In diesem Text geht es um die Rolle von Führungskräften der Feuerwehr und des Rettungsdienstes im Umgang mit stark polarisierten politischen Diskussionen und extremistischen Äußerungen. Die Darstellungen beziehen sich explizit nicht auf Führungskräfte in anderen Einsatzorganisationen wie der Polizei oder der Bundeswehr.
Warum soll man sich als Führungskraft einer Einsatzorganisation (bspw. Rettungsdienst, Feuerwehr) mit Politik befassen?
Es ist egal, wer Bundeskanzlerin oder Bundeskanzler ist. Es ist auch egal, ob sich jemand darüber streitet, ob es den Klimawandel gibt oder nicht, ob Corona aus dem Labor stammt oder nicht. Wenn ein Haus brennt, dann brennt ein Haus. Und dann gilt es, den Einsatz möglichst gut zu bewältigen. Und wenn jemand Hilfe braucht, dann braucht jemand Hilfe. Dann ist es egal, ob er helle oder dunkle Haut hat oder politisch grün oder blau ist. Ihm oder ihr wird geholfen. Es ist auch egal, was die einzelne Einsatzkraft politisch denkt. Einsatz ist Einsatz, und im Einsatz hat Politik nichts zu suchen.
Soweit die Theorie. Aber ist das auch in der Praxis so? Wenn es so ist: Herzlichen Glückwunsch — und das ist ernst und nicht sarkastisch gemeint.
Aber was, wenn polarisierende Diskussionen über eine bisher gut funktionierende Gruppe von Einsatzkräften hereinbrechen und nach einer Weile die Truppe regelrecht spalten? Wenn — ein paar Monate später — die einen Kameraden sagen, dass sie nicht mehr zum Dienst kommen wollen, wenn die anderen Kameraden da sind? Oder wenn die Kollegen meinen, dass sie mit bestimmten anderen Kollegen nicht mehr in die Schicht wollen, weil es dann die ganze Nacht nur um Politik geht und spätestens nach zwei Stunden alle Anwesenden schlechte Laune haben?
Spätestens dann muss ich mich als Führungskraft dazu verhalten — den Zusammenhalt und die Kameradschaft erhalten oder wieder schaffen. Das ist ein ganz praktischer Fall, der Führungskräfte bei der Feuerwehr und im Rettungsdienst zunehmend beschäftigt. Anlass sind sicher die polarisierenden Themen der letzten Jahre, stellvertretend seien nur die Stichworte „Migration“ und „Corona“ genannt. Aber der Anlass ist nicht die Ursache.
Die Ursache, dass Diskussionen mitunter eskalieren und es tatsächlich zu Spaltungen kommt, ist in einer Veränderung der politischen Landschaft zu suchen. Früher (und im Osten endet „früher“ bei 1990, davor gab es noch eine ganz andere politische Landschaft, deren späte „Echos“ auch heute noch zu spüren sind) gab es rot und schwarz. Heute gibt es rot und schwarz immer noch, aber das sind kaum mehr die Gegensätze, die es früher einmal waren. Im Gegenteil: Heute reiht sich GroKo an GroKo.
Die tatsächliche Dynamisierung der Diskussionen ergibt sich nicht mehr zwischen rot und schwarz, sondern zwischen grün und blau, zwischen progressiv und konservativ (die jeweilige Eigensicht) bzw. zwischen „linksgrün versifft“ und „Nazis“ (die jeweils extreme Bezeichnung füreinander). Neu ist, dass die Extremisten beider Seiten die jeweils Gemäßigten vor sich hertreiben mit dem Motto: „Mit denen kann man nicht reden.“ Die Folge ist eine regelrechte „Spaltung der Welt“, die mit jeder Krise (2015, 2020…?) bzw. jedem polarisierenden Thema (Klimawandel, Gender…) dynamischer wird. Diese Dynamisierung wird durch die Echokammer-Wirkung sozialer Medien und das weitgehende Fehlen von Ethik im Management dieser Netzwerke noch einmal verstärkt.
Bisher reden wir mehr oder weniger über relativ normale gesellschaftliche Spaltungen, die zum handlungsrelavanten Thema für Führungskräfte in Einsatzorganisationen werden können. Bis jetzt haben wir noch nicht von wirklichem politischen Extremismus gesprochen: Was tut man beispielsweise, wenn jemand offen verfassungsfeindliche Symbole benutzt — und das auf einer offiziellen Feier der jeweiligen Organisation? Oder was tut man, wenn jemand im Einsatz Dinge sagt, die, wenn sie von Passanten oder gar Journalisten gehört werden, ganz und gar nicht mehr „einzufangen“ sind? (Mithin man diskutieren kann und meines Erachtens auch sollte, ob man solche Dinge tatsächlich „einfangen“ oder lieber zum Anlass für eine sehr ernste Auseinandersetzung nehmen sollte.)
Am Ende der Einleitung zu diesem Text angekommen haben wir also zwei Situationen zu verzeichnen, in denen politische Themen für Führungskräfte von Einsatzorganisationen relevant werden können — nicht müssen, aber eben können, und die entsprechende Wahrscheinlichkeit steigt momentan eher als dass sie sinkt.
Erste Situation: Polarisierende Diskussionen erreichen eine Gruppe von Einsatzkräften, und es kommt zu Spaltungen, die den Zusammenhalt bzw. die Kameradschaft gefährden.
Zweite Situation: Es kommt zu als verfassungsfeindlich zu kategorisierenden Aussagen oder Handlungen bspw. im Einsatz selbst oder bei Feiern der Organisation.
Bevor wir uns nun mit den Haltungen und Handlungsoptionen von Führungskräften in diesen beiden Situationen beschäftigen, sei betont, dass das normale politische Spektrum nichts ist, was Einsatzorganisationen und ihre Führungskräfte etwas angeht. Auch ggf. problematische gegenseitige Zuschreibungen sind nicht von Belang, so lange sie nicht die Einsatzfähigkeit gefährden (erste Situation) oder antidemokratisch oder/und verfassungsfeindlich sind (zweite Situation).
Die Antwort auf die Frage, warum ich mich als Führungskraft einer an und für sich unpolitischen Einsatzorganisation ggf. doch mit politischen Themen und Meinungen bzw. mit den Konsequenzen politischer Handlungen für meine Organisation beschäftigen muss, lautet: Einsatzkräfte sind keiner politischen Idee und schon gar nicht Personen verpflichtet, wohl aber der Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Daraus ergibt sich für die Organisation insgesamt die Anforderung, neutral zu sein. Für Führungskräfte ergibt sich daraus eine Vorbildfunktion.
Die ersten Schlussfolgerungen lauten also:
Das normale politische Spektrum ist nichts, was Führungskräfte von Einsatzorganisationen interessieren muss.
Die Organisation an und für sich ist neutral.
Führungskräfte haben eine Vorbildfunktion.
Führungskräfte müssen sich in zwei spezifischen Situationen mit politischen Fragen auseinandersetzen, nämlich (a) wenn politische Diskussionen die Einsatzfähigkeit bzw. den Zusammenhalt oder die Kameradschaft gefährden oder (b) wenn es im Einsatz oder im Zusammenhang mit Treffen oder Veranstaltungen der Organisation zu verfassungsfeindlichen Aussagen oder Handlungen kommt.
Nach diesen ersten, noch eher allgemeinen Darstellungen lautet nun die Frage, wie das in der Praxis konkret umzusetzen ist.
Der Boden der Verfassung
Zunächst ist es hilfreich, sich unsere Verfassung einmal als eine Art „Boden“ vorzustellen, auf dem man stehen kann. Wenn man sich diesen Boden als eine runde Fläche vorstellt, dann stehen wir als Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft tatsächlich in der Mitte — auf dem Boden unserer Verfassung oder eben im Geltungsbereich der Verfassung. Am Rand dieses Bodens befindet sich eine Art „Grauzone“, wo jene zu finden sind, die die Verfassung oder „das System“ infrage stellen. Weiter „draußen“ gibt es dann noch einen „roten Bereich“, in dem alle diejenigen zu finden sind, die die Verfassung nicht nur infrage stellen, sondern „das System“ auch aktiv angreifen. Zur letztgenannten Gruppe gehören alle diejenigen, die ganz bewusst und aktiv daran arbeiten, die demokratische Grundordnung grundlegend zu verändern, also zuallererst alle Terroristen, unabhängig davon, ob sie rechtsradikal, islamistisch oder linksradikal sind. Auch die aktiveren Teile der Reichsbürgerbewegung gehören dazu. In der Grauzone hingegen sind diejenigen zu finden, die zwar radikale Gedanken teilen, diesen aber keine aktiv angreifenden Taten folgen lassen, also beispielsweise gemäßigtere Reichsbürger oder auch corona-leugnende Aktivisten, die zwar gegen „das System“ sprechen, diesen Haltungen aber keine aktiv angreifenden Taten folgen lassen.
Eine eindeutige Zuordnung ist schwierig, zumal freie Meinungsäußerung und Kritik zu den grundlegenden freiheitlichen Merkmalen einer offenen und demokratischen Gesellschaft gehören. Gerade ehemalige DDR-Bürger sind hier sehr sensibel. Aber die Montagsdemonstrationen der ehemaligen DDR nun umzudeuten in eine neuerlich freiheitliche Bewegung gegen ein ach so autoritäres und undemokratisches „System Bundesrepublik“ ist irreführend, denn wer wird denn für seine Meinungsäußerung heutzutage zuhause abgeholt?
Wann ist etwas „grau“ und wann „rot“? Und wann ist es „graurot“ oder „rotgrau“?
Ich kann meine kritische Meinung äußern und mich politisch engagieren, dann bleibe ich auf dem Boden der Verfassung. Ich kann auch die demokratische Grundordnung oder die Grundlagen der Bundesrepublik infrage stellen, dann bewege ich mich in einer Grauzone. Wenn ich jedoch aktiv an der Abschaffung des „Systems“ arbeite oder sogar angreife, dann bewege ich mich außerhalb des Geltungsbereiches unserer Verfassung. Die Unterscheidung zwischen „Grauzone“ und „Angriff“ ist schwer, aber spätestens beim aktiven Angriff auf Polizisten oder bei aktivem Vandalismus wie beim G20-Gipfel in Hamburg sollte die Kategorisierung klar sein — auch wenn sich in Hamburg über 100 ehrenamtlich engagierte Juristen bemüht haben, manche aktive Angreifer nach der Verhaftung mit rechtlichen Mitteln sofort wieder auf den Boden der Verfassung zurückzuziehen. Mindestens so klar wie ein aktiver Angriff liegt der Fall der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole auf offiziellen oder gar öffentlichen Veranstaltungen.
Letzteres sei an einem Beispiel verdeutlicht: Gegen Ende eines „Männertags“ kamen zwei in wehrmachtsähnlichen Uniformen (ohne Hoheitszeichen) gekleidete Männer auf einer Beiwagen-Maschine aus der Zeit des zweiten Weltkriegs auf dem Grundstück eines Gasthofs an, auf dessen Außenfläche sich noch etwa 100 Personen aufhielten. Die beiden Männer parkten das Fahrzeug, stiegen ab, ließen die Helme auf dem Fahrzeug liegen und zogen sich ins Innere des Gasthofs zurück. Es war noch nichts geschehen, was in Deutschland verboten wäre. Das geschah erst durch die Reaktionen eines Teils des Publikums: Als die beiden Männer mit dem Motorrad ankamen, setzte sich ein Teil der Anwesenden in Bewegung. Man rannte — und grüßte auf verbotene Art — in Richtung des Motorrads. Die beiden Fahrer grüßen nicht auf verbotene Art zurück, sondern schüttelten Hände, ließen ihre Helme da und verschwanden. Der begeisterte Teil der Anwesenden machte nun Selfies — mit Helm, ohne Helm, mit Gruß, ohne Gruß. Zehn Minuten später hatte man sich ausgetobt, und das Motorrad stand unbeachtet da, bis die Herren aus dem Gasthof kamen und wieder abfuhren.
Die Frage wäre nun, was es für Führungskräfte von Einsatzorganisationen bedeutet, wenn etwas Ähnliches in ihrem „Beritt“ auftritt, also beispielsweise bei einem Fest. Dann ist es Zeit, Position zu beziehen und zu handeln. So etwas geht nicht im Bereich einer neutralen Einsatzorganisation.
Ein Maßstab für das Handeln von Führungskräften
Als Führungskraft muss ich mir dazu noch nicht einmal irgendwelche komplizierten Argumente zurechtlegen. Ich kann es mir einfach machen. Dazu muss ich nur an den Zweck meiner Organisation denken: Der Zweck meiner Organisation ist es, Leben zu retten, Gefahren zu beseitigen, Unfälle zu bergen, Feuer zu löschen usw. Dieser Zweck ist neutral, und ich muss als Vertreter der Organisation sowohl nach außen als auch nach innen neutral auftreten.
Wenn ich vom Zweck der Organisation her denke, dann leiten sich daraus bestimmte Werte und Ziele ab, wodurch wiederum ein Maßstab für das Handeln von Führungskräften und Kollegen bzw. Kameraden entsteht.
Wenn ich diese Vorstellung konsequent anwende, dann ergibt sich aus dem Zweck der Organisation (= Hilfe in Notlagen ohne Ansehen von Status, Hautfarbe usw.) ein gewisser Maßstab, eine gewisse „Ethik“, und diese Ethik hat einen Geltungsbereich (während des Einsatzes, in den Räumlichkeiten der Organisation, während Besprechungen, Diensten und anderen Zusammenkünften, auf Veranstaltungen, an denen man als Organisationsmitglied teilnimmt). Als Führungskraft kann ich nun einen „Bereich möglicher Einzelmeinungen“ vom „Geltungsbereich der Ethik der Organisation“ unterscheiden.
Wenn also jemand eine politische Einzelmeinung vorträgt, dann ist das erst einmal nicht schädlich. Im Gegenteil: Politische Diskussionen können und sollen stattfinden. Das gehört zur Demokratie. Führen immer wieder vorgetragene Meinungen aber langsam zur Spaltung der Gruppe oder gar zur Verminderung der Einsatzfähigkeit, dann muss ich als Führungskraft handeln.
Ein Beispiel:
In einer Feuerwehr gibt es ein aktives Mitglied, das sich immer wieder derart über Corona-Maßnahmen äußert („Ich glaube nicht, dass es dieses Virus gibt. Wer weiß, was die mit dem Mist bezwecken. Ihr lasst Euch alle schön manipulieren.“), dass einige Gruppenmitglieder es satt haben. Sie sind genervt, wollen von dem Thema nichts hören, sagen das dem Kollegen auch, dieser gibt aber keine Ruhe. Das Thema droht, die Gruppe zu spalten. Einige Kollegen haben dem Wehrleiter gesagt, dass sie keine Lust mehr haben, zum Dienst zu kommen, wenn der betreffende Kollege da ist. Was immer ihn so verbittert habe werden lassen — man wolle sich von einem Einzelnen nicht die Laune verderben lassen.
Was kann der Wehrleiter hier tun?
Er kann das Gespräch mit dem betreffenden Kollegen suchen. Er kann zuhören, und er kann den Kollegen bitten, die Äußerungen zu reduzieren oder ganz zu unterlassen. Er kann auch eine Aussprache mit der Gruppe organisieren, in der die Kollegen zum Ausdruck bringen, was sie an ihrem Kollegen schätzen und was nervt. Der Wehrleiter kann zudem das Miteinander stärken, indem er gemeinsame Aktivitäten organisiert, an denen der betreffende Kollege teilnimmt. Vielleicht muss er den betreffenden Kollegen auch einmal zu einer solchen Aktivität zuhause abholen, weil er von alleine nicht mehr kommen würde, nachdem er bei einer Aussprache eine „Breitseite“ bekommen hat. Vielleicht kommt der Kollege auch nicht zu einem Einzelgespräch. Dann kann der Wehrleiter noch bei ihm klingeln und das Gespräch suchen.
Das waren die netten Methoden. Wenn Schritte aus diesem eher weichen Repertoire nichts helfen, kann der Wehrleiter noch eine Ansage machen: „Ja, das kann alles sein. Als Feuerwehr sind wir eine Organisation, die einen bestimmten Zweck hat, und um diesen Zweck zu erfüllen, brauchen wir Zusammenhalt und müssen uns an Regeln halten. Du kannst Deine Privatmeinung haben. Ich bitte Dich, diese hier entweder zurückzuhalten oder so zu äußern, dass die Kameradschaft darunter nicht leidet. Du bist ein wichtiger Kamerad, und ich habe als Wehrleiter auf das Miteinander zu achten. Wenn es so weitergeht und sich nichts ändert, sehe ich das Miteinander in Gefahr.“
Wenn es um politisch-radikale oder gar rassistische Äußerungen geht, könnte die entsprechende „Ansage“ des Wehrleiters wie folgt lauten: „Als Feuerwehr sind wir eine Organisation, die einen bestimmten Zweck hat. Diesem Zweck ordnet sich, so lange Ihr hier seid, alles andere unter. Bei uns steht im Einsatz der Mensch im Vordergrund, der Hilfe braucht. Es gibt für uns im Einsatz keine Ungleichbehandlung. Deshalb haben solche Sprüche hier nichts zu suchen. Verstanden?“
An solchen Stellen kommt es meines Erachtens gar nicht so sehr auf kommunikatives Fingerspitzengefühl an, sondern eher auf den Mut und den Willen zu einer klaren Ansage. Sehr zugespitzt formuliert geht es darum, den Zweck der Organisation zu schützen und Mitgliedern nicht zu erlauben, ihre Privatmeinung über den Zweck der Organisation zu stellen. Der Organisationszweck steht — zumindest im Einsatz und eigentlich auch für die Dauer meiner Anwesenheit in der Organisation — immer über der einzelnen Person.
Wenn nun aber Organisationsmitglieder ihre eigenen Einstellungen für so wichtig halten, dass sie nicht darauf verzichten können, sie mitzuteilen, obwohl die Einstellungen geeignet sind, die Truppe zu spalten (erste Situation), oder sogar verfassungsfeindlich sind (zweite Situation), dann stellen sich diese Organisationsmitglieder quasi über die Organisation — und nehmen ggf. Nachteile für die Organisation in Kauf (bzw. schaffen diese sogar selbst!), deren Mitglied sie eigentlich sind. Einem Organisationsmitglied muss das nicht zwingend bewusst sein — einer Führungskraft sollte das jedoch bewusst sein, und zwar sowohl, was die eigenen Handlungen als auch die der zu führenden Organisationsmitglieder betrifft.
Noch ein Beispiel:
Wenn ich glaube, dass Masken gesundheitsschädlich sind, dann kann ich als einzelne Person, als Mensch das glauben. Aber wenn ich als dieser Mensch, der ich bin, für eine Hilfsorganisation arbeite, dann kann ich innerhalb des Geltungsbereichs der Regeln der Hilfsorganisation nicht verlangen, dass die Maskenpflicht infrage gestellt wird oder selbst keine Maske tragen. In der Praxis geschieht genau das dennoch oft genug — aber es ist im Grunde völlig widersprüchlich.
Eine Hilfsorganisation ist für Menschen da, muss also u.a. alles Mögliche für die Minimierung von Fremdgefährdungen durch die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun. Und selbst wenn eines Tages herauskommen sollte, dass Masken gesundheitsschädlich sind und die Corona-Ansteckungszahlen gar nicht verringern, müsste man, so lange diese Erkenntnis nicht einigermaßen unabhängig gesichert wäre, dennoch alles Mögliche für die Minimierung der Fremdgefährdung tun — also Masken tragen. Man kommt als Angehöriger einer Hilfsorganisation also nicht drumherum — zumindest so lange nicht, bis mindestens Dritte, also unabhängige, wahrscheinlich wissenschaftliche Instanzen die Gefährlichkeit von Masken feststellen UND die eigene Organisationsleitung diesen Erkenntnissen folgt und die hausinternen Regeln ändert.
Also muss man entweder das Lamentieren und Diskutieren lassen — oder aus der Erhebung der eigenen Meinung über den Organisationszweck Konsequenzen ziehen und die Organisation verlassen.
Wenn etwas ganz kontrovers diskutiert wird, muss man das ggf. so deutlich ansagen. Wenn die Privatmeinung wirklich so wichtig ist, dass man den Verbleib in der Organisation riskieren möchte, bitteschön. Dann hat man als Führungskraft die Beendigung der Mitgliedschaft einzuleiten.
Unterschiedliche Maßstäbe für Kameraden bzw. Kollegen und Führungskräfte: Die herausgehobene Rolle der Führungskraft
Wenn man konsequent vom Zweck der Organisation her denkt, hat man es als Führungskraft einfacher, Orientierung zu geben und Entscheidungen zu treffen. Man muss dann nicht jede neue Situation von Neuem analysieren, sondern man hat einen auf viele Situationen übertragbaren Maßstab. Allerdings gibt es bei der Anwendung des Maßstabs Unterschiede. Es ist etwas anderes, den Maßstab an Kameraden oder Mitarbeiter anzulegen als an Führungskräfte.
Dieser Unterschied wird am ehesten deutlich, wenn wir uns ein verhältnismäßig zugespitztes Beispiel vorstellen. Nehmen wir eine Demonstration, deren Redner das „System Bundesrepublik“ infrage stellen. Darf ein Kollege oder Kamerad auf eine solche Demonstration gehen? Ja, er darf. Das ist sein Recht, das ist vielleicht sein Interesse und möglicherweise auch seine Meinung. Und darf das eine Führungskraft? Ja, auch die Führungskraft darf das — ganz grundsätzlich darf sie das.
Aber ist es auch schicklich? Ist es vor dem Hintergrund ihrer Rolle als Führungskraft einer — neutralen! — Einsatzorganisation auch angemessen? Sind nicht Wehrleiter oder Rettungsdienstleiter Menschen, die eine, gesellschaftlich gesehen, allparteiliche Rolle spielen sollten?
Führungskräfte im Rettungsdienst und bei den meisten Feuerwehren sind, anders als Polizisten, keine Beamten. Sie unterliegen formal also nicht den durchaus hohen Maßstäben für Staatsbedienstete, wenn es um die Äußerung politischer Meinungen geht.
Wenn ich aber Führungskraft einer Organisation wie dem Rettungsdienst oder der Feuerwehr bin, bin ich nicht mehr nur Privatperson, sondern auch in gewissem Maße ein offizieller Vertreter einer an und für sich politisch neutralen Organisation. Also bin ich in eben jener gewissen Weise auch der Neutralität meiner Organisation verpflichtet — und zwar stärker als das einfache Organisationsmitglied. Als Führungskraft bin ich ja ein Vertreter meiner Organisation in einer herausgehobenen und — zumindest potentiell — auch öffentlichkeitswirksamen Rolle. Als ein herausgehobener Vertreter bin ich, zumindest teilweise, eine öffentliche Person, ein öffentlich wahrnehmbarer Vertreter einer an und für sich neutralen Organisation. Und als ein solcher bin ich zwar immer auch noch Privatperson und kann private Meinungen haben, aber ich muss beim Äußern dieser Meinungen auch immer mein zumindest potentiell öffentlichkeitswirksames Amt berücksichtigen.
Deshalb habe ich als Führungskraft einer Hilfs- oder Einsatzorganisation nichts auf Veranstaltungen zu suchen, in deren Rahmen das „System“ infrage gestellt oder gar angegriffen wird. Sonst würde ich ja quasi meine Privatmeinung über die Neutralität der Organisation stellen — das geht aber nicht, denn ich habe ja eingewilligt, in einer öffentlich relevanten, politisch aber neutralen Organisation eine Führungsposition zu bekleiden.
Damit ordne ich mich dem Zweck der Organisation so stark unter, dass ich meine private Meinung zumindest nicht öffentlich in Kontrast zur Neutralität der Organisation stellen kann.
Oder was würde die öffentliche Meinung sagen, wenn die Chefin eines Impfzentrums auf einer öffentlichen Veranstaltung von Querdenkern auftreten würde?
Jörg Heidig