kern der Kultur“, also die in der jeweiligen Organisation vorherrschenden Grundannahmen.
- Man erläutert einer Auswahl von Organisationsmitgliedern das Scheinsche Modell und bittet sie, es zunächst einzeln und dann in kleinen Gruppen reflektierend auf die eigene Praxis bzw. die eigene Organisation anzuwenden.
Werte/Leitbild
Viele Kollegen beginnen Veränderungsprozesse, indem sie gemeinsam mit Mitarbeitern und Führungskräften ein Leitbild erarbeiten und daraus Werte sowie Soll-Strukturen und ‑prozesse ableiten. Das ist sicher eine mögliche Vorgehensweise, aber ob sie in jedem Fall hilfreich ist, wird sowohl in der Fachliteratur als auch in der Praxis kontrovers diskutiert. Meine Erfahrung besagt, dass, wenn die gelebte Praxis von Widersprüchen und Problemen gekennzeichnet ist, ein (oft: erneut) formuliertes SOLL die gelebte Praxis nicht verändert. Alte Gewohnheiten haben die Eigenschaft, sich nicht belehren zu lassen. Sie kommen deshalb gleichsam durch die Hintertür wieder herein. Wenn also etwas ein Problem ist, dann soll es auch so heißen. Die reine Proklamation guter Absichten oder besserer Kommunikation allein können die Praxis nicht ändern. Nach meiner Erfahrung braucht es zunächst die Einsicht in das, was in der gelebten Praxis nicht funktioniert, und dann den begründeten Willen und den Mut der Beteiligten, etwas zu ändern — und das gegen die oft mit Emotionen besetzten alten Gewohnheiten. Ein Leitbild kann sehr hilfreich sein, aber weniger als Ansatz von Veränderungen, sondern vielmehr als ein Instrument während oder gegen Ende des Veränderungsprozesses, um die neuen Handlungen auszurichten. Wie bspw. ein auf Klimaneutralität ausgerichteter Leitbildprozess eines Unternehmens praktisch aussehen kann, beschreibe ich hier.
Wenn die bisherigen Betrachtungen nicht falsch sind, dann ergibt sich bezüglich der Analyse von Organisationen in gewisser Weise ein Fokus auf konkrete Handlungen bzw. die gelebte Praxis, weil erst die Reflexion des tatsächlich Gelebten Rückschlüsse auf die Fragen aus den anderen Perspektiven ermöglicht.
Hierbei unterscheide ich drei Ebenen:
- Der primäre oder Kern-Prozess: alle Leistungen, die wertschöpfend sind
- Die sekundären oder Unterstützungsprozesse: Personal, Marketing usw.
- Die Koordinations- oder Besprechungsprozesse, mit denen die primären oder sekundären Prozesse gesteuert werden
Abbildung: Die Orientierung am Zeitstrahl bei der Befragung von Mitarbeitern und Führungskräften; eigene Darstellung
Nach der gegenseitigen Vorstellung meiner Person und meines Gesprächspartners (wozu auch gehört, um eine Beschreibung der Rolle meines Gegenübers zu bitten) beginne ich gern mit einer Orientierung am Zeitstrahl:
- Ganz allgemein gefragt: Wenn Sie an die letzten Monate denken, was hat da in Ihrem Aufgabenbereich gut funktioniert? Was nicht? Hat sich etwas zum Besseren entwickelt? Oder umgekehrt?
- Wie geht es Ihnen mit Ihrer Rolle/Funktion bzw. Ihren Aufgaben momentan? Wie klar ist Ihnen, was Sie machen sollen? Wie klar sind die Erwartungen, die an Sie gestellt werden? Wie klar sind die Abläufe?
- In Bezug auf Ihre Rolle/Aufgabe und die Prozesse und Besprechungen, an denen Sie beteiligt sind: Was wünschen Sie sich? Was müsste sich ändern, damit der Kernprozess effizienter oder die Kommunikation reibungsärmer oder klarer wird? Was wünschen Sie sich in Bezug auf die bereichsübergreifende Zusammenarbeit?
Besonders wichtig sind danach die folgenden Fragen:
- Wie funktioniert die bereichsinterne Zusammenarbeit? Wie koordinieren Sie Ihre Aufgaben? Wie werden die entsprechenden Besprechungstermine/Regeln usw. eingehalten? Sehen Sie ggf. Entwicklungsbedarf, und wenn ja, welchen?
- Wie funktioniert die bereichsübergreifende Zusammenarbeit? Welche „Schnittstellen“ sind besonders wichtig? Wo hakt es ggf. manchmal? Welchen Veränderungsbedarf sehen Sie ggf.? Kennen die Mitglieder anderer Arbeitsbereiche die Erwartungen/Belange Ihres Bereiches? Und umgekehrt?
In der Regel erfahre ich aus den Antworten auf diese Fragen, was gut läuft und wo es hakt. Vertiefend frage ich immer wieder nach dem Kernprozess/der eigentlichen Arbeit und der die Arbeit koordinierenden Kommunikation, um herauszufinden,
- ob die Schnittstellen und die bereichsübergreifenden Erwartungen (und manchmal auch: der gegenseitige Respekt) klar bzw. vorhanden sind und
- ob die relevanten Informationen zur richtigen Zeit an die richtige Stelle fließen oder zumindest fließen können.
Beim letztgenannten Punkt gibt es eine „Bring- und eine Holschuld“, und das ist in der Regel eine Frage
- der geeigneten Beziehungsgrundlage (Kennen sich die Beteiligten ausreichend? Haben sie Respekt voreinander? Gibt es eine Arbeitsbeziehung mit ausreichend Vertrauen?) und
- der Besprechungsstruktur (Zeitpunkt bzw. Besprechungsabfolge; Sitzen die richtigen Personen am Tisch? Wer macht die Agenda, und funktioniert die Agenda?)
Die in der Regel sehr umfangreichen Mitschriften solcher Interviews werte ich mit Hilfe qualitativer Analyseverfahren aus und präsentiere die Ergebnisse im Anschluss der Unternehmensleitung und nachfolgend den Führungskräften und Mitarbeitern verschiedener Bereiche. In der Regel orientieren sich meine Ergebnispräsentationen an folgenden Kriterien oder Fragen:
- Wie lautet der Auftrag?
- Darstellung der Analyseergebnisse entlang des Kernprozesses
- Bereichsspezifische Erkenntnisse
- Bereichsübergreifende Erkenntnisse
- Denk- oder Handlungsrichtungen
Alternative Strukturierungs- oder Unterscheidungsmöglichkeiten wären:
- Was läuft gut?/Baustellen
- technische/menschliche Faktoren
- Prozessschritte/Schnittstellen/Kommunikation
In der ersten Präsentation geht es oft noch nicht um Handlungsempfehlungen, sondern eher um Denkrichtungen oder Handlungsrichtungen. Die sich ggf. ergebenden konkreten Ansatzpunkte und Maßnahmen werden erst danach im Dialog mit den betroffenen Führungskräften und Mitarbeitern entwickelt. Wie gesagt: Oft ist es hilfreich, die Präsentation in mehreren Runden/Bereichen zu halten.
Oft bekomme ich auch die Frage nach der Auswahl geeigneter Gesprächspartner gestellt:
- Zunächst etwas metaphorisch: Es geht darum, mit Personen zu sprechen, die eine wirklich tiefe Kenntnis der „Welt“ besitzen, um die es geht. Diese Personen sollten eine Art „genetischen Code“ des Unternehmens bilden.
- Etwas praktischer: Die Analyse sollte entlang des Kernprozesses und ggf. relevanter Unterstützungsprozesse stattfinden. Ein Auswahlkriterium wäre daher, mit jeweils einer Fach- und einer Führungskraft aus den wichtigsten Bereichen zu sprechen. Des Weiteren wäre es gut, mit Mitarbeitern zu sprechen, die an besonders wichtigen Schnittstellen arbeiten.
- Ergänzend: Wenn es in einem Bereich etwa „polarisierende Sichtweisen“ gibt, also bezüglich wichtiger Fragen zum Beispiel zwei Meinungslager, dann wäre es wichtig, Vertreter aus beiden Lagern zu hören.
PS:
Lesen Sie zum Thema Organisationsentwicklung auch diesen Artikel:
Organisationsentwicklung Teil 1: Der Baukasten
Lesen Sie zum Thema „Aufbau/Struktur/Hierarchie“ auch die folgenden beiden Artikel: