Was in Magdeburg passiert ist, ist mehr als schrecklich. Die Tat ist entsetzlich, abscheulich, mit Worten nicht zu beschreiben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es den Menschen geht, die dieser Terrorist verletzt hat, oder wie es denen geht, deren Angehörige er getötet hat.
In den Zeitungen ist viel über den Täter zu lesen, wer er war, wie sein Weg in Deutschland war, was er tat und so weiter. Dabei wird ein Teil seines Namens verwendet. Man sollte sich, finde ich, überlegen, ob man den Namen überhaupt verwendet.
Nach dem entsetzlichen Anschlag in Christchurch (Neuseeland) am 15. März 2019 entschied sich die damalige Premierministerin Neuseelands, Jacinda Ardern, bewusst, den Namen des Täters nicht auszusprechen. Sie sagte: „Er wollte viele Dinge mit seinem Akt des Terrors erreichen. Eines davon war, berühmt zu werden.“
Ardern forderte die Menschen auf, sich auf die Opfer zu konzentrieren: „Ich bitte Sie, sprechen Sie die Namen derer aus, die wir verloren haben, statt den Namen des Mannes, der sie genommen hat.“
Dieser Ansatz sollte dem Täter die Aufmerksamkeit verweigern, die er suchte, und die Würde der Opfer bewahren. Indem wir die Namen der Opfer ehren und den des Täters nicht verwenden, setzen wir ein Zeichen gegen die Dunkelheit und für die Menschlichkeit.
Oft bleibt man angesichts solcher Taten mit dem Eindruck des Unbegreiflichen zurück. Dabei sind es in vielen Fällen die entsetzliche Tat selbst und ihre Folgen, die unbegreiflich sind; die Täter jedoch und ihre Wege zur Täterschaft sind oft gar nicht so unbegreiflich. Eher ist es so, dass sich die Entsetzlichkeit der Tat auf den Täter überträgt und ihm eine Aura des Schreckens verleiht. So erklärt es sich, warum diejenigen, die darüber schreiben, sich vor allem mit der Täterseite und der Frage, wie es dazu kommen konnte, beschäftigen.
Dieser Text will nicht die Entsetzlichkeit der Tat, sondern vielmehr die „Oberflächlichkeit“ der Geschichte des Täters erklären — was es für die Opfer und ihre Angehörigen umso schwerer macht. Es geht darum, dem Täter, nicht der Tat selbst und ihren Folgen, die Unbegreiflichkeit zu nehmen.
Wenn es stimmt, was zu lesen ist, dann handelte es sich eben nicht um einen Islamisten, sondern um das Gegenteil eines Islamisten. Die Tat selbst aber hat von ihrem Muster her islamistisch motivierte Vorbilder. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Täter auf seinem Weg in Deutschland Probleme hatte, auf die er in mehreren Fällen mit der Drohung reagiert hat, schwere Straftaten nach eben jenem islamistischen Muster zu begehen. Schließlich stritt er sich mit vermeintlich Gleichgesinnten vor Gericht und verlor — was seine Radikalisierung offenbar noch weiter anheizte.
Wie lässt sich das erklären?
Der Täter bezeichnete sich selbst als den „größten“ oder „radikalsten“ Islamgegner. Er stritt sich aber wahlweise mit den deutschen Behörden, denen er Rassismus vorwarf, ODER mit Organisationen, die, zumindest grundsätzlich, ähnlicher Meinung gewesen zu sein scheinen wie er selbst. Gleichzeitig war er als Arzt, der tatsächlich in Deutschland berufstätig war, sicher in einer, verglichen mit anderen Migranten, nicht gerade „ärmlichen“ Situation.
Vielleicht haben ihn deutsche Universitäten, an denen er tätig war, oder Behörden, bei denen er etwas beantragt hatte, nicht so behandelt, wie er es erwartet hat. Vielleicht hat er sich gekränkt gefühlt. Jedenfalls hat er hier und da gedroht, und zwar nicht nur ein bißchen, sondern immerhin so, dass es mindestens einmal eine Gefährderansprache durch die Polizei gab. Das muss man erst einmal schaffen. Deutsche Polizisten kommen nicht einfach so vorbei, um eine Gefährderansprache zu halten.
Sich gekränkt oder ungerecht behandelt zu fühlen, führt vielleicht zur Bevorzugung anderer Parteien oder insgesamt radikalerer Positionen; vielleicht schimpft man auch andauernd und geht seinem Umfeld damit auf den Geist. Oder vielleicht wendet man sich auch ganz ab. Aber man bringt deshalb noch lange niemanden um.
Woher kennen wir das — sich gekränkt fühlen, um dann zu drohen? Das kann in jedem Leben vorkommen — aber eigentlich irgendwie erfolgreich sein und sich dennoch gekränkt fühlen, sich entfremden und dann in existentielle Drohungen verfallen, das ist dann doch extremer als der „Normalfall“ — und in vielen Fällen narzisstisch.
Nun muss man beim Narzissmus aufpassen, das Label wird heuer viel zu oft und zu spontan benutzt. In diesem Fall aber scheint es tatsächlich angemessen — und zwar in der Verbindung zwischen einem Gefühl, sich benachteiligt, gekränkt oder gar verfolgt zu fühlen — letzteres kann auf eine psychische Erkrankung hinweisen —, UND der Motivation, sich aktiv rächen zu wollen.
Beim Narzissmus kennen wir vor allem jene sehr präsente Form des Egos — man möchte Großes vollbringen, im Vordergrund stehen, gesehen werden usw., was letztlich zu einem unangenehmen Selbst-Kult führt, der, einhergehend mit wenig Empathie und einer gewissen Distanz oder Gefühlskälte, eben zu den Dynamiken aus starkem Invest in die Zuwendung und schneller Abkehr oder Überhöhung des Gegenübers und Fallenlassen führt.
Das aber ist es nicht.
Es gibt noch eine andere, gewissermaßen „von vornherein unterlegene“ Form des Narzissmus. Man hat zwar (unbewusst) Phantasien eigener Größe, aber man fühlt sich gewissermaßen von vornherein unterlegen, man startet vielleicht irgendwelche Initiativen, ahnt aber (unbewusst) schon, dass nichts daraus wird; irgendwann verdichtet sich diese Dynamik, man fühlt sich unverstanden, äußert das aber eher in Beschwerden oder Drohungen, belässt es aber dann dabei — bis man den „Befreiungsschlag“ mit quasi paradoxen Mitteln plant.
Nach dem Muster: „Wenn Ihr mich und meine große Befähigung nicht versteht, denn zeige ich Euch, wie schrecklich es ist, mich verkannt zu haben.“
Während die zuerst geschilderte (und viel häufigere) Form des Narzissmus „kämpft“, anerkannt werden will, mitunter prophylaktisch eskaliert, unangemessene Reaktionen produziert, stundenlang von sich redet, am Ende aber die Situation verlässt, um woanders eine neue Großartigkeit/Führungsrolle aufzubauen, bleibt die zweite (viel seltenere) Form des Narzissmus gleichsam liegen, träumt weiter von eigener Größe, fühlt sich verkannt, gekränkt, entwickelt Rachegedanken. Die Rache des „ersten Typen“ liegt im Entzug, in der Distanzierung, in der Kälte und im Verlassen; die Rache des „zweiten Typen“ liegt im Extremfall in der Vernichtung — zumeist völlig Unschuldiger.
Während sich der erste Typ kämpferisch gibt, entspricht der zweite Typ eher dem, was man einen „Jammerlappen“ nennt, aber leider eben einem „größenwahnsinnigen“ Jammerlappen.
Erinnern Sie sich an jenen Piloten, der eine Touristenmaschine in eine Wand in den Alpen steuerte und etwa 100 Menschen mit in den Tod nahm? Das war auch so einer.
Der Mann, der seinen BMW auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg lenkte, war ein Kritiker des Islam, aber er wollte als DER Kritiker gesehen werden, weil er ja SEIN Leben DIESER Sache gewidmet hatte. Vielleicht konnte er es nicht ertragen, dass auch andere ihr Leben dieser Sache gewidmet hatten. Oder dass anderen die Sache nicht SO relevant erschien, als dass man irgendeine HAUPTSACHE daraus hätte machen müssen.
Von irgendetwas musste der Mann leben, und er hatte als Arzt sicher nicht die schlechtesten Voraussetzungen — aber wenn was nicht so geklappt hat, wie er sich das vorgestellt hat, wurde gedroht — und zwar mit Taten, die genau dem Muster der Taten islamistischer Terroristen entsprochen hätten… und dann entsetzlicherweise auch entsprachen.
Er war also kein Islamist, das Gegenteil sogar, beging dann aber aufgrund des womöglich unerträglichen Gegensatzes zwischen seinen Phantasien eigener Bedeutung (er hatte sein Leben ja quasi dem Antiislamismus geopfert, wollte sogar der größte, konsequenteste usw. Anti-Islamist sein und als solcher womöglich auch GESEHEN werden) und der Realität (er war „nur“ ein Arzt in einem deutschen Knast und erfuhr eben nicht die gewünschte „Einzigartigkeitswertschätzung“ von anderen, die vermeintlich seines Geistes waren) jenes nicht zu beschreibende Verbrechen — und endete damit genau dort, wo jene, die er eigentlich ablehnte, landen, wenn sie sich allzu sehr radikalisieren. Der Anti-Muslim wurde zum Täter nach dem Muster jener „Über-Muslime“, welche Terrorakte wie das Massaker in der Charlie-Hebdo-Redaktion oder dem Club Bataclan begangen haben. (Zum Begriff des „Über-Muslims“ lesen Sie bitte das ebenso kurze wie präzise Buch des Psychoanalytikers Fehti Benslama.)
Hinzu kam wahrscheinlich auch eine psychische Erkrankung. Paranoide Tendenzen verstärken sich bekanntlich, wenn man Drogen nimmt. Und das ausgerechnet bei einem auf Psychotherapie spezialisierten Facharzt, der mit süchtigen Strafgefangenen gearbeitet hat.
Viel zynischer geht es nicht.
Was die Frage nach den Opfern umso lauter schallen lässt.
Es gibt, wie so oft im Falle blanken Terrorismus’, keinen Zusammenhang zwischen den Opfern und dem Täter. Alles erscheint nur umso sinnloser, leidvoller.
Ich höre schon die Belehrungen: Das Ganze sei nur möglich geworden, weil eine bestimmte Partei jahrelang Hass geschürt habe. Was die Sache nur umso zynischer macht — und erklärt, warum manche Menschen auf den Besuch des Bundeskanzlers und einiger Kabinettsmitglieder fassungslos reagiert und gerufen haben: „Und die trauen sich auch noch hierher!“
Vielleicht ist es andersherum: Vielleicht war die Politik jahrelang unrealistisch, wenn sie jeden Zweifel an der Realisierbarkeit des „Wir schaffen das!“ mit Hinweisen auf Radikalismus abgetan hat.
Der Täter kam zehn Jahre vor dem „Wir schaffen das!“ nach Deutschland, was die soeben formulierten Zweifel auf den ersten Blick relativiert. Er hatte es scheinbar geschafft — und eben doch nicht. Er war ein Einzeltäter — ja, klar war er ein Einzeltäter. Wir sind eben vor allem durch Einzeltäter verwundbar.
Aber wenn wir nicht aufhören, die Sache so polarisiert zu diskutieren, wie wir sie diskutieren, und nicht endlich ein paar ernsten Problemen ins Auge schauen und ein paar ebenso konsequente wie pragmatische Maßnahmen treffen, wird es noch schlimmer.
PS: Das Titelbild ist eine Illustration. Es zeigt einen Polizisten, der nach einer solchen Tat im Einsatz ist. Auch wenn Einsatzkräfte vieles sehen — auf so etwas wie in Magdeburg sind sie nicht vorbereitet. Und wir sollen auch nicht in die Lage kommen, dass Einsatzkräfte auf so etwas routiniert reagieren. Es wird höchste Zeit, etwas zu ändern. Das Bild wurde mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz erstellt.