Wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, ist es ruhiger geworden um die vielen Stimmen, die sich über die Maskenpflicht oder eine zwar nicht geplante, aber „gefühlt drohende“ Impfpflicht beschweren oder die Existenz des Corona-Virus generell bezweifeln.
Während der ersten Welle war das „Problem“ noch vergleichsweise klein, die Verantwortungsbereitschaft aber viel höher als jetzt. Im Sommer war abzusehen, dass es im Falle einer zweiten Welle umgekehrt sein würde.
Dass die Inzidenz-Zahlen in Sachsen in manchen Landkreisen bis auf 700 und mehr Fälle pro 100.000 Einwohner und Woche klettern könnten, hätte ich im vergangenen Sommer nicht geglaubt. In meinem Landkreis bedeutete das in der Spitze immerhin bis zu 1700 Ansteckungen pro Woche.
Viele behaupten immer noch, dass es gar keine Übersterblichkeit gebe
Ließe man eine solche Ansteckungsdynamik ungehemmt laufen, hätten wir es innerhalb eines Jahres ziemlich sicher mit einer Sterberate zwischen zwei und drei Prozent zu tun, wobei man die Corona-Toten nicht einfach zur normalen Sterberate von etwa 1,4 Prozent hinzurechnen dürfte, denn es wird nicht nur an, sondern eben auch mit Corona gestorben, und es „erwischt“ ja vor allem ältere Menschen.
Betrachtet man die Sterberate in Sachsen im Dezember, ist mindestens eine Verdoppelung der Sterberate realistisch; bei einer noch höheren Ansteckungsdynamik und bei einer Überlastung der Versorgungssysteme hätten wir es mit einer noch höheren Rate zu tun.
Eine Verdoppelung der Sterberate ist bei eskalierender Dynamik und überlasteten Helfersystemen also noch ein eher mildes Szenario. Es wurde hundert Mal vorgerechnet, was ein exponentieller Anstieg für die Krankenhäuser, die Rettungsdienste und nicht zuletzt die Standesämter, die Bestatter und die Krematorien bedeuten würde. Spätestens im Dezember konnte man beobachten, dass wir knapp an einer Überlastungssituation „vorbeigeschrammt“ sind. Wir haben schlicht nicht die Infrastruktur, um eine solche Häufung auf die uns gewohnte zivile Art zu bewältigen.
Sollen wir so tun, als wäre Krieg?
Die Alternative lässt sich nur in Analogien zu Kriegszuständen denken. Aber kaum jemand von uns weiß, wie das geht, wie man solche Dinge handhabt. Ich will mir nicht ausmalen, was passiert, wenn irgendwo am Rand von Zittau oder Görlitz Massengräber ausgehoben werden.
Im Grunde dient der Lockdown dazu, Leben zu retten — und uns vor solchen Bildern zu bewahren. Es gibt keine existentielle Notwendigkeit, solche Bilder in Kauf zu nehmen. Es ist eben kein Krieg — und es ist auch nicht die Pest. Der Preis für Corona ist hoch, aber wir müssen ihn nicht höher werden lassen, als er sein muss.
Erich Honecker still alive?
Als ich im Oktober in verschiedenen Gesprächen immer wieder gesagt habe, dass die Leute sich nicht an die Regeln halten und wahrscheinlich erst Ruhe geben, wenn Kühlcontainer vor den Krankenhäusern stehen, hat man mich mitunter angeschaut, als hätte ich gerade behauptet, Erich Honecker sei noch am Leben und würde mit seiner Margot im kommenden Januar wieder das Geschäft übernehmen.
Anfang Dezember habe ich im beruflichen Kontext einige mich befremdende Gespräche geführt. Da gab es in einem Team eine Krisensituation, in der ich um Hilfe gebeten wurde. Als ich den Raum betrat, saß man im Stuhlkreis auf Tuchfühlung — ohne Maske und bei geschlossenen Fenstern. Ich habe zunächst um Abstand und um Öffnung der Fenster gebeten — bei genügend Abstand musste man seinerzeit am Platz keine Maske tragen, wohl aber, wenn man sich bewegt hat bzw. in den Pausen. So lange ich in Sichtweite war, hielt man sich an die Regeln. War ich außer Sicht, saß man wieder ohne Maske zusammen. Kommentar: „Und die Maske soll es nun bringen oder was?“
Viren können nicht fliegen
In einem anderen Fall entspann sich ein Konflikt zu der Frage, ob man Teammeetings nicht auch online durchführen könnte. Ich war zunächst über die Frage irritiert, hätte ich das — angesichts der Zahlen und die technische Machbarkeit vorausgesetzt — doch für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Aber es war in jenem Fall ein Grundsatzproblem: Es sei keineswegs erwiesen, dass eine Maske einen Unterschied machen würde, außerdem sei sie schädlich — und: wenn die offiziellen Verlautbarungen der Krankenhäuser so lauteten, gäbe es ja immer noch alternative ärztliche Medien. Schließlich bekam ich noch zu hören, dass Viren nicht „fliegen“ könnten.
In beiden Fällen handelte es sich um Hilfsorganisationen, nicht etwa um Industriebetriebe. In letzteren habe ich im selben Zeitraum eher das Gegenteil erlebt — eine in der Regel konsequente Umsetzung der Regeln, und zwar relativ unabhängig von ggf. abweichenden Einzelmeinungen.
Eine Sache hat mich an den Diskussionen, die man im Herbst in Sachsen allerorten beobachten konnte, nachhaltig irritiert:
Wir führen unbewusst die Möglichkeit der Euthanasie wieder ein
In vielen Diskussionen begegnete ich dem Argument, dass das Virus doch gar nicht so gefährlich sei, und dass die daran Sterbenden ja früher oder später ohnehin gestorben wären oder sterben würden. Und: Dass viele der daran Sterbenden vielleicht ohnehin sterben wollten, weil sie krank seien oder/und einsam in Heimen leben würden, und dass die allzu gute Versorgung und das in der Schulmedizin herrschende Maximalversorgungsprinzip sie mehr oder weniger vom Sterben abhalten würde.
Dieser Analogie wohnt ein — unterschwelliger, ggf. unbewusster — Bezug zur Euthanasie inne.
Wir leben in einem Land, in dem wir uns daran gewöhnt haben, dass jede und jeder — und zwar unabhängig von seinen Voraussetzungen und seiner Lebensgeschichte — ein Recht auf medizinische Versorgung hat. So, wie Ärzte eben nicht unterscheiden, so gehen wir davon aus, dass uns im Rahmen der Möglichkeiten geholfen wird — und zwar unabhängig vom Alter, von den Vorerkrankungen usw. Freilich mag diese Praxis einige Verwerfungen verursachen — so wie jede Regel in der Praxis eben auch Widersprüche verursacht — und verursachen muss, denn man kann nicht alles regeln; der Einzelfall ist ggf. eben eine Ausnahme, auf die die Regel nicht zutrifft.
Freilich kann man einfach das durchschnittliche Sterbealter der an und mit Corona Gestorbenen mit der durchschnittlichen Lebenserwartung vergleichen. Man käme dann zu dem Schluss, dass sich beide Zahlen kaum unterscheiden. Und man könnte dann fragen, wozu wir eigentlich zum zweiten Mal das ganze Land anhalten.
Es gibt mit solchen, gern „kritisch“ genannten Diskussionen mindestens zwei Probleme:
Die Grenzen unserer Versorgungssysteme
Unsere Versorgungssysteme sind auf Regelmäßigkeit angelegt — bestimmte Schwankungen halten sie aus, aber eben nicht auf längere Frist eine deutlich überdurchschnittliche Zahl von Versorgungs- oder gar Sterbefällen. Dazu sind die Kapazitäten der Einrichtungen nicht vorgesehen. Gerade viele ostdeutsche Landkreise haben in den vergangenen drei Jahrzehnten einen erheblichen Bevölkerungsschwund zu verzeichnen gehabt — einschließlich der entsprechenden Anpassung der Versorgungsstrukturen. Woher sollten, bspw. im Landkreis Görlitz, plötzlich die Strukturen kommen, die überdurchschnittliche Fallzahlen über einen längeren Zeitraum bewältigen könnten? Das ebenfalls gehörte „Argument“, dass gerade die regionalen Intensivstationen sonst nicht so ausgelastet seien und die Beteiligten nun ausgerechnet einmal arbeiten müssten, ist allenfalls zynisch.
Das ethische Problem
Das viel „eigentlichere“ Problem ist aber ein ethisches. Freilich steht die Würde des Menschen höher als die Rettung jeden Lebens (Wolfgang Schäuble), aber keiner von uns weiß, was das genau bedeutet, wo die Grenzen zu ziehen wären — von einer Klagewelle gegen die sich aus einer solchen Diskussion ergebenden Regelungen einmal ganz abgesehen. Und weil solche Diskussionen schwierig sind und lange dauern, führen wir sie nicht. Gesetzt den Fall, wir würden das diskutieren, wären wir schnell bei der Frage, welches Leben rettenswerter wäre als welches andere. Was Ärzte unter Extrembedingungen tun müssen (triagieren, also entscheiden, wem geholfen wird und wem nicht), würden wir dann quasi in einer Diskussion abwägen.
Und damit wären wir erschreckend nah an der Euthanasie.
Wir kämen damit zumindest implizit zu der Frage, welches Leben lebenswerter sei als welches andere. Solche Kriterien zu formulieren, würde die entsprechende Diskussion zu Recht in die Nähe der Euthanasie rücken.
Wie sollten wir denn dann die Wahl treffen? Ist das Leben einer siebzigjährigen Professorin im Falle einer schweren Erkrankung mehr wert als das eines neunundzwanzigjährigen mehrfach vorbestraften Langzeitarbeitslosen, der genauso krank ist? Und wenn wir die Grenze beim Alter ziehen würden — würden wir dann im Falle besonders berühmter oder kompetenter oder „systemrelevanter“ Bürger eine Ausnahme machen?
Was würde dann aus uns?
Wir leben in einem Land, in dem Menschen in der Regel gleich behandelt werden. Kein Wunder also, dass bei der rechtlichen Diskussion der — bisher glücklicherweise hypothetisch gebliebenen — Frage nach den Kriterien für eine Triage höfliches Schweigen herrscht. Was wäre etwa, wenn die Verwandten eines Betroffenen sofort Klage einreichten?
Die Arroganz, trotz hoher Ansteckungszahlen einfach weiterzumachen
Wir greifen zu den Maßnahmen, die momentan gelten, weil wir den Grundsatz der Gleichbehandlung haben und weil wir eben nicht unterscheiden — und weil wir unsere vergleichsweise gute Vorsorge-Infrastruktur nicht auf Dauer über die Maßen beanspruchen können. Irgendwann geben auch ansonsten sehr engagierte Pfleger und Ärzte womöglich auf. Im Dezember mehrten sich die Zeichen, dass es vielen Krankenhausmitarbeitern, Pflegern und Einsatzkräften (Rettungsdienst, Polizei usw.) einfach reicht. Die entsprechenden Wortmeldungen bei Facebook und anderswo zeugten von Fassungslosigkeit ob der Arroganz vieler Menschen, trotz der hohen Zahlen einfach weiterzumachen.
Die erschreckende Gleichsetzung mit der Situation vor der Wende
Was mich in diesem Zusammenhang zudem erschrickt, ist die unter manchen „Corona-Gegnern“ populäre These, dass man nicht sagen dürfe, was man möchte oder dass wir gar in einer Art „DDR 2.0“ lebten.
Beim wem bitte kommen denn Stasi-Mitarbeiter klingeln, wenn die Zunge mal etwas lockerer saß? Wer wird denn wofür abgeführt?
Der leuchtende Pfad
Es ist schon eine erstaunliche Verdrehung der Tatsachen, wenn man die heutige Bundesrepublik mit der DDR verwechselt. Umso frappierender erscheint es, wenn sich ehemalige Wende-Aktivisten heute unter den Mitgliedern einer Art „leuchtenden Pfades“ durch eigentlich unversöhnlich erscheinende Gruppierungen wiederfinden. Dieser „leuchtende Pfad“ reicht von Rechtsextremen über Reichsbürger, esoterisch Bewegte und manche Heilpraktiker bis hin zu evangelikalen Christen und globalisierungskritischen Extremisten.
Das Reich der alternativen Fakten
Wer so (vermeintlich) kritisch diskutiert, betritt — ich unterstelle: bewusst — den Geltungsbereich der „alternativen Fakten“. Damit bereitet sie oder er — ich vermute: unbewusst — das Feld für radikale und die Grundfesten unseres Gemeinwesens erschütternde Motive.
Die Erschütterung dessen, worauf sich unsere Vorfahren nach langen Kämpfen geeinigt hatten
Unsere Vorfahren haben nach langen Kämpfen und Jahrhunderten der Irrationalität in zwei Prozeduren eingewilligt, die zum Kern dessen gehören, was unser Zusammenleben ausmacht — Rationalität und Demokratie.
Wir beziehen uns auf das, was man durch die Einhaltung systematischer Methoden als Wissen bezeichnen kann (Wissenschaft). Und wir wählen diejenigen, von denen wir meinen, dass sie unsere Interessen am besten vertreten können oder schlicht gut sind für unser Land.
Jede und jeder darf alles hinterfragen, und zwar nicht mehr, weil es notwendig ist, sondern weil man es kann
Was wir aber heuer beobachten, ist eine Lust an der Ignoranz oder Zerstörung genau dieser Errungenschaften. Jeder darf alles und jeden hinterfragen. An und für sich ist das ein Element der Freiheit, und oft genug geschehen Dinge, gegen die man sich verteidigen muss — und glücklicherweise auch kann.
Manchmal erschrecke ich davor, welche Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen trotz der Freiheit, sich zu wehren, möglich sind, wie die jüngst in den Niederlanden aufgedeckte, systematisch implementierte Ungerechtigkeit bzw. pauschale, ja „institutionell“ zu nennende Diskriminierung zeigt.
Aber heuer kommt es eben auch dazu, dass die Hinterfragung nicht mehr auf Fakten beruht (also sich dem Kriterium der Rationalität verweigert) und die demokratischen Gepflogenheiten nicht mehr befolgt, sondern nur noch instrumentell nutzt.
Der zivilisatorische Firniß ist dünn
Solcherlei Situationen gab es schon in der jüngeren Geschichte — jemand brandmarkt das „System“, stellt sich gleichzeitig als Opfer dar, nutzt aber die Gepflogenheiten des Systems und schmeißt es, den entsprechenden Erfolg vorausgesetzt, irgendwann um — oder trägt zumindest signifikant zu seiner Aushöhlung bei, wie jüngst in den Vereinigten Staaten zu beobachten war. „Das wird schon nicht passieren“, sagen dann die einen, und „die Institutionen sind mächtiger als einzelne Demagogen“, meinen dann andere.
Ich meine, dass der zivilsatorische Firniß dünn ist, und dass die Prozeduren, auf die wir uns geeinigt haben, zwar einiges aushalten, aber zunehmend unter Druck geraten.
Klar können wir so weitermachen. Was mich erschrickt, ist jedoch die Lust am Infragestellen oder gar Verlassen der gemeinsamen Grundlage. Es handelt sich bei größeren Teilen der gegenwärtigen „kritischen“ Diskussionen keineswegs um Kritik, sondern um die Ermöglichung von Diskussionen, die in der Lage sind, die Grundfesten unseres Zusammenlebens zu erschüttern.
Die „braunstmögliche Option“ und der transzendierte Affekt der Unterlegenheit
Kürzlich meinte ein Freund während eines spätabendlichen Gesprächs, er werde bei der nächsten Wahl die „braunstmögliche Option“ wählen. Seine Begründung war vor allem eine Kritik am zu beobachtenden Lobbyismus und an den Widersprüchlichkeiten bzw. Ungerechtigkeiten der Corona-Maßnahmen. Als ich daraufhin erwiderte, dass er damit womöglich Menschen zur Macht verhelfe, die sich dann wahrscheinlich nicht mehr an unsere Werte und Prozeduren halten wollten, meinte er, dass er diese Konsequenzen sehr wohl sehe — und in Kauf nähme. Und als ich dann sagte, dass es aufgrund einiger seiner Eigenheiten nicht unwahrscheinlich wäre, dass man dann ggf. auch an seiner Tür klingeln würde, um ihn wegen unerwünschter Verhaltensweisen mitzunehmen, sagte er: „Ja, das ist mir klar. Aber so geht es nicht weiter. Hier muss was passieren. Ich bin so wütend. Und wenn ich dann irgendwann sterbe, na dann ist das eben so.“
Sein Gesichtsausdruck war ebenso wütend wie zufrieden zugleich.
Es geht, so mein Eindruck, nicht um Kritik, sondern um Rache. Aber diese Rache hat keine tatsächliche, sondern allenfalls eine symbolische Grundlage. Die „Kritik“ ist also nur ein Stellvertreter für etwas anderes — ich vermute für eine Art „transzendierten Affekt des Unterliegens“.
Die Rationalität liegt dann freilich zuerst tot im Garten.