Wenn Psychologen oder andere Sozialwissenschaftler menschliche Handlungen beobachten und analysieren, dann tun sie das in der Regel, weil sie wissen wollen, wie sich etwa bestimmte Bedingungen oder Anreizkonstellationen auf diese Handlungen auswirken oder wie Menschen ihre Handlungen über die Zeit hinweg an sich ggf. verändernde Bedingungen anpassen. Ist Letzteres der Fall, das Erkenntnisinteresse also auf die Veränderung von Handlungsmustern im Zeitverlauf gerichtet, dann werden im Ergebnis oft Phasenmodelle gebildet. Die Untersuchung des Verlaufs von Trauer ist ein Beispiel dafür: Schock, Leugnung, aufbrechende Gefühle, Auseinandersetzung mit dem Tod, Akzeptanz und neue Anfänge. Anders als bei den exakteren Messungen im Rahmen von standardisierten Befragungen oder unter Experimentalbedingungen lassen sich aus Verlaufsbeobachtungen oft nur prototypische Phasen herausarbeiten, was beispielsweise bedeutet, dass sich nicht in jedem Fall alle Phasen beobachten lassen oder sich einzelne Personen hinsichtlich der Dauer oder der Reihenfolge einzelner Phasen unterscheiden können.
Man muss kein Sozialwissenschaftler — oder in meinem Fall: Kommunikationspsychologe — sein, um auf die Idee zu kommen, dass die Corona-Krise reichhaltigen Stoff für solche Verlaufsmodelle liefert. Zu deutlich stechen die einzelnen Phasen ins Auge — die Verdrängung am Anfang, die langsame Realisierung, die große Unsicherheit zu Beginn des Lockdowns und die langsame Veränderung der Stimmung um Ostern herum. Ein kluger Kollege hat Mitte März — der Lockdown war erst wenige Tage alt — während eines Telefonats geschätzt, dass die Stimmung zu Ostern kippen würde und danach die Befürworter von Lockerungen die Oberhand gewinnen würden. Wie richtig er mit seiner Schätzung doch lag! Corona hat uns par excellence gezeigt, was Krisenkommunikation bewirken kann und wozu sie nicht taugt bzw. wann sie ihre Wirkung verliert.
Krisenkommunikation muss hochfrequent und einigermaßen faktenbasiert sein, um zu wirken. Hinzu kommt, dass diejenigen, die Krisenkommunikation betreiben wollen, einigermaßen ruhig wirken und vergleichsweise kurze, konkrete Schlussfolgerungen ziehen sollten.
Erinnern Sie sich? So war das kurz vor und im Lockdown: Es wurden ständig neue Fakten präsentiert, es gab täglich Podcasts mit Experten, man übte sich darin, Ruhe und Sicherheit auszustrahlen und Handlungsanweisungen gut zu begründen. So dürftig die Faktenlage zu Beginn gewesen sein mag — die ersten größeren Datenauswertungen, etwa zu den Eigenschaften und Vorerkrankungen von etwa 2000 an oder mit Corona Gestorbenen in Italien oder die ersten umfassenderen Einlassungen von Pathologen, die Corona-Tote obduziert hatten, brachten langsam Licht ins Dunkel: Nein, es handelt sich nicht um ein grippe-ähnliches Phänomen, aber es ist auch keineswegs so etwas wie die Pest.
Mit der Gewöhnung an die neuen Umstände und dem wachsenden Wissen kam die Veränderung der Stimmung — und die Krisenkommunikation begann nicht nur, ihre Wirkung zu verlieren, sondern die Merkmale der Krisenkommunikation — insbesondere ihr hochfrequenter und faktenbasierter Modus — begannen, die Unsicherheit nicht mehr zu reduzieren, sondern wieder zu verstärken — zu unterschiedlich waren die einzelnen konkurrierenden Interpretationen. Was kurzfristig und bei hoher Unsicherheit hilft, bewirkt auf Dauer und bei geringerer Unsicherheit — und schlichte Gewöhnung bewirkt auch einen Rückgang der Unsicherheit — das Gegenteil.
In diesem Text geht es um zwei Fragen, eine eher vordergründige und eine eher hintergründige.
- Die vordergründige Frage bezieht sich auf die bereits erwähnten Phasen der Corona-Krise aus psychologischer Sicht: Wie hat sich die Stimmung über die Zeit entwickelt, was bedeutete das in Bezug auf die Akzeptanz von Maßnahmen und was lässt sich aus der Analyse im Hinblick auf eine — durchaus mögliche — zweite Welle ableiten?
- Die hintergründige Frage ist weniger konkret, dafür grundlegender: Für die meisten der heute in Europa lebenden Menschen dürfte die Corona-Situation etwas Einzigartiges, noch nie da Gewesenes darstellen. Insofern fehlt uns eine Vergleichsgrundlage. Ob es sich aber wirklich um die größte Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg handelt? Zumindest haben wir — ganz absichtlich — die am tiefsten greifende Unterbrechung des gewohnten Gangs der wirtschaftlichen und sozialen Dinge seit dem zweiten Weltkrieg organisiert. Ich möchte die Frage stellen, was unser Umgang mit Corona möglicherweise über unsere Kultur aussagt — mit aller gebührenden Vorsicht, denn es gibt wie gesagt kaum geeignete Grundlagen für einen Vergleich.
Wie hat sich während der Corona-Krise die Stimmung über die Zeit entwickelt und was lässt sich daraus im Hinblick auf eine — durchaus mögliche — zweite Welle ableiten?
- Verdrängung: Nach dem Motto: „Was kratzt es mich, wenn in China ein Sack Reis umfällt?“ wurde das, was später „Corona-Krise“ genannt werden sollte, zunächst recht konsequent ignoriert oder war in den ersten Wochen vor allem für fachlich Interessierte von Belang. Dass es dabei nicht bleiben sollte, hat diese von den meisten Menschen anfangs eingenommene Grundhaltung der Verdrängung zu Beginn kaum beeinflusst. Die vielleicht schrägste und gleichzeitig irgendwie treffendste Versinnbildlichung dieser Haltung hat der US-amerikanische Präsident formuliert, indem er das Corona-Virus als „chinese virus“ bezeichnet hat, quasi als ob Viren eine Muttersprache oder ein Vaterland hätten.
- Realisierung und Unsicherheit: Als es nicht mehr nur einzelne Fälle (wie jener erste im Januar am Standort eines bekannten Automobilzulieferers in Bayern) waren, sondern klar wurde, dass wir nicht drum herum kämen, mischte sich die zunächst überwiegende Verdrängung mit Realisierung. „Es erreicht uns, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es mich erwischt, ist extrem gering.“ Und so blieb es ja auch. Die statistische Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung war in Deutschland insgesamt nie besonders hoch. Anders als die Italiener hatten wir Zeit, uns vorzubereiten und Maßnahmen zu überlegen. Und bevor es „richtig schlimm“ wurde, bekamen wir die Sache in den Griff. Die Phase der ersten Realisierung war für viele Menschen von großer Unsicherheit gekennzeichnet. So kannte beispielsweise kaum einer den Begriff der „Triage“. Als jedoch bekannt wurde, dass in einigen italienischen Krankenhäusern „triagiert“ wurde, änderte sich das — verbunden mit einem gewissen Entsetzen. Dass Ärzte entscheiden müssen, wem sie helfen und wem nicht, war sehr lange nicht mehr vorgekommen. Die allgemeine Unsicherheit änderte für eine Weile die Gepflogenheiten im Land. Die Kommunikation wechselte in den Krisenmodus — sie wurde hochfrequent, so gut es geht faktenbasiert (so weit das die Informationslage eben zuließ) und so weit wie möglich Gelassenheit und Sicherheit vermittelnd. Ein Freund sagte damals: „Deutschland ist vermutlich das beste Land auf der Welt, um Corona zu kriegen.“ In jedem Fall sorgte die Unsicherheit für eine Legitimation der Maßnahmen bei einem zunächst übergroßen Teil der Bevölkerung.
- Gewöhnung: Erinnern wir uns — Mitte März, also zu Beginn des Lockdowns, war nicht klar, worum es sich wirklich handelt, wie sich das Virus tatsächlich auswirken würde. Zu widersprüchlich waren die Erkenntnisse noch und zu hoch die Zahlen der Gestorbenen, die man zunächst aus Italien und dann aus Spanien meldete. Spätestens als man in Italien begann, Särge mit Militärlastwagen zu transportieren und die ersten Vergleiche mit den durchschnittlichen Sterberaten im Vorjahreszeitraum bekannt wurden, war der Schrecken groß — und es setzte etwas ein, was auch bei größerer Gefahr oder noch viel größerem Schrecken irgendwann einsetzen würde, nämlich Gewöhnung. Ich habe in den ersten Tagen des Lockdowns Albert Camus’ „Die Pest“ gelesen und fand das eine gute Lektüre, um zu verstehen, was vor sich geht, in welchen Phasen eine Pandemie verlaufen kann, wie die Menschen reagieren würden usw. Aber so weit kam es ja nicht. Der Lockdown bewirkte relativ schnell eine Veränderung der Lage — spätestens im Osten Deutschlands, wo das Virus rein statistisch noch gar nicht richtig „angekommen“ war.
- Differenzierung: Hatte der weitaus überwiegende Teil der Bevölkerung zunächst mit Unsicherheit reagiert und die durchaus drastischen Maßnahmen akzeptiert, folgte mit der Zeit eine Differenzierung der Reaktionen. Während die einen weiter vorsichtig blieben und die Maßnahmen weiter rechtfertigten und einhielten, war bei anderen eine gewissermaßen „stoische“, zum Teil tendentiell „fatalistische“ Haltung zu hören – von: „Wer weiß, vielleicht hatte ich es ja schon!“ über: „Wenn ich es kontrolliert kriegen könnte, würde ich mich anstecken.“ bis hin zu: „Wenn es mich erwischt, erwischt es mich eben; wir können ja nicht aufhören zu leben!“ Besonders interessant sind jedoch zwei weitere Reaktionsmuster: Ich habe ab Anfang April eine wachsende Zahl Menschen beobachtet, die die ganze Situation einfach ignorierten — oder an den Maßnahmen nur soweit teilnahmen, wie es unumgänglich war. Und dann gab es noch jene, die — nicht ganz am Anfang, da waren diese Stimmen ganz leise — um Ostern herum begannen, ganz andere Muster in den Ereignissen erkennen zu wollen. Die gewissermaßen „schönste“ dieser alternativen Theorien, von der ich seinerzeit gelesen habe, war, dass man den Lockdown als eine Art Verdunkelung der Umvolkungsbemühungen der Bundesregierung nutzen würde. Jeden Abend führen Busse mit dunkelhäutigen Männern vom Dresdener Flughafen aus in Richtung Stadtzentrum. Als ich einem Bekannten, der das in einem sozialen Netzwerk teilte, eine einigermaßen bestürzte Nachricht schrieb, erhielt ich eine interessante Reaktion. Er wisse es auch nicht, er selbst habe es nicht gesehen und er würde sich auch kein Urteil erlauben, aber was wäre, wenn es stimmte? Nach dem Motto: „Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, aber was wäre, wenn die Aluhutfraktion recht hat?“
- Neubewertung: Die soeben angedeutete Differenzierung der Reaktionen ergibt sich einerseits aus der Gewöhnung und andererseits aus einer Art „Wahrscheinlichkeitsbeurteilung“ („Trifft es mich oder nicht?“ bzw. „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es mich trifft?“). Je länger der Lockdown währte, traten auch immer mehr ganz rationale Einschätzungen der Folgen („Wie hoch sind die ‚Kosten‘?“) hinzu. Einerseits zeigten die Maßnahmen ihre Wirkung: die Infektionszahlen gingen zurück. Andererseits wurde deutlich, mit welchen Kosten die Wirkung erkauft wurde (und auch hier zeigte sich, dass Deutschland einer der denkbar besten Orte auf der Welt ist, um von so etwas wie Corona betroffen zu sein). Die Abwägung von Wirkung und Kosten führte zu einer Art Neubewertung, die Wolfgang Schäuble wahrscheinlich am treffendsten auf dem Punkt gebracht hat: Die Würde des Menschen ist ein höheres Gut als der Schutz jeden Lebens.
- Anpassung: Die Neubewertung führte letztendlich zu der Diskussion über Lockerungen und später zu der bis dato letzten, nach wie vor andauernden Phase der Krise, die man als „Anpassung“ bezeichnen könnte: Manche Dinge (Abstandsregeln, Mundschutz, Beschränkungen bei Veranstaltungen o.ä.) sind mehr oder weniger zum Teil des Alltags geworden — mehr oder weniger begrüßt und eingehalten oder mehr oder weniger skeptisch betrachtet und ignoriert. Gleichzeitig hat das Virus für die meisten Menschen beinahe den Status eines Gerüchts, wie das ein amerikanischer Anthropologe einmal bezeichnet hat: Nur wenige von uns kennen Betroffene und die Wahrscheinlichkeit zu erkranken, ist sehr gering, aber die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sind allgegenwärtig.
Falls in den kommenden Monaten, wie sich hier und da andeutet, eine zweite Welle droht, und falls dieser Welle wiederum mit konsequenten Maßnahmen begegnet werden soll, steht zu erwarten, dass die Bevölkerung nicht mehr mit „kollektiver Unsicherheit“ und infolge dessen mit einer vergleichsweise hohen Akzeptanz in Bezug auf die Maßnahmen reagiert. Viel wahrscheinlicher sind hingegen die Reaktionsmuster der Differenzierungsphase — die sich über die Zeit dann jeweils verstärken und verhärten. Die Mittel der Krisenkommunikation (hochfrequent, faktenbasiert, angesichts der allgemeinen Unsicherheit größtmögliche Handlungssicherheit vermittelnd) wirken dann nicht mehr, im Gegenteil: Krisenkommunikation kann auf längere Sicht nicht funktionieren, weil eines ihrer konstituierenden Elemente — die hochfrequente Kommunikation, die Sicherheit in unsicheren Situationen vermitteln soll — sich selbst ad absurdum führt. Auf kurze Sicht verringert hochfrequente, möglichst faktenbasierte Kommunikation die allgemein herrschende Unsicherheit, auf längere Sicht jedoch verstärkt diese Art der Kommunikation die Unsicherheit. Entweder haben wir irgendwann genug Informationen, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen, oder die Situation ist eben nicht unter Kontrolle zu bekommen — zu lange angewandt sorgt Krisenkommunikation genau für diesen Eindruck: Was Sicherheit vermitteln sollte, wird zur etappenweise angewandten Durchhalteparole — und verliert genau dadurch die Wirkung.
Spätestens mit einer zweiten Welle bräuchten wir also andere Antworten als bisher. Wir können womöglich nicht noch einmal „Rettungspakete“ schnüren, denn wenn ein Zustand, aus dem man gerettet werden muss, wiederkehrt oder irgendwie von Dauer zu sein scheint, dann passt der Begriff der „Rettung“ kaum. Spätestens dann wäre Corona nichts Besonderes mehr, sondern Teil unseres Alltags.
Insofern gibt der sächsische Ministerpräsident bereits vor einer möglichen zweiten Welle die richtige „andere Antwort“, indem er meint, dass wir uns bereits mitten in der zweiten Welle befinden, dass an vielen Orten Infektionsherde entstehen, die das Potential haben, größere Dynamik zu entfalten, und dass die Gesundheitsämter daran arbeiten, das Infektionsgeschehen im Griff zu behalten. Wenn das stimmt, dann ist Corona bereits Teil unseres Alltags.
So wird Corona meines Erachtens auch handhabbar: Ohne große Weltkriegs- oder Wellen- oder Rettungsrhetorik von Fall zu Fall und Tag zu Tag im Alltag damit umzugehen. Es ist nach wie vor Vorsicht geboten, und wir sollten den Organisatoren der Maßnahmen in den Gesundheitsämtern für ihre Arbeit dankbar sein, denn letztlich sind die Gesundheitsämter und die von ihnen koordinierten Dienste und Aktivitäten der modus operandi, der uns vor russischen, brasilianischen oder amerikanischen Verhältnissen bewahrt.
Was lehrt uns Corona über unsere Kultur?
Zunächst einmal konfrontiert uns das Virus mit dem Tod. Daran wäre an und für sich nichts Besonderes, denn der Tod gehört (eigentlich) zum Leben. Auf dem schönen Görlitzer Nikolaifriedhof habe ich einmal auf einem Grabstein gelesen: „Was wäre mein Leben ohne meinen Tod?“
Etwas Besonderes würde dann aus der Konfrontation mit dem Tod, wenn sich unser Umgang mit der Wahrscheinlichkeit zu sterben ändert.
Als Gesellschaft „leisten“ wir uns, einige von uns vor dem Tod zu bewahren, indem wir zuhause bleiben, Abstand halten, Mundschutz tragen usw. Aber warum „leisten“ wir uns das? Wir könnten ja auch hinnehmen, dass es so ist, Verhaltensmaßregeln formulieren, an die Vernunft appellieren und — fertig (Schweden). Oder wir könnten es ignorieren oder bagatellisieren (Teile Amerikas).
Ein leiser Verdacht: Wir erwarten, nicht an einem Virus zu sterben. Nach dem Motto: Wenn wir schon sterben müssen, dann doch nicht an sowas! Also verhindern wir.
Wenn das stimmt, dann hat sich in unserer Kultur (= also in dem, was uns selbstverständlich ist, was nicht erklärt werden muss, was „gefühlt“ immer gilt) möglicherweise etwas verschoben.
Aus einem mehr oder weniger alltäglichen Zusammenhang — „Es gibt Viren, und an einer Infektion mit manchen Viren kann man sterben und zwar insbesondere dann, wenn man schon krank ist.“ —, der zwar tragische, aber eben mitunter unvermeidbare Folgen haben kann — nicht: muss! Corona tötet ja nicht alle Angehörigen einer Risikogruppe, wohl aber mehr als in anderen Gruppen — ist ein nicht mehr alltäglicher, sondern besonderer Zusammenhang geworden, dessen mögliche Folgen möglichst vermieden werden sollten oder gar müssen.
Es wird ausdrücklich darum gebeten, diese Ausführungen nicht als Argument gegen alle Maßnahmen zu lesen. Es ist sicher klug, beispielsweise den Zugang zu Seniorenheimen so einzuschränken, dass man eine gewisse Kontrolle behält. Es geht hier vielmehr um eine Frage, die philosophischer oder ethischer Natur ist.
Dürfen wir tatsächlich so etwas erwarten? Und ist es angemessen, einer solchen Erwartung stattzugeben und tatsächlich derart drastische Maßnahmen zu ergreifen? Immerhin haben wir weite Teile der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens angehalten.
Unser Umgang mit Corona zeigt, dass wir in einer Kultur leben, in der jede und jeder erwarten darf, von der Gemeinschaft so lange vor dem Tod bewahrt (oder „gerettet“) zu werden, wie es nur geht.
Corona zeigt meines Erachtens zudem, wie weit wir den Tod bereits aus unserem Leben verbannt haben. Er findet im Alltag kaum mehr statt, sondern wird in die vom Alltag abgelegene Welt der Kliniken „verlegt“.
Was in anderen Zeiten vielleicht mehr oder minder hingenommen worden wäre — es hätten sicher erst einige Tausend oder Zehntausend Menschen sterben müssen, bevor man auf die Idee gekommen wäre zu handeln, und man wäre womöglich erst viel später und bei ganz anderen Bedrohungslagen auf die Idee gekommen, ganze Länder „anzuhalten“ — darf heute nicht mehr sein. Wir handeln quasi prophylaktisch aufgrund grundlegend veränderter Prioritäten. Wir tun dies unter anderem, weil wir es können. Niemand soll sterben, auch wenn sie oder er ggf. gar nicht „nur“ an Corona stirbt.
Es gab philosophische Strömungen, deren Protagonisten behaupteten, dass es egal sei, ob man dreißig oder fünfzig oder siebzig Jahre zu leben habe. Diese Philosophen haben in anderen Zeiten mit ganz anderen durchschnittlichen Lebenserwartungen gelebt. Heute würde es statt „dreißig, fünfzig, siebzig“ wahrscheinlich heißen, dass es egal sei, ob man fünfzig, siebzig oder neunzig Jahre zu leben habe.
Ist es tatsächlich egal? Ja, es ist egal. Dem einzelnen Menschen mag es nicht egal sein, aber solche Dinge wie Corona können uns passieren. Sie gehören zum Leben und zum Menschsein dazu. Auch an einem denkbar „sinnlosen“ Virus zu sterben, kann passieren. Wir können einiges tun, um die Wahrscheinlichkeit in den Griff zu kriegen. Aber ausschließen können wir es nicht — genauso wenig wie multiresistente Krankenhauskeime, Verkehrsunfälle und andere ziemlich alltägliche Bedrohungen.
Fast schon scheint es, als „bräuchten“ wir die Krisenkommunikation, die „Maßnahmen“ und alles andere, was sonst noch um Corona herum veranstaltet wird, damit wir nicht daran denken müssen, woran uns Corona erinnert.
Wir lenken uns von der Konfrontation mit dem Tod ab, verbannen ihn aus dem Alltag und unternehmen riesige Anstrengungen, um den Tod „noch ein bißchen länger“ draußen zu halten — und ja, die durchschnittliche Lebenserwartung hierzulande (81 Jahre) und das Durchschnittsalter der an und mit Corona gestorbenen Deutschen (Angabe vom 07. April: 80 Jahre; Angabe vom 05. Juni: 82 Jahre) liegen sehr nahe beieinander!
Durch die Veränderung unseres Verhältnisses zum Tod ändert sich auch unsere Haltung zum Leben. Aus einer eher demütigen Haltung, die akzeptiert, dass der Tod Teil des Lebens ist und also passieren kann, ist eine Anspruchshaltung geworden, so lange wie möglich frei von der Konfrontation mit dem Tod zu bleiben.
Dabei ist es — zumindest nach stoischer oder auch existentialistischer Lesart — gerade die Konfrontation mit dem Tod und seiner allzu großen Nähe, die hilft, Antworten auf die wirklich wichtigen Fragen des Lebens zu finden.