Teil 1: Moralische Verletzung
So weit ich weiß, gibt es den Begriff der moralischen Erschöpfung noch nicht. Aber der Begriff beschreibt ein derzeit häufig zu beobachtendes Phänomen. Was es bereits gibt, ist der Begriff der „moralischen Verletzung“ (moral injury).
Moralische Verletzung tritt beispielsweise bei Einsatzkräften in Auslandseinsätzen auf, wenn sie andauernd menschliches Leid beobachten, aber nicht helfen können oder dürfen. Insbesondere dann, wenn jemand im Einsatz oft Kinder leiden sieht, aber nichts tun kann, kann dies zu moralischer Verletzung führen.
Zu moralischer Verletzung kann auch führen, wenn man auf Dauer sehr dummen oder/und inkompetenten Vorgesetzten ausgesetzt ist, ohne an diesem Umstand etwas ändern oder sich wenigstens etwas vor diesem Umstand schützen zu können. Zudem kann es zu moralischer Verletzung führen, wenn der Zweck des Einsatzes im Heimatland zunehmend hinterfragt wird und der Rückhalt für den Einsatz in der Gesellschaft bröckelt und zurückgeht.
Man stelle sich nun „unsere“ Einsätze in Afghanistan vor — und zwar nicht nur das Schicksal der in der Bundeswehr eingesetzten Soldaten, sondern zum Beispiel auch die Lage der Polizisten auf Ausbildungsmission oder des Personals von Entwicklungsgesellschaften. Afghanistan mag ein extremes Beispiel sein, aber man stelle sich eben einmal den Kontrast zwischen der „Leichtigkeit“ der politischen Entscheidung zur Entsendung („Deutschland wird am Hindukusch verteidigt.“) und der Realität eines Einsatzes vor.
Natürlich „darf“ man nicht fragen, wie viele Bundestagsabgeordnete einen Auslandseinsatz erlebt haben oder etwa vorübergehend Teil entsprechender Organisationen waren. Das wäre unangemessen. Die übergroße Mehrheit der Entscheider hat in der Regel keine oder wenig realitätsnahe Ahnung davon, was ihre Entscheidungen konkret bedeuten. Das müssen sie vielleicht auch nicht, schließlich handelt es sich ja um eine repräsentative Demokratie. Aber die Folgen, die sind eben real, und zwar insbesondere dann, wenn es um den gesellschaftlichen Rückhalt für die Einsätze geht.
Repräsentative Demokratie bedeutet im Kern, dass wir Leute wählen — Klartext: wir uns als Gesellschaft eine entsprechende Gruppe „leisten“ —, die den politischen Kram für uns irgendwie erledigt. Die Frage ist nur, was passiert, wenn wir langsam nicht mehr glauben, dass diese Leute das auch irgendwie hinkriegen.
Die Folge moralischer Verletzung können posttraumatische Symptome sein. Nicht müssen, sondern können. Um dem allzu verbreitenden Trend zur „diskursiven Psychologisierung“ vorzubeugen: Nicht alle Einsatzkräfte sind potentiell traumatisiert, nur weil sie im Einsatz waren. Aber wenn wir als Gesellschaft eben alles auseinandernehmen, hinterfragen, „dekonstruieren“ und so weiter, müssen wir uns nicht wundern, wenn der sinkende Rückhalt, einhergehend mit einer sinkenden Bereitschaft für solche Einsätze, Folgen hat.
Nun war nicht jeder oder jede von uns im Auslandseinsatz, und schon gar nicht in Afghanistan oder in Mali oder im Kosovo. Die meisten von uns haben nie erlebt, was es bedeutet, selbst den Sinn des eigenen Einsatzes zu hinterfragen oder — schlimmer noch — hinterfragt zu sehen — geschweige denn, dass man Menschen leiden sah und dabei erleben musste, nichts tun zu können. Die meisten von uns haben nicht erlebt, was es bedeutet, dass der Sinn des eigenen Engagements nach der Rückkehr vom eigenen Umfeld oder von der Gesellschaft hinterfragt wird oder man bspw. für seine — in der Absicht „guten“, in der (unbeabsichtigten) Konsequenz vielleicht dennoch „unglücklichen“ oder sogar „tödlichen“ — Entscheidungen vor Gericht gestellt wird.
All das sind vielleicht extreme und entsprechend seltene Fälle, ebenso wie tatsächlich traumatische Folgen jener moralischen Verletzung vielleicht selten bleiben.
Teil 2: Moralische Erschöpfung oder Pflichtverwahrlosung?
Aber etwas anderes, weit weniger „großes“, etwas viel „leiseres“ kommt, so will ich meinen, häufiger vor — und bleibt ebenso oft unbemerkt, wie es doch aber Folgen hat. Die Folgen sind zwar „leiser“ und vielleicht auch „langsamer“, aber deshalb — zumindest mit der Zeit — nicht weniger wirksam.
Können Sie sich vorstellen, die Hoffnung zu verlieren?
Angenommen, Sie haben sich einmal etwas eingebildet. Menschen können sich ja etwas einbilden. Um nicht zu sagen: Unsere Einbildungen sind manchmal viel mächtiger als unser Realitätssinn. Beispiel Kreuzzüge: Was genau wollten die Leute da? Wofür nochmal haben sie so viele Menschen getötet und sind selbst gestorben? Und stellen Sie sich einmal den Aufwand vor: so eine Rüstung war im Vergleich zu den überhaupt verfügbaren Mitteln extrem teuer. Und dann der Ritt bis Palästina — um dort was zu erledigen? Genau wie Napoleon in Russland oder der Stellungskrieg im ersten Weltkrieg oder die Wehrmacht in Russland oder heuer die Russen in der Ukraine oder eben die effizienteste Armee der Welt in einem Freiluftgefängnis am Mittelmeer: Was genau sollte oder soll das werden? Und was wurde oder wird daraus? „Ich habe den Krieg mit dem Leben bezahlt“, können nur die Toten sagen. Aber die Toten sind ja tot und sagen deshalb nichts mehr.
Heuer ist Widerstand ganz einfach. Knapp achtzig Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ist „besser wissen“ ganz einfach, weil die Erlebnisgeneration tot ist. Und mit dem „besser wissen“ kommen neue Ideale und wohl auch neue Idealismen. Hinter jedem Zyniker steckt ein enttäuschter Idealist. Enttäuschte Idealisten machen aber in der Regel keinen Schaden mehr. Angst haben muss man vor den Erleuchteten. Von der Erleuchtung zur Legitimierung des Schrecklichen ist es manchmal nur ein kleiner Schritt. So verbrennen Ideale: entweder die Träger der Ideale werden enttäuscht oder sie sterben im Feuer. Gnade uns Gott, dass sie schaffen, was sie schaffen wollten, dann erschaffen sie ganz schnell neue Monster. Konservativ zu sein bedeutet in seiner positiven Lesart, den dünnen zivilisatorischen Firnis zu achten, der unsere Fähigkeit zu archaischen oder idealistischen Exzessen limitiert.
„Ohne Zurückhaltung gibt es keine Zivilisation“ stand auf Plakaten, die man in den ersten Nachkriegsmonaten in Bosnien (also 1996) überall sehen konnte. Die internationale Friedenstruppe (zunächst IFOR, später SFOR) oder die lokalen Repräsentanten der Vereinten Nationen — irgendwer hatte Abertausende dieser Plakate drucken und ankleben lassen.
Diese Zurückhaltung, so fürchte ich, kommt uns heuer abhanden. In unserer Gesellschaft ist keine Demut übrig. Auch wir werden Kasper wählen wie die Amerikaner, nur werden unsere Gespenster ein bißchen deutscher sein.
Diese unsere deutscheren Gespenster werden vielleicht feuchte Führer-Träume gehabt haben oder Kommunistinnen gewesen sein. Oder sie werden so woke sein, dass sie leuchten. Oder sie werden eben das Gegenteil von woke sein — Hauptsache, sie leuchten.
Man könnte von einem Gefühl sprechen, sich nicht mehr repräsentiert zu fühlen oder so etwas. Wenn es nur das wäre, könnten wir einstweilen beruhigt ins Bett gehen und schlafen. Es ist vermutlich aber schlimmer: Die Leute haben verstanden, dass es nicht mehr besser wird.
Nur als Beispiel: Der Anteil derjenigen, die sagen, dass es in den vergangenen 5 Jahren besser geworden ist, geht in der Lausitz seit Jahren zurück – und zwar vor allem in der Gruppe der 40- bis 60-Jährigen. Das ist genau die Gruppe in der Leistungsphase des Lebens. Das sind die Menschen in der Mitte des Lebens, die Verantwortung übernehmen, Kinder großziehen, vielleicht ein Haus abzahlen, beim Arbeitgeber vielleicht eine führende Position einnehmen, ein Ehrenamt bekleiden und so weiter. Wenn seit Jahren immer weniger der Menschen in dieser Gruppe sagen, dass es besser geworden ist, dann steht zu befürchten, dass in diesem Land etwas kaputtgegangen ist. (Quelle: Lausitz-Monitor)
Juhu, werden manche rufen, endlich! Haben wir endlich kapiert, dass es nicht mehr besser wird!?! Fahren wir nun unsere Ansprüche herunter!?! Fliegen wir etwa nicht mehr in den Urlaub, sondern gehen stattdessen im nächsten Park spazieren!?!
Was die Leute jahrzehnte‑, wenn nicht jahrhundertelang motiviert hat, war das Versprechen, dass es der nächsten Generation besser geht als einem selbst. Auch wenn es nicht immer aufgegangen ist: es war ein starker Motivator. Genau dieses Versprechen hat sich jedoch in den letzten Jahren, so fürchte ich, in Wohlgefallen aufgelöst. Und: Diese Auflösung wird von vielen Menschen direkt mit der so genannten Ampel-Regierung verbunden.
Das Versprechen, dass es die nächste Generation einmal besser haben wird, gilt vielleicht noch für die reichen und die begabten und möglicherweise auch für die sehr fleißigen Menschen. Auch wenn der Idealismus in diesem Text bisher nicht gut weggekommen ist, eines bleibt richtig: wenn wir von etwas überzeugt sind, tun wir auch etwas. Was passiert aber, wenn wir nicht mehr überzeugt sind?
Das ist natürlich eine steile These, dass wir dabei sind, den Glauben an die Zukunft zu verlieren. Ich kenne eine ganze Reihe von Leuten, die mir scharf widersprechen würden. Letztlich liegt die Entscheidung, ob etwas dran ist, und falls ja, was dran ist, in der Erfahrung und der Betrachtung der Leserin oder des Lesers.
Wenn man jetzt aber einmal zusammennimmt, was in diesem Text bisher beschrieben wurde, dann erscheint womöglich plausibel, dass eine Kombination der folgenden Faktoren Folgen haben kann.
Dir Faktoren können sein:
- Kontrollverlust – egal, was ich mache: es hilft nicht
- Verlust des Rückhalts in der Gesellschaft
- Verlust des Glaubens an die Zukunft
- Wahrnehmung ausgeprägter Inkompetenz in leitenden Positionen
Natürlich werden diese Faktoren nicht alle bei jedem Menschen auftreten. Eine Einsatzkraft kann zum Beispiel von einer Empfindung des Verlustes an Reputation und Rückhalt in der Gesellschaft betroffen sein. Unternehmer können vielleicht eher von einem Gefühl, unter Druck zu stehen, oder von einem Gefühl der Hilflosigkeit und des damit einhergehenden Kontrollverlustes betroffen sein. Unter den besagten 40- bis 60-Jährigen wächst vielleicht der Anteil derjenigen, die irgendwie nicht mehr so richtig an ein gutes Ende glauben können. Wiederum ein anderer Teil ist massiv enttäuscht von denjenigen, die unser Land in stürmischen Zeiten führen wollten und es nicht hingekriegt haben.
Die Folgen können alle Formen des Rückzugs, der Distanzierung, der Abwendung usw. sein. Die Abwendung vom Politischen, eine gewisse „innere Emigration“ oder auch eine gewisse „moralische Erschöpfung“ sind vielleicht die milderen Formen. Eine wachsende Verweigerung bis hin zur Reaktanz („Ich mache das Gegenteil dessen, wovon Ihr mich überzeugen wollt!“) und in der Folge vielleicht auch eine wachsende Akzeptanz alternativer Ordnungsvorstellungen sind vielleicht unerwünschte, aber wahrscheinliche Folgen. Die jüngsten Wahlergebnisse legen diesen Schluss mindestens nahe.
Zum Abschluss, quasi zur Illustration des bisher Gesagten, ein fiktiver Monolog. Dieser Monolog könnte von einem Unternehmer stammen, den es „irgendwie erwischt“ hat.
„Mein Unternehmen war lange Zeit ziemlich erfolgreich. Natürlich habe ich Steuern gezahlt, schließlich funktioniert das Land, weil es solidarisch zugeht. Ich habe meistens CDU und manchmal SPD gewählt und mich ehrenamtlich engagiert. Ich war zum Beispiel lange in der Feuerwehr. Ich habe auch Ausländern geholfen. Man braucht Stunden und Tage für einen Termin in der Ausländerbehörde. Einmal habe ich damit gedroht, den Landrat anzurufen. Dann hat es geklappt. Man braucht viel Kraft, um ein paar Leuten den Weg zu ebnen, weil die Anerkennung als Fachkraft viel zu lange dauert. Dann plötzlich Inflation, Preissteigerungen und unvorhergesehene Dinge wie ein Krieg in Europa. Waren wir nicht der Meinung, dass sowas in Europa nicht mehr passieren kann? Plötzlich änderte sich der Wind auch für mich. In meinem Unternehmen stimmte die Auftragslage nicht mehr. Aber das Finanzamt hat das nicht interessiert. Das deutsche Steuersystem sieht nicht vor, dass die Jahre wieder schlechter werden können. Und wenn die Jahre schlechter werden, zahlst Du trotzdem erstmal, abgerechnet wird später. Die Leute, für die Du Verantwortung übernommen hast, interessiert das schon – Arbeitnehmer, Familienangehörige. Den Herrn Sch. in Berlin interessiert das natürlich auch nicht; weder kennt er mich, noch würde man einen Unterschied zwischen meinem Fall und Tausenden von anderen kleinen Unternehmen erkennen. Was den Herrn Sch. selbst betrifft – das habe ich angesichts meiner Lage dann doch einmal nachgelesen – scheint er zumindest ein gewissermaßen flexibles Verhältnis zur Wahrheit zu haben, oder er kann sich schlecht erinnern. Aber das hatten wir in der deutschen Geschichte schon: Leute, die sich schlecht erinnern konnten. Von anderen erwarten, sich an die Regeln zu halten, sich selbst aber schlecht erinnern können, nun ja. Ich habe mich jedenfalls gefragt, wie es weitergehen soll. Ich hatte seinerzeit viel über den ökologischen Fußabdruck meiner Firma nachgedacht, und ich hatte auch ein paar diesbezügliche Entscheidungen getroffen, die sich im Nachhinein als kostspielig erwiesen haben. Aber sei es drum, es waren ja meine Entscheidungen. Wenn man aber trotz massiver Probleme in der Wirtschaft einfach weitermacht, immer mit dem belehrenden Zeigefinger, nur notwendige Transformationen durchzuführen, und wenn man dabei zusieht, wie ein Großteil all dieser Transformationsmaßnahmen nicht funktioniert – wenn man bspw. den Rückgang der Auftragslage in der Industrie zur Kenntnis hätte nehmen und also hätte abschätzen können, dass das mit den Steuereinnahmen nicht mehr so weitergehen würde, man aber trotzdem noch nichts an den Ausgeben geändert hat, sondern weiter auf jeden gesellschaftlichen Mikroanspruch genug Geld gekippt hat, um ihn einstweilen ruhig zu stellen, nun, dann habe ich irgendwann gedacht: Der Herr Sch. in Berlin versteckt sich vor der Realität, und er tut es so effektiv, dass jeder Druck an ihm vorbeizugehen scheint. Ich selbst stand aber unter ganz realem Druck. Die Firma lief nicht mehr gut, der Fiskus kam trotzdem. Und in Berlin war derweil Diversitätsjahrmarkt. Da bin ich irgendwann innerlich ausgestiegen. Die Frage ist jetzt nur, ob ich nur moralisch erschöpft bin, weil ich unter Druck stand und an der Spitze des Landes ein in meinen Augen verantwortungsloses Handeln sah, während qua Gesetz von mir aber gutes Verhalten verlangt wurde, oder ob man nicht vielleicht auch ein bißchen von Pflichtverwahrlosung sprechen kann. Wenn das nicht gänzlich abwegig ist, ergibt es einen perfekten Teufelskreis: Ich fühle mich moralisch erschöpft und nehme eine zunehmend pflichtverwahrloste Steuerung wahr – was mit der Zeit womöglich zu noch mehr Pflichtverweigerung auf allen Seiten führen wird. Im Grunde ist dies eine perfekte Ausgangslage für die Rückkehr der Korruption.“
PS: Das Beitragsbild hat eine künstliche Intelligenz „gemalt“.