Last man standing
Wir erinnern uns: John Wayne oder Clint Eastwood oder Bruce Willis mit schiefer Grimasse vor einem Mauerrest. Schießt, trifft und bleibt immer der „last man standing“. Vorher rettet er ein Mädchen und nachher reitet — oder im Falle von Bruce: fährt — er in den Sonnenuntergang.
Erinnern wir uns?
Ja, wir erinnern uns. Und wenn „wir“ uns nicht erinnern, haben wir teutonischere Varianten dieser allzu amerikanischen Erinnerungen: Old Shatterhand, der anachronistisch selbstlose — oder wenn man die Texte genau liest: auch frömmlerische — Superheld rettet zwar auch ein Mädchen, begehrt sie dann aber nicht — und rettet fortan ein Indianerdorf nach dem anderen.
Diese „Helden“ hat es nie gegeben, wie es auch „den Westen“ nie gegeben hat. Wir „erinnern“ uns an eine Projektion.
Aber die gleichsam „hinter“ dieser Projektion liegende Erzählung hat den Westen stark gemacht. Diese Erzählung verliert seit längerer Zeit ihre bindende Kraft — teils, weil sich die Welt verändert und andere „Erzählungen“ besser zu den heutigen Entwicklungen auf der Welt zu passen scheinen (bspw. die chinesische), und teils, weil wir die Erzählung selbst nicht mehr glauben oder sie gar aktiv „zerlegen“, „dekonstruieren“, „durch neue Normen ersetzen“ und so weiter.
Dancing with myself
Versuche, diese „Erzählung“ in Worte zu fassen, könnten allein Bände füllen. Hier sei eine mögliche Version dieser Erzählung nachgezeichnet — quasi im mehrere Jahrhunderte zu wenigen Sätzen raffenden Schnelldurchlauf, um das Wesentliche aufscheinen zu lassen:
- Beginnend mit der Renaissance gelang es immer mehr Menschen, die starren Regeln der Stände bzw. die Begrenzungen der mittelalterlichen Standesgesellschaft zu verlassen. Gesellschaftliche Schichten wurden durchlässiger, man war nicht mehr so an das „Schicksal der Geburt“ gekettet wie im Mittelalter.
- Man konnte „freier“ handeln — zunächst auch und vor allem im wirtschaftlichen Sinne, was indirekt zu „bürgerlichen“ bzw. „liberalen“ Wertvorstellungen führte. Später haben wir aber nicht mehr nur frei gehandelt (Besitz, freie unternehmerische Entscheidungen), sondern wir haben begonnen, die Freiheit auszuweiten und Konventionen abzubauen. Das Individuum und seine Entscheidungen rückten immer mehr in den Fokus des Interesses.
- Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung (spätestens ab den Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts) haben wir begonnen, „mit uns selbst zu tanzen“. Nicht mehr nur die Erweiterung individueller Handlungsspielräume in Bezug auf äußere Handlungsziele (Beispiele: eine Unternehmung gründen, eine Entdeckung machen oder die Steigerung des Status in einer sozialen Gruppe) war von Belang, sondern das Selbst wurde ebenfalls zum Handlungsziel. Man fragte sich zunehmend, was man möchte, welche Ziele man erreichen will oder wie man leben möchte.
Selbstentfaltung — oder schlicht die alte Konkurrenz im „Selbstverwirklichungsgewand“?
Was — unkritisch betrachtet — der vorläufige Zielpunkt langer Bemühungen war (Das Individuum kann sich endlich frei entfalten!), ließe sich — kritischer und zugespitzter betrachtet — auch als die gleiche Geschichte mit neuen Begriffen lesen:
Was wäre, wenn die humanistischen Psychologen unrecht hätten und es sich keineswegs um „innere“ Handlungsziele im Sinne einer kreativen Selbst-Entfaltung oder etwa eines unabhängig-Machens seiner selbst von Reichtum oder Status o.ä. handelt, sondern wenn das Status-Streben schlicht die „innere Kategorien“ erreicht hätte? Wir vergleichen uns ja nach wie vor gegenseitig und „messen“ unseren Status auch weiterhin über unsere Position in der Gruppe — nur dass es eben nun um „innere“ Dinge geht (heuer im Trend: Achtsamkeit, Gesundheit) und die potentiellen Gruppen vielfältiger, zugänglicher und größer sind. So kann ich in eine Großstadt ziehen und mich dort unter Gleichgesinnte begeben und meine soziale Identität stärker über diese neuen, mir ähnlicheren Kontakte definieren. Ich kann meine Interessen auch in sozialen Medien darstellen und mein Selbst dort entfalten — oder die Entfaltung zumindest abbilden und dafür Likes einheimsen.
Wollte man diese Sichtweise weiter zuspitzen, könnte man sagen, dass jener Teil der Psychologie, der mit Begriffen wie Selbstentfaltung oder ‑verwirklichung operiert, nur die „allgemein erwünschte Prosa“ zum als Selbstfindung verklärten Statusstreben liefert.
Der westliche Held als Bahnbrecher
Eine andere, etwas weniger „psychologisierend“ daherkommende Version der soeben beschriebenen Entwicklung wäre eine „Geschichte des westlichen Helden“.
Der „Held“ des Westens (und in jüngerer Zeit auch: die Heldin) sind Individuen, denen es gelingt, Barrieren zu durchbrechen. Diese Barrieren können die Begrenzungen sozialer Schichten sein (Beispiel: ein einfacher Soldat schafft es bis zum hohen Offizier) oder auch die Durchsetzung einer Neuerung gegen vielfache (traditionelle, gruppendynamische, machtpolitische usw.) Widerstände.
Insofern hat Friedrich Nietzsche mit seinem „Übermenschen“ eine Idealfigur formuliert, nämlich die Idee von einem Menschen, der nur noch von sich selbst abhängig ist, nur noch sich selbst als Maßstab hat und sich selbst als „ein aus sich selbst heraus rollendes Rad“ versteht. Die Geschichtsbücher der Moderne sind voll von Individuen, denen etwas gelungen ist — oder die man zu Einzelnen stilisiert hat, denen „alles“ gelungen ist. Ob es in der Geschichte tatsächlich so stattgefunden hat, ist dabei zweitrangig, wichtig ist nur die symbolisierte, weitergetragene, über die Zeit „kondensierte“ Bedeutung.
Bang Bang: Who the hell — or what — killed the West?
Weil die Welt vorwärts gelebt und rückwärts verstanden wird (sinngemäß nach Sören Kierkegaard), werden uns die Entwicklungen, die zum Niedergang „des Westens“ führen, zum jeweiligen Zeitpunkt kaum in der Gänze ihrer Vielschichtigkeit und ihrer Wirkungen bewusst — aber in der Rückschau wird es einmal jenen Knall oder eben eine Folge von entsprechenden „Knall-Ereignissen“ — das „Bang“ auf der obigen Zeichnung — gegeben haben. Vor achtzehn Jahren hätten manche vielleicht dazu tendiert, die Politik von Bush Junior für geeignet zu halten, jenen Knall hervorzurufen. Heute mag man Donald Trump für einen möglichen Verursacher halten. Aber so schnell und so einfach ist Geschichte selten.
Kulturen entstehen, werden stärker, expandieren, erreichen ihren Zenit, leben eine ganze Weile gut von den „Zinsen“ ihrer Stärke und vergehen. Dieses langsame Verglühen kann, wenn es gut verwaltet wird, durchaus einige hundert Jahre dauern. Rom oder auch das Osmanische Reich waren gute Beispiele dafür. Nur selten kommt ein äußerer Feind und zerstört eine mächtige Kultur in kurzer Zeit. Vielmehr „ermöglicht“ die Kultur ihre Zerstörung, weil sie ihre „innere“ Idee oder die sie einende Kraft verliert.
Was war (oder ist) „der Westen“?
Zunächst war der Westen nichts weiter als eine Ansammlung mehr oder minder ähnlicher, untereinander stark konkurrierender, sich mehr oder weniger demokratisierender Monarchien. Erst als diese Mächte nach zwei Weltkriegen aufhörten, sich zu bekriegen, und begannen zu kooperieren, und erst, als es schließlich mit der ehemaligen Sowjetunion einen starken, mehr oder minder gemeinsamen Feind gab, wurden die Voraussetzungen geschaffen, dass man von „dem Westen“ sprechen konnte. Nicht umsonst wird der Begriff in seiner heutigen Verwendung auch erst seit den Achtziger Jahren benutzt. Es handelt sich bei „dem Westen“ also um ein Gebilde, dass sich erst im Zenit seiner Ausbreitung — um 1945 bis 1950 herum — einigte. Einerseits mag der größere Teil der in den vergangenen 300 Jahren auf diesem Planeten stattgefundenen Konflikt- und Machtdynamik von Ländern ausgegangen sein (oder im Kern mit diesen zu tun gehabt haben), die heute zum „Westen“ gehören. Andererseits ist seit der letztendlichen „Einigung“ um 1945 bis 1950 herum von dieser expansiven Dynamik kaum mehr etwas zu spüren. Man übt noch eine hohe wirtschaftliche Macht aus und bisweilen demonstriert man noch „harte“ (also militärische) Macht, aber es bleibt in der Regel bei Demonstrationen. Kaum ein Krieg wurde seitdem mehr durchgefochten, geschweige denn gewonnen. Heute bekämen die Armeen der westlichen Welt auch kaum mehr Mandate dafür.
Wir werden zum Museum
Einst das Zentrum der Macht auf dem Planeten wird Europa langsam zum Museum, in das Touristen aus aller Welt strömen, um die Zeugnisse und Hinterlassenschaften der westlichen Kulturgeschichte der vergangenen Jahrhunderte zu bestaunen. Europa hat einen post-imperialen Zustand erreicht — und ihn unter anderem auf den Schlachtfeldern zweier Weltkriege teuer bezahlt. Wir sind freundlich und reden gern, geben uns „postkolonial“, bauen gute Autos und sind passable Gastgeber. Wir gefallen uns in der Rolle gewaltfreier Vermittler und schicken leicht bewaffnete Soldaten auf Friedensmissionen, deren Sinn mitunter schwer zu verstehen ist.
Im Vergleich zu der Zeit noch vor 100 Jahren schreit kaum mehr einer auf Straßen oder Plätzen herum, und das Gros der Nationalisten in den europäischen Ländern zieht demnächst eher ins Altersheim als in den Krieg. Wir bekommen so wenige Kinder, dass wir das eine oder die beiden, die wir noch haben, kaum in einen Krieg ziehen sehen wollen. Unsere Geburtenrate ist so niedrig, dass wir uns ohne Zuwanderung in den kommenden ca. 50 Jahren einfach halbieren würden. Wir genießen das Leben — und das auch und vor allem, weil wir uns das auf der Grundlage unserer Geschichte (wahlweise auch: „unserer Errungenschaften“) leisten können. Wir fragen uns nach dem Sinn, wir leben gesund und achtsam — und bald will auch niemand mehr in Schlachthöfen oder an ähnlich gruseligen Orten arbeiten. Wir verlagern die dreckige Industrie irgendwo hin oder schalten sie ab und betreiben den Rest wie ein innovatives Hochleistungsmuseum.
Unser goldener Spätsommer
Wehe, wenn die sozialen Sicherungssysteme nicht halten sollten, was sie einst versprochen haben oder wenn die Menschen über 60 die Wählermehrheit stellen! Dann sind die Grenzen der heutigen Komfortzonen erreicht, aber dann leben viele der heutigen Komfortzoneninhaber nicht mehr. Aber auch dann wird das Land nicht zusammenbrechen, sondern es wird sich weiter verändern. Aber wir, wir sind und bleiben „späte Menschen“.
Und wehe, wenn das Versprechen einer besseren Zukunft nicht mehr gilt! Mag die Expansion unserer Kultur auch schon lange vorbei sein — wir alle sind daran gewöhnt, von den, metaphorisch gesprochen, „Zinsen“ der kulturellen und technischen Errungenschaften unserer Vorfahren zu leben. Nie waren der Standard höher und die Liste der von uns für selbstverständlich genommenen Absicherungen (fließendes Trinkwasser, unterbrechungsfreie Energieversorgung, automatische Kranken- und Rentenversicherung und so weiter und so weiter) länger. Nie wurde so viel vererbt wie heute, nie wurde so viel Geld pro Kind ausgegeben usw. Aber wie lange gilt es noch, das — zumindest bisher für eine Mehrheit gültige — Versprechen, dass es die Kinder mal besser haben als ihre Eltern?
Einstweilen herrscht ein goldener Spätsommer, und für manche von uns wird das Zeit ihres Lebens noch gelten. Unser Umgang mit Corona ist ein Symptom dieses goldenen Spätsommers, indem uns Corona zwar unsere Sterblichkeit vor die Nase hält, wir aber — als Gesellschaft — fast alles tun, um den Tod „noch ein bißchen länger“ draußen zu halten.
Text: Jörg Heidig
Titelbild: Henry Töpfer