Seit der Veröffentlichung unseres Buches „Die Kultur der Hinterfragung“ werde ich des öfteren gefragt, wie wir eigentlich darauf gekommen sind, diesen Text zu schreiben. Von vielen Lesern habe ich folgende, jeweils etwas anders formulierte Meinung gehört: „Ich habe Ihr Buch gelesen und muss sagen: Genau so ist es. Ich hätte es nicht so in Worte fassen können, aber genau das erlebe ich jeden Tag. Da wird nicht mehr kommuniziert, sondern nur noch behauptet, und viele Kollegen trauen sich nicht mehr zu sagen, was sie eigentlich denken – aus Angst, endlos hinterfragt zu werden.“
Dr. Benjamin Zips und ich haben, bevor Dr. Zips in die Zittauer Stadtverwaltung gewechselt ist, einige Jahre gemeinsam u.a. mit Rettungskräften gearbeitet. Ich selbst war parallel dazu als Lehrbeauftragter an der Hochschule der Sächsischen Polizei tätig. Als 2015 mehr oder minder plötzlich viele Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge eröffnet wurden, gab es vergleichsweise wenige Menschen, die mit der Arbeit in solchen Einrichtungen Erfahrung hatten, und da ich einerseits als Supervisor für soziale Einrichtungen arbeitete und andererseits den „Stallgeruch“ der Flüchtlingsarbeit mitbrachte, weil ich einige Jahre in diesem Bereich tätig war, bekam ich plötzlich viele Einladungen, Trainings für Führungskräfte und Supervisionen für Teams in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften durchzuführen.
Die drei genannten Bereiche haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam: Rettungsdienst, Polizei, Flüchtlingseinrichtungen. Und doch hatte ich irgendwann den Eindruck, dass sich die Geschichten aus dem praktischen Arbeitsleben von Polizisten, Rettungskräften und Flüchtlingsbetreuern in einigen – leider erschreckenden – Punkten ähneln. Auf die wesentlichsten Punkte reduziert lesen sich die Geschichten in etwa so:
- Potentiell gefährliche Situationen nehmen zu, dementsprechend wächst die Unsicherheit. Es gibt auch eine wachsende Zahl von Situationen, die so neu sind, dass es dafür noch keine Routinen gibt.
- Gleichzeitig wird es schwerer, darüber zu sprechen, weil die Diskussionen relativ schnell eskalieren, zu keinem Ergebnis führen oder mit „Gemeinplätzen“ erstickt werden.
- Viele Führungskräfte wirken irgendwie unsicher und hinterlassen den Eindruck, nichts falsch machen zu wollen.
- Die Wahrscheinlichkeit, Zielscheibe von Übergriffen zu werden, wächst weiter – bei gleichzeitig weiter wachsender Unsicherheit, darüber zu reden bzw. entsprechende Entscheidungen (Investition in Schutzausrüstung, Erproben neuer Vorgehensweisen) zu treffen.
- Parallel dazu entwickelt sich eine stark polarisierende öffentliche Diskussion, deren Extrempositionen wenig mit der erfahrenen Realität zu tun haben. Mag es einzelne Polizisten geben, die ggf. zum „Teil des Problems“ werden, ist in der öffentlichen Diskussion eher von der gesamten „Polizei als Teil des Problems“ die Rede.
Nachdem ich dieses Muster „entdeckt“ hatte, fragte ich mich, wie es dazu kommen konnte. Und ich dachte: Falls es sich nicht nur um ein spezifisches, sondern ein allgemeines Phänomen handelt, dann müsste es auch in anderen Branchen der Fall sein. Also kam ich mit Erziehern, Lehrern, Führungskräften im Mittelstand, Mitarbeitern der öffentlichen Verwaltung, Handwerkern und schließlich Hochschullehrern ins Gespräch. Und siehe da: es waren überall Geschichten über Handlungsunsicherheit und eine seltsame Form der „prophylaktischen Zurückhaltung“ zu hören. Was ich hier als „prophylaktische Zurückhaltung“ bezeichne, will ich noch genauer beschreiben. Vorab nur so viel: Diese Geschichten erinnerten mich in frappierender Weise an die ehemalige DDR – man war mehr oder minder permanent auf der Hut, was man wem wo und in welcher Weise sagte.
Worum es geht, lässt sich am besten anhand einiger Beispiele erklären:
Viele Erzieher sind es mittlerweile gewohnt, viel mit den Eltern ihrer Schützlinge zu kommunizieren. Allerdings haben sich die „Machtverhältnisse“ verschoben. Zwar verbringen Erzieher einen größeren Anteil der Wachzeit kleiner Kinder mit diesen als die Eltern und wissen deshalb in der Regel mindestens genauso gut oder besser über die Kinder Bescheid, aber die „gute alte Autorität“ von Erziehern ist verschwunden. Eltern hinterfragen die Handlungen von Erziehern öfter als früher und erwarten – positiv formuliert – ein deutlich höheres Maß an Rücksichtnahme auf individuelle Belange des Kindes. Das geht – negativ formuliert – bis hin zu jenen extremen Ansprüchen so genannter „Helikoptereltern“, die aus der Erziehung in Einrichtungen eine perfekt organisierte und jederzeit kontrollierbare Individualdienstleistung an ihrem einzigartigen Sprößling zu machen versuchen. Wenn man kritisiert wird, und dies vielleicht zu Recht, ist das die eine Sache. Etwas anderes ist es, wenn jede Kleinigkeit, jedes Loch in der Hose, jede Träne, jede daheim über die Kita geäußerte Befindlichkeit genutzt wird, um daraus erst Hinterfragungen und dann Ansprüche abzuleiten. Erst recht ungemütlich wird es, wenn die beteiligten Erzieher den Eltern etwas über ihren Nachwuchs mitteilen wollen, dass er andere Kinder haut beispielsweise oder in diesem oder jenem Bereich ein wenig Förderung bräuchte. Wenn solcherlei Kommunikationsversuche mehrfach schief gegangen sind, werden sich die betroffenen Erzieher irgendwann überlegen, ob sie etwas sagen – und sich im Zweifel lieber zurückhalten. Die Folge ist dann eine Art vorsichtiger Kommunikation. Das mag im Einzelfall nicht weiter ins Gewicht fallen. Wenn es zu einem flächendeckenden und dauerhaften Phänomen – es also selbstverständlich und damit zur „Kultur“ – wird, haben wir ein Problem.
In politischen Diskussionen lassen sich ähnliche Dinge beobachten. Kürzlich geschah in etwa Folgendes (auf die Nennung von Namen wird bewusst verzichtet): Ein Politiker wurde interviewt, unter anderem ging es um den Umgang mit der AfD. Der Politiker hat seine Sichtweise auf die AfD dargelegt und mit seiner Sichtweise den häufiger zu hörenden Meinungen über die AfD nicht ganz entsprochen, aber er hat sich auch nicht gravierend anderslautend geäußert. In der Zeitung stand dann, dass der besagte Politiker eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht ausschließe. Hier haben wir den ersten Beleg für regelrecht dekadente Kommunikation: ich höre mir an, was einer gesagt hat, posaune dann aber aus, was er eben nicht gesagt hat. Das ist eine Kunst der Unterstellung, die manche Journalisten zu mögen scheinen, und die nicht dazu beiträgt, das Vertrauen in die Medienlandschaft zu steigern. Dann gab es auf lokaler Ebene in einem sozialen Netzwerk eine öffentlich sichtbare Frage an einen bekannten Lokalpolitiker der gleichen Partei, dass er doch nun Position beziehen solle und anders als sein Parteikollege eine Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch ausschließen solle. Der Angesprochene sprang über das Stöckchen seines politischen Gegners und brachte politisch korrekt alles zum Ausdruck, was zum Ausdruck gebracht werden sollte. Hier haben wir das zweite Problem: Da hat einer etwas nicht gesagt, und ein anderer hat daraus gemacht, dass der eine das nicht ausgeschlossen hat. Ein dritter fordert nun von einem vierten, dass er doch bitte schnell kategorisch ausschließen solle, was der eine nicht ausgeschlossen habe.
Wo kommen wir hin, wenn wir uns auf diese Weise gegenseitig hinterfragen?
Wir kommen in jene „ideologischen Bunker“, also die Echoräume der sozialen Netzwerke, in denen jeder nur noch hört und liest, was er eh schon weiß. Und wir verlieren Vertrauen. Was das bewirkt, ist eine Art prophylaktischer Zurückhaltung. Wir sagen dann nur noch das, was potentiell Bestätigung findet – und wir führen einander vor, wenn sich die Gelegenheit bietet, die eigene Position gewinnbringend (und die Währung des Gewinns heißt Aufmerksamkeit) durch die Hinterfragung der Gegenseite zu bestärken.
Das Problem dabei ist, dass es nicht zum Streit kommt. Der Streit wird nur angetäuscht – zunächst ausgelöst, aber nicht fortgesetzt. Oft genug wird die weitere Kommunikation verweigert – und die eigene Weigerung mit der Unsinnigkeit der Gegenposition begründet. Dieses Phänomen war jüngst in Chemnitz wunderbar zu beobachten. Es gab einen Mord. Leute sind auf die Straße gegangen. Andere Leute sind auch auf die Straße gegangen. Das Argument der Gegenseite, mit keinem der Beteiligten reden zu wollen? Wer sich nicht am Ort des Geschehens und SOFORT von „den Nazis“ distanziere, habe sein Recht auf Protest verwirkt. Wie bitte? Wo kommen wir hin, wenn wir so weiter machen?
Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen, und zwar von
- Führungskräften, die sich zurückhalten, weil sie fürchten, dass ihre Entscheidungen zerredet werden und die Vorschläge erst äußern, wenn die entsprechenden Details mit allen im Vorfeld „abgestimmt“ wurden,
- über Hochschullehrer, die lieber allen Studenten eine gute oder sehr gute Note geben, weil sie es Leid sind, die energischen Hinterfragungen der Notenvergabe zu ertragen, und
- über Erzieher, Lehrer, Ausbilder, Polizisten und Soldaten, die, obwohl sie eigentlich durchgreifen müssten, dies nicht mehr tun, weil sie zu Recht fürchten, nachher in endlose Rechtfertigungsschleifen zu geraten,
- bis hin zu Anwälten und Beratern, die davon leben, Abschlussrechnungen zu hinterfragen („Egal, ob Sie zufrieden sind, wir finden immer was!“) oder nach solchen Gesetzes- oder Vertragslücken zu suchen, bei denen unabhängig von den Tatsachen eine Unterstellung reicht, um einen Geldfluss in ihre Taschen zu verursachen (das Prinzip mancher so genannter „Abmahnungen“).
Es wird Zeit, uns dieser Entwicklungen bewusst zu werden und etwas zu ändern. Manche meinen, dass diese Entwicklung ein Zug sei, den wir nicht mehr aufhalten können. Aber was sollen wir tun? Wenn es so weitergeht, bekommen wir keine vernünftigen Mandate mehr, wenn es wirklich mal brenzlig wird.
Ein Freund meinte vor einigen Tagen, der Bundespräsident habe unser Buch „Die Kultur der Hinterfragung“ gelesen, bevor er seine Weihnachtsbotschaft verfasst habe. Er hat es sicher nicht gelesen, und wir sind ja keineswegs die einzigen, die sich Sorgen über die Spaltungen in unserer Gesellschaft machen. Die praktischen Schlussfolgerungen aus unserem Buch sind den mahnenden Worten des Bundespräsidenten recht ähnlich: Wir brauchen Mut zuzuhören, die eigene Meinung zu sagen, zu streiten – und wir brauchen die Fähigkeit auszuhalten, mit einer Meinung auch einmal allein zu sein. Pauschalisierungen und Vorverurteilungen – bspw. das so genannte „Sachsenbashing“ – bringen gar nichts.
Allen Leserinnen und Lesern noch ein gutes und gesundes Neues Jahr!