Man kann die Ergebnisse der aktuellen amerikanischen Präsidentschaftswahl für einen Sieg der Demokratie und der Vernunft halten. Aber man kann sich auch fragen, wie es soweit kommen konnte. Im Grunde haben wir es mit einer „Spaltung der Welt“ zu tun. Wenn man alle Feinheiten und Geschmacksfragen weglässt, kommt man womöglich zu folgendem Gegensatz: Auf der einen Seite gibt es die, die an Rationalität (also begründbaren Aussagen) und an den entsprechenden Prozeduren (Demokratie und Wissenschaft) festhalten, und auf der anderen Seite gibt es jene, die sich „anders entscheiden“, die ihren Emotionen freien Lauf lassen und sich am „Establishment“ (in Amerika) oder „am System“ (in Deutschland) irgendwie „rächen“ wollen.
Grundsätzlich kann man in einer Demokratie davon ausgehen, dass fast alles „erlaubt“ ist. Aber angesichts der gegenwärtigen Spaltungen haben wir dann eben „die“, die an Rationalität festhalten und allzu schnell dabei sind, „jene“ zu belehren, wie unbegründet ihre „alternativen“ Fakten sind usw. — und „jene“, die sich, je mehr Belehrungen oder — im Falle von Corona — Maßnahmen oder andere „Gängelungen“ sie erleben, umso mehr abkehren. Interessant ist, dass das Rennen um die Präsidentschaft in den Vereinigten Staaten so knapp verlief. In Wahlmännern gesprochen, hat Biden klar gewonnen. Schaut man auf die Ergebnisse in den Bundesstaaten oder sogar auf die in den Counties, war das Ergebnis sehr knapp.
Nun gibt es eben „die“, die meinen, dass doch alles logisch sei. Und „jene“, die unterstellen, dass hier ganz andere Kräfte am Werk seien. Ich möchte in diesem Beitrag fragen, woher das kommt. Woher es kommt, dass sich Menschen entscheiden, anstatt in unsere „rationalen“, also personenunabhängigen und korruptionsarmen Regeln und Prozeduren einzuwilligen, sich mehr oder minder komplett verweigern und ihre Handlungen lieber mit — im Extremfall unwiderlegbaren, weil eben nicht rationalen — alternativen Fakten begründen.
Als Psychologe bin ich mit einer vergleichsweise schnellen Antwort dabei: Es ist der in Abhängigkeit gehaltene Geist, der glauben will. Aber langsam: Ist es wirklich so einfach?
Man stelle sich beispielsweise die Konflikte vor, die zwischen Vertretern einer eher „kalten“ rationalen Ethik und Anhängern „älterer“ Glaubenssysteme vor. Ich müsste mir beispielsweise den Vorwurf gefallen lassen, dass auch meine Argumente nur eine Frage des Glaubens sind — und ich hätte dem nur die Aneinanderreihung meiner Argumente entgegenzusetzen, irgendwelche „stärkeren Beweise“ hätte ich nicht, denn die Prozeduren zur Herstellung von Wahrheit und von Beweisen sind letztlich von Zustimmung bzw. Einwilligung abhängig.
Seitdem wir denken können, machen wir uns einen Reim auf die Welt
Einer hat eine Idee. Wenn sie gut war und geholfen hat, wird sie wiederholt. Wenn sie erfolgreich bleibt, wird sie irgendwann kaum noch oder gar nicht mehr infrage gestellt. Manchmal wird sogar eine Ideologie daraus, die — verbunden mit Macht — unter Umständen gar nicht mehr infrage gestellt werden kann. Keine Angst, die Zeit kommt, da sie dennoch infrage gestellt wird. Je nach dem kann so etwas auch konflikthaft oder blutig verlaufen. Die Geschichte der Menschheit ist voll von solchen Auseinandersetzungen.
Die Frage lautet, warum Menschen etwas glauben
Zunächst haben wir ja keine andere Möglichkeit, als uns einen Reim auf etwas zu machen, d.h. Begriffe für etwas zu finden. Wenn wir noch keine Begriffe für etwas haben, schaffen wir uns welche — zumeist auf der Grundlage dessen, was uns schon verständlich oder zugänglich ist. Wir verstehen die Phänomene, die uns begegnen, nicht etwa, wie sie sind, sondern wir beschreiben sie mit dem, was uns an Symbolen zur Verfügung steht. Ganz am Anfang haben wir, wenn wir etwas nicht begreifen konnten, die Dinge so begriffen, als ob sie wie wir seien. Magisches Denken besteht letztlich aus der Unterstellung von Absichten. Der Fels, der auf mich herabstürzt, tut das, weil er mich treffen will oder weil ich es verdient habe. Dem Felsbrocken ist das herzlich egal — er stürzt einfach herab. Ich bin zufällig im Weg.
Unser Fehler ist, dass wir unterstellen, dass allem möglichen ein Sinn innewohnt
Nehmen wir Corona — oder davor die Pest oder andere, für uns schwer oder kaum kontrollierbare Phänomene: Für viele Menschen kann so etwas nicht einfach passieren. Es muss ein Plan dahinterstecken. Das Virus hat ein Geheimdienst geschaffen und absichtlich freigesetzt, oder die Pandemie wurde bewusst ausgelöst, um von anderen Dingen abzulenken — oder im Falle der Pest: Es ist gottgewollt. Und so weiter…
Wir sind Teil der Natur, und also können uns natürliche Dinge (auch unkontrollierbare) passieren
Aber genau jener Mechanismus, der auch zum Glauben geführt hat, nämlich die Unterstellung einer Absicht als Erklärung dafür, was gerade passiert, ist einfacher, als hinzunehmen, dass etwas passieren kann, das wir uns nicht erklären können oder das wir nur schwer in den Griff bekommen.
Eigentlich haben wir eine Antwort auf Probleme wie Corona
Vermittels wissenschaftlicher Methoden machen wir solche Phänomene erst beschreibbar und suchen dann nach Lösungen. Doch es gibt — heuer im Zusammenhang mit Corona sehr gut zu beobachten — eine gewisse Lust, genau diesen Methoden und der mit ihnen einhergehenden Unsicherheiten mit der Sicherheit magischen Denkens entgegenzutreten.
Woher kommt diese Lust?
Es ist verdammt schwer, Unsicherheit zu ertragen. Wenn zur Unsicherheit der Situation noch ein starker Affekt hinzutritt — und aus der Psychologie wissen wir, dass die Ursache für einen Affekt nicht zwingend etwas mit den Objekten zu tun haben muss, gegen die sich der Affekt richtet (Verschiebungen, Projektionen usw.) — wird die Dynamik virulent. Ich bin quasi schon „geladen“, weil ich mich unterlegen fühle oder nicht so viel vom Kuchen abbekomme wie andere oder, oder. Und nun tritt eine Situation ein, die unwägbar ist oder sich schwer kontrollieren lässt, und in der ich mich, zumindest im Falle von Corona, auch noch durch Maßnahmen „von oben“ gegängelt fühle. Was liegt dann näher, als die Komplexität durch (rational unwiderlegbare) alternative Fakten zu reduzieren — und durch entsprechend energische Artikulation meiner Gedanken auch noch meinen Gefühlen Luft zu machen? Und wenn ich mit meinen Gedanken nicht alleine bleibe und eine gewisse „kollektive Dynamik“ entsteht, dann erlebe ich auch noch die Bestärkung, die durch die mit Gruppendynamik einhergehende Homogenisierung und Polarisierung erzeugt wird. Das ist dann das, was manche einen „inneren Parteitag“ nennen.
Im gefährlichen Fall richtet sich die kollektive Hoffnung auf „den einen“
Wenn das Vertrauen in die bisweilen langwierigen und kompromisslastigen Mechanismen der Demokratie nachlässt und sich die Zweifel am Bestehenden mit Unsicherheit und Ohnmachtsgefühlen verbinden, wächst der Wunsch nach einem Befreiungsschlag oder nach Rache. Erst handelt es sich vielleicht um Protest, dann um immer lautere Forderungen — die am Ende „umkippen“ und sich als „quasi-kompensatorische Hoffnungen“ auf eine Person richten können, die wie eine „Antwort auf alle Fragen“ wirkt und die Lust auf Selbstaufwertung bzw. das Bedürfnis nach Rache symbolisiert.
„Der eine“ wird, anstelle man sich um die eigenen Bedürfnisse kümmert, „stellvertretend überhöht“
Das Paradoxe daran ist, dass sich durch diesen Vorgang das Spektrum möglicher Lösungen auf die Breite einer Schießscharte verengt. „Der eine“ soll dann richten, was „die vielen“ nicht hinzubekommen scheinen. Sowohl Im Falle der Demokratie als auch bei der Wissenschaft handelt es sich letztlich um mehr oder weniger festgelegte Prozeduren zur Integration verschiedener Sichtweisen (Demokratie) und Erfahrungen (Wissenschaft)— und „der eine“ soll nun allein besser wissen, was die vielen an den Prozeduren Beteiligten nicht wissen? Mitnichten.
Aber freilich: Prozeduren können verkrusten und ihre Vertreter können dekadent werden. Dafür lassen sich nicht wenige Belege finden. Manche Gremien können Inkompetenz regelrecht erlernen. Aber diese Dinge werden, auch wenn es manchmal lange dauert, irgendwann durch die Prozeduren selbst verändert (jemand geht in Rente, jemand wird abgewählt usw.). Langfristig sind die Prozeduren immer klüger als autoritäre Einzelpersonen.
Und noch ein weiteres Paradox kommt hinzu: Viele ahnen sogar, dass „der eine“ gar nicht alles wissen oder richten kann, aber der Affekt ist oft so stark, dass man sich sehenden Auges dennoch lieber für „den einen“ entscheidet, anstatt die langwierigen (und oft auch ungerechte Ergebnisse erzeugenden) Prozeduren länger zu ertragen. Zumal die Vertreter der Prozeduren in vielen Fällen ihren Beitrag dazu leisten, dass man wenig Lust hat, sich den Wirkungen ihrer Handlungen auszusetzen — eine gewisse Dekadenz kann man etablierten politischen Netzwerken ja nicht absprechen. Aber nochmal: Langfristig sind die Prozeduren immer klüger als autoritäre Einzelpersonen.
Zusammenfassung
Eigentlich seit der Renaissance, aber spätestens seit der Aufklärung haben wir eine Chance. Die Chance besteht darin, sich der Welt anzunähern, wie sie ist, anstatt wie sie sein soll. Offensichtlich gibt es gerade eine wachsende Zahl an Menschen, denen es einen gewissen „inneren Parteitag“ bedeutet, nicht an den — kollektiv zustimmungsfähigen?! — Prozeduren teilzuhaben (Demokratie und Wissenschaft), sondern „alternativen Fakten“ aufzusitzen. Dieses Phänomen ist mit rationalen Mitteln kaum zu erklären, wird aber verständlich, wenn man den Begriff des Affekts hinzuzieht und einsieht, dass dieser so stark sein kann, dass das Verlassen des „rationalen Korridors“ und das — oft unbewusste, aber in vielen Fällen leider auch bewusste, mutwillige — Betreten des „irrationalen Terrains“ eine Art kompensatorischer Bedürfnisbefriedigung bedeutet. Viele Menschen wollen glauben, weil das einfacher ist als die Einsicht zu ertragen, dass uns manche Dinge (wie bspw. Corona) passieren können, weil sie eben passieren — und nicht, weil dem Geschehen ein tieferer Sinn oder eine Absicht innewohnt.