Stichwort „Umweltsau“: Wir segeln in flachen Gewässern und zerlegen uns dabei gegenseitig. Aber die Menschen sind nur ein Teil des Problems: Algorithmen haben keine Ethik und zerstören weitgehend unbemerkt die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen.
Eigentlich sollte alles demokratischer werden
Es ist noch gar nicht solange her, da haben viele Intellektuelle, Wissenschaftler oder Journalisten große Hoffnungen in die Digitalisierung der öffentlichen Kommunikation gesetzt. Es werde demokratischer zugehen, und Beteiligung werde einfacher und möglicher. Gleichzeitig könne man nicht mehr alles kontrollieren, und genau darin liege eine Chance und so weiter. Und „irgendwie“ stimmt es ja auch — man kann mehr oder minder alles sagen, und was gesagt wird, ist kaum zu kontrollieren. Aber die Wirkung ist nicht die erhoffte, sondern eine gegenteilige: Ein großer Teil der Menschen hält sich zunehmend zurück — aktuellen Umfragen zufolge hat die Mehrheit der Deutschen (Allensbach für Deutschland: 78 Prozent; Infratest für Sachsen: 69 Prozent; Shell-Jugendstudie: 68 Prozent) das Gefühl, ihre Meinung zu bestimmten Themen nicht offen oder nur mit Vorsicht äußern zu können.
Was ist da los?
Mir ist kürzlich Folgendes passiert: Ich habe einen Text über ein in der Psychologie durchaus kontrovers diskutiertes Thema geschrieben mit dem zugespitzt formulierten Titel „Wer sich selbst sucht, findet nichts“. Es geht nicht darum, hier die einzelnen Thesen und Argumente wiederzugeben — man kann dazu stehen, wie man will, und ich sage in dem Artikel, dass ich „recht vorläufig, mitunter thesenhaft“ formuliere, dass neuere Forschungen Fragen aufwerfen, und ich sage auch: „Angenommen, an den soeben dargestellten Zweifeln an der Existenz eines ‚Selbst‘ ist etwas dran…“ Ich habe den Artikel auf meinen Blog gestellt und in einigen Gruppen mit passendem fachlichen Schwerpunkt auf einer sozialen Plattform verlinkt. Im Anschluss kam es u.a. zu der folgenden Reaktion:
„Tut mir leid, aber ich finde deinen Artikel nicht gut. Vor allem halte ich es für bedenklich, dass du Dinge behauptest wie zB, dass sich ‚die Wissenschaft‘ wohl darüber einig wäre, es gäbe kein Selbst, ohne dass du das mit entsprechenden Literaturangaben belegst. Auch, dass die gesamte Psychologie auf den Prüfstand gehöre. (…) Du stellst Behauptungen auf und übergeneralisierst. ‚Wer nach sich selbst sucht, findet am Ende nichts‘. Das mag vlt auf dich zutreffen und du hast da halt deine eigene Haltung zu. So be it. Aber, wenn die eigene Meinung hier als Fakten hingeschrieben werden, dann entbehrt das jeglicher wissenschaftlichen und kritischen Grundlage. Mir ist das zu unreflektiert und gepaart mit Halbwissen.“
Nun ist das sicher kein Shitstorm und an und für sich kaum der Rede wert. Freilich habe ich Quellen angegeben, und freilich habe ich nur von Teilen der Psychologie gesprochen usw. Ich will die vorgetragenen Behauptungen — Argumente finden sich in der Einlassung kaum — hier nicht entkräften; ich denke, das tun sie selbst. Interessant sind allerdings zwei Dinge — erstens meine innere Reaktion darauf und zweitens die Unterstellung, ich würde meine Meinung als Fakten darstellen.
Meine Reaktion: Ich habe der Autorin dieser Worte geantwortet, aber ich habe es nicht gern getan. Was in mir vorging, ließe sich vielleicht als Ratlosigkeit oder Hilflosigkeit beschreiben — nach dem Motto: Was soll ich da noch sagen? Was kann man jemandem antworten, die oder der einen derart „verreißt“, und zwar mit Hilfe mehr oder minder haltloser Unterstellungen?
Meinung als Fakten: Anhand dieser Unterstellung wird deutlich, was aus der Hoffnung auf mehr Demokratie durch die „sozialen“ Teile des Netzes geworden ist. Die Folgen wären bei Weitem nicht so gravierend, wenn es sich „nur“ darum handelte, dass mehr behauptet und weniger gesagt und begründet würde. Das auch. Aber die eigentliche Wirkung greift viel tiefer.
Wenn ich glaube, dass etwas, das jemand anderes sagt, falsch ist oder der Ergänzung bedarf o.ä., dann kann ich mir überlegen, ob ich das Gesagte hinterfrage und meinerseits mit Argumenten belege. In bestimmten Bereichen (etwa vor Gericht oder in der Wissenschaft) brauche ich eine entsprechende Legitimation, um überhaupt hinterfragen zu dürfen. Auf den sozialen Plattformen brauche ich in der Regel keinerlei Legitimation. Dort legitimiere ich mich selbst — und werde anschließend durch Likes o.ä. „quasi-legitimiert“. Angenommen ich komme zu dem Schluss, dass ich das Gesagte hinterfragen möchte, weil es aus meiner Sicht unvollständig ist oder gravierende Fehlinterpretationen enthält, dann werde ich versuchen, das in Worte zu fassen und zu begründen. Voraussetzung wäre natürlich, dass ich (a) Behauptungen von Argumenten unterscheiden kann und dass ich (b) überhaupt argumentieren will.
Ganz ähnlich ist das in Konflikten: Wenn mir etwas nicht passt, kann ich es sagen. Tritt keine Änderung ein oder will die jeweilige Gegenseite nichts von Verhandlungen wissen, kann ich meiner Position öffentlich Gehör verschaffen, nach Gleichgesinnten und Unterstützern suchen, Demonstrationen organisieren usw. Aber ich werde mich dabei an bestimmte Regeln halten und, falls gar nichts mehr geht, die „Ersatzkommunikation“ einschalten, sprich einen Titel erwirken, klagen, Gutachten einfordern, die Polizei rufen, wenn ich mich bedroht fühle o.ä. Ich werde aber nicht selbst Hand anlegen, denn das wäre strafbar. Ich kann also frei leben, und wenn ich meine Freiheit eingeschränkt sehe, kann ich die betreffenden Entscheidungen oder Handlungen hinterfragen und die Wahrung meiner Rechte einfordern und einklagen.
Das Recht zur Hinterfragung ist ein zentraler Bestandteil unserer Freiheit.
Was passiert aber, wenn sich die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, ändert? Was passiert, wenn wir angreifen, weil wir es können, und nicht, weil wir etwas zu sagen haben? Was passiert, wenn wir das Recht zur Hinterfragung zu oft strategisch benutzen, um Vorteile zu generieren? In manchen Bereichen, etwa unter Juristen oder auch in der Politik, ist strategische Kommunikation relativ normal. Aber spätestens im juristischen Bereich folgt die Kommunikation auch strengen Regeln.
Was ich zunehmend beobachte, ist die Hinterfragung der Gegenseite und die anschließende Rechtfertigung der eigenen Argumente (so überhaupt vorhanden) durch Entziehung der Legitimation der anderen Seite. Im obigen Beispiel unterstellt mir die Kritikerin letztlich, ich arbeitete nicht wissenschaftlich (keine Belege, die „gesamte Psychologie“ gehöre auf den Prüfstand, Meinung als Fakten darstellen usw.). Es gibt in ihrem Beitrag kein einziges inhaltliches Argument, aber eine ganze Reihe von Unterstellungen, die nicht belegt werden. Mit diesen Unterstellungen versucht sie, zumindest meinen Worten, wenn nicht mir als Wissenschaftler, die Legitimation zu entziehen.
Diese „Taktik“ findet sich auch an anderen Stellen, wobei ich vermute, dass es sich nicht immer um eine bewusste Taktik handelt, sondern oft schlicht um eine mehr oder minder gewohnte Vorgehensweise, weil man sich bzw. den eigenen Standpunkt im Recht wähnt. Im obigen Beispiel könnte die Annahme hinter dem „sich im Recht wähnen“ etwa lauten: „Wie kommt der darauf, dass es so etwas wie ein Selbst gar nicht gibt?! Das ist ein zentraler Begriff, und wenn schon nicht in der gesamten Psychologie, dann doch zumindest in dem Bereich, der sich als Geistes- und nicht als Naturwissenschaft versteht!“ Dass es ja gerade das Element einer freien Wissenschaft ist, dass man zu jeder Zeit alles hinterfragen kann, dazu aber auch Belege und Argumente liefern muss, wird von der oben zitierten Kritikerin einfach ignoriert — interessanterweise mit der Behauptung, ich würde nicht wissenschaftlich arbeiten. Nun scheint die Autorin der oben zitierten Worte vor dem Hintergrund dessen, was in dem Netzwerk an öffentlichen Informationen zugänglich ist, alles andere als ein „Troll“ zu sein. Was mich wieder zu der eingangs gestellten Frage führt, was da eigentlich los ist.
Bislang arbeite ich mich an einem marginalen Beispiel ab, das wie gesagt eigentlich nicht der Rede wert ist. Aber das Beispiel zeigt beinahe prototypisch die Struktur vieler heute geführter Auseinandersetzungen.
Nehmen wir das jüngste Beispiel von der Seniorin als „Umweltsau“. Irgendjemand hat einen Kinderchor ein Lied singen lassen. Wer das ursprünglich einmal einfallsreich oder cool fand — ob die jungen Menschen selbst oder jemand mit „Programmverantwortung“ —, ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist die Dynamik der Auseinandersetzung. Ja, man kann so etwas einerseits geschmacklos finden. Und ja, man kann es andererseits als etwas ansehen, was junge Menschen bisweilen machen. Aber müssen erst ein Intendant und gar ein Ministerpräsident zu Wort kommen? Was ist da los?
Ich vermute, dass die Beteiligten sich gegenseitig (mehr oder minder unbewusst) die Legitimation absprechen. Aus Seniorenperspektive: „Wer seid Ihr denn, dass Ihr uns so nennen dürft? Lebt Ihr erstmal und kriegt irgendwas besser hin als wir, und dann reden wir.“ Aus der Perspektive junger Menschen: „Weil Ihr so gelebt habt und noch lebt, ist unsere Zukunft zumindest belastet, wenn nicht gänzlich ungewiss.“ Beide Standpunkte sind jeweils für sich nachvollziehbar, und es gäbe eigentlich keinen Grund, so darüber zu diskutieren. Ja, es ist eine Geschmackssache, und für Stil kann man kritisiert werden — aber in der Sache? Was ist der Punkt? Dass es eine Beleidigung ist? Es werden tausenderlei solcher Dinge gesagt und geschrieben, wenn der Tag lang ist. Warum mussten erst die denkbar höchsten Instanzen etwas dazu sagen?
Der Grund ist einfach: Wenn wir uns (oft ohne es zu merken, denn wir sind ja jeweils die „Guten“) gegenseitig die Legitimität absprechen, verlieren wir das Gemeinsame, das uns Verbindende. Dann haben wir keinen Grund mehr, auf dem wir stehen, auf dem wir leben und unsere Zukunft gestalten. Dann müssen tatsächlich erst „große Figuren“ auftreten, die uns daran erinnern, worum es eigentlich geht. Der gemeinsame Respekt vor Autoritäten ist dann das, was noch zusammenhält. Aber ich denke, dass wir schon eine ganze Weile dabei zuschauen, wie auch solche „Autoritäten“ ihre Legitimation bzw. ihren Rückhalt verlieren.
Nun aber mal langsam, könnten Sie jetzt vielleicht entgegnen und fragen, was denn diese banale Geschichte mit dem Großen und Ganzen zu tun hat. Von meinem geschätzten Kollegen Christoph Meißelbach stammt die Überlegung, ob wir es bei der Freiheit nicht mit einer Art umgekehrter U‑Funktion zu tun haben. Unter den Umständen eines totalitären Systems wird weniger Kontrolle und Einschränkung als positiv empfunden. Aber gibt es ggf. den Moment, an dem noch weniger Konventionen nicht mehr „mehr Freiheit“ bedeuten? Oder bewirken zu wenige Konventionen in einem Gemeinwesen vielleicht sogar das Gegenteil — werden die Freiheitsgrade wieder geringer, wenn die Gemeinsamkeiten fehlen?
Wir verzeichnen mittlerweile gesellschaftliche Spaltungen, die so tief reichen, dass viele Zeitgenossen nach wie vor erschrocken sind, wie das so schnell gehen konnte. Ich denke, dass wir es hier mit einer Wechselwirkung der folgenden Faktoren zu tun haben (die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; für Hinweise auf weitere Faktoren bin ich dankbar!):
- Die Erlebnisgeneration stirbt aus: Es gibt kaum jemanden, der noch unter uns ist und uns jene Dinge schildert, die passieren können, wenn man die Spaltungen zu weit treibt. Was wir hingegen tun, ist uns gegenseitig die Legitimität abzusprechen. Die Binnendifferenzierung gesellschaftlicher Spektren geht schon verloren, bevor die Auseinandersetzung überhaupt beginnt.
- Wir sprechen uns mitunter sogar ab, politisch überhaupt legitimiert mitwirken zu können: Wie soll man denn mit einer Partei umgehen, mit der umzugehen vielleicht nicht einfach ist, aber die nun einmal da und politisch legitimiert ist? Was gewiss nicht hilft, ist das Label „Nazi“ so inflationär zu verwenden, wie das in den vergangenen Jahren getan wurde.
- Algorithmen haben keine Ethik, und wir bald auch nicht mehr: Der Grund für die Spaltungen liegt keineswegs darin, wie manche behaupten, dass man sich nicht äußern könnte. Es gibt vielmehr bestimmte Äußerungen, denen man die Legitimität abspricht, worauf dann ggf. mit „Lügenpresse“ reagiert wird, worauf dann wieder mit Demokratisierungsprogrammen und anderen Belehrungsformen reagiert wird usw. Die Dynamik der Auseinandersetzungen wird aber nicht nur durch die handelnden Personen befeuert, sondern auch und vor allem durch Algorithmen. Die Hoffnung auf mehr oder direktere Demokratie war eine schöne Illusion, aber das Gegenteil ist der Fall. Wir verzeichnen mehr Gemaule und mittlerweile tief greifende gesellschaftliche Spaltungen, die durch die netzbasierte Kommunikation immer weiter vertieft werden. Aber das ist, so fürchte ich, weniger ein Problem menschlicher Handlungen als vielmehr ein Problem der Konditionierung oder Überformung menschlicher Handlungen durch Algorithmen. Oder differenzierter formuliert: Es ist ein Problem der von Algorithmen überformten Interaktion zwischen Menschen und der Steuerung bzw. Weiterentwicklung der Algorithmen durch ihre Programmierer. Die Programmierer haben, sicher auch, aber eben nicht zwingend die Demokratie auf dem Schirm, sondern es geht auch um kommerzielle, marktforscherische, psychologische usw. Interessen der Eigentümer und Macher der sozialen Plattformen.
Es nutzt meines Erachtens deshalb wenig, gegen die Verrohung der Sitten im Netz anzuschreiben. Wenn man sich selbst korrekter verhält als andere, heißt das nicht, dass das auch einen Effekt hat, denn es sind letztendlich die Algorithmen, die vorgeben, was eigeblendet wird, Klicks erhält usw. Am Ende sind es Maschinen. Und so lange die Menschen hinter den Maschinen nichts verändern wollen, bleibt alles, wie es ist.
Wir segeln in flachen Gewässern. Die etablierteren Medien passen sich langsam an, hecheln hinterher. Dabei ist es längst vorbei. Dagegen anzukämpfen und sich politisch korrekt zu verhalten, ist wie gegen Windmühlen zu kämpfen. Die einen treiben, produzieren, verdienen Geld, die anderen biedern sich an.
Was kann man tun? Nicht mitmachen? Sich nicht zu beteiligen wäre gleichbedeutend mit Selbstmarginalisierung bzw. Selbstvergestrigung. Auf eine „Kultur“ oder auf Einsicht hoffen? Eben nicht. Das niveauvollere Geschreibe geht unter, wird übertönt. Und warum? Weil die Algorithmen so sind, nicht weil es so viele Trolle gibt. Oder warum sonst sind vergleichsweise wenige Trolle so omnipräsent?
Die Algorithmen scheinen aufmerksamkeitspotentialreiche — und damit oft: polarisierende — Beiträge zu verstärken und damit Spaltungen zu befördern. Das nivelliert zwar Hierarchien, indem etwa frühere Institutionen oder „Meinungsinstanzen“ in ihrer Wirksamkeit beschnitten werden, aber es führt nicht zu mehr Demokratie, sondern eher zu einer potentiell grundsätzlichen Hinterfragung jeder Äußerung — und das m.E. häufiger mit negativen als mit positiven Intentionen und Wirkungen.
Haben sich die gesellschaftlichen Konventionen früher aus der Interaktion zwischen Menschen ergeben, und hat die dadurch entstehende Macht mitunter fürchterlich auf die Menschen zurückgewirkt (Stichwort: totalitäre Systeme), so haben wir es heute mit einer neuen Dimension zu tun, die ebenfalls — und zwar für den Einzelnen ebenso unbemerkt wie wirksam — auf den Menschen zurückwirkt. Es sind ja Menschen, die die Interaktionen in den sozialen Netzen produzieren, aber die Mechanismen der Netze wirken auf die Nutzer zurück. Sie wählen aus, formen und verändern Gewohnheiten und haben so einen kaum merklichen, aber massiven Einfluss auf unser Kommunikationsverhalten.
Wenn Medien die „vierte Gewalt“ im Staate sind (oder waren?), so dürfen wir getrost davon ausgehen, dass wir es mit einer „fünften Gewalt“ zu tun haben, die sich zwar schon auswirkt, aber die sich noch nicht regulieren (lassen) will — und die, so will ich meinen, auch (noch) gar nicht weiß, wie sie sich regulieren könnte — oder lassen könnte, wenn sie überhaupt wollte.