Stellen Sie sich folgende Situation vor: Eine Vorgesetzte gibt einem ihrer Mitarbeiter Feedback. Zu diesem Feedback gehören positive, aber auch kritische Dinge. Die Vorgesetzte erinnert sich an ein Seminar. In diesem Seminar war davon die Rede, dass die relativ bekannte „Sandwich-Technik“ — man beginne mit etwas Positivem, komme dann zur Kritik, formuliere auf der Grundlage der Kritik einen Wunsch und schließe das Gespräch dann wiederum positiv ab — mitunter dazu führe, dass die Kritik bzw. der Wunsch mehr oder minder überhört wird, weil das Gespräch ebenso positiv beginne wie es aufhöre, und weil deshalb die Kritik in der Mitte weniger Beachtung finde. Die Vorgesetzte will es klarer machen und lässt keinen Zweifel daran, dass sie den Mitarbeiter wertschätzt, aber sie äußert eben auch Kritik und formuliert ihre Erwartungen klar. Das Gespräch endet mit einer konkreten Formulierung der Erwartungen der Vorgesetzten.
Stellen wir uns des Weiteren einmal den Fall vor, dass sich in der Folge nicht viel ändert. Nach einer Weile lädt die Vorgesetzte den betreffenden Mitarbeiter erneut ein und wiederholt ihre Kritik. Aus der Erwartung wird diesmal eine Aufforderung. Angenommen, es passiert wiederum wenig. Die Vorgesetzte spricht es ein drittes Mal an — und dann gibt sie irgendwann, ohne es so recht bewusst zu registrieren, innerlich irgendwie auf. Als es zu einer Situation kommt, in der es dringenden Handlungsbedarf gibt, geht die Vorgesetzte zu einer Kollegin aus ihrem Team und bittet diese, sich darum zu kümmern. Die betreffende Kollegin nickt, sagt aber: „Eigentlich ist doch der Kollege dafür zuständig.“ Darauf die Vorgesetzte: „Ja, ich weiß, aber er macht es ja nicht.“
Was hat die Vorgesetzte damit — wahrscheinlich irgendwie unbeabsichtigt; sie hat die Gespräche ja geführt, und in diesem konkreten Fall ging es darum, die sprichwörtliche Kuh schnell vom Eis zu bekommen — bewirkt? Die Vorgesetzte hat einen „Bypass“ um die Verantwortung des Kollegen herum gelegt.
Was haben die Beteiligten gelernt?
Die Vorgesetzte: „Endlich kümmert sich jemand um die Sache.“
Der betreffende Kollege (unbewusst oder bewusst): „Ich komme durch, wenn ich keine Verantwortung übernehme.“
Die angesprochene Kollegin: „Ich bin ja froh, dass meine Vorgesetzte mir vertraut und mich um solche Dinge bittet, aber eigentlich mache ich mich hier zum Pampel und sorge dafür, dass mein Kollege nicht das machen muss, wofür er eigentlich bezahlt wird.“
Ein weiteres Beispiel: Eine Wohnbereichsleiterin kommt zu ihrer Pflegedienstleitung und beschwert sich händeringend über die neue Azubine. Sie sei manchmal unpünktlich, hänge oft am Handy, poste Instagram-Stories mit Bewohnern auf den Videos, sehe die Arbeit oft nicht, arbeite insgesamt langsam und sei montags oft krank. Man habe schon versucht, Gespräche zu führen, aber die Gespräche hätten keine Veränderung der Lage gebracht. „Ja, ich weiß“, sagt die Pflegedienstleiterin, und sie fügt hinzu: „Aber sei froh, dass wir sie haben.“
In beiden Fällen haben unmittelbare (Beispiel 1) oder indirekte (= übergeordnete; Beispiel 2) Vorgesetzte einen effektiven „Bypass“ gelegt: Da ist jemand eigentlich für etwas verantwortlich, macht es aber nicht, und das Umfeld drumherum passt sich an (Beispiel 1), oder da ist jemand, die nicht tut, was von ihr erwartet wird, und die dazu wiederholt aufgefordert wird, aber spätestens dann, wenn es um Konsequenzen geht, passiert… nichts (Beispiel 2).
Beides sind prototypische Fälle von Bypässen in Organisationen.
Bis zu einem bestimmten Grad sind Bypässe normal bzw. nicht zu verhindern. Bspw. ist eine Führungskraft bei der einen Person toleranter als bei einer anderen Person — und so weiter. „Sympathie führt mit“, könnte man sagen. Aber jenseits „normaler“ und deshalb tolerierbarer Ausprägungen dieses Phänomens nehmen Bypässe manchmal Dimensionen an, welche die Effektivität einer Organisation nicht nur in einem „irgendwie üblichen“ Maße reduzieren, sondern die Leistungsfähigkeit der Organisation in signifikantem Maße einschränken.
Spätestens dann, wenn eine Person ihre eigenen Belange über die des Funktionierens der ihr Arbeit gebenden Organisation stellt, und Führungskräfte dies nicht eskalieren (Beispiel 1) oder höher gestellte Führungskräfte die Eskalation verhindern (Beispiel 2), ist es höchste Zeit, etwas zu ändern.
Es ist ganz normal, dass in einer Organisation Gewohnheiten entstehen. Aus (manchen) Ideen werden Erfolge, aus bleibenden Erfolgen werden Gewohnheiten, aus Gewohnheiten werden Selbstverständlichkeiten usw. Kultur ist der Besitz einer Gruppe, ist das, was innerhalb dieser Gruppe selbstverständlich ist, ganz gleich, ob es sich um ein Team, ein ganzes Unternehmen, eine Region oder ein Land handelt. Auf jeder dieser Ebenen gibt es Selbstverständlichkeiten.
Aber Gewohnheiten entstehen nicht nur im erwünschten, irgendwie für die Organisation „effektiven“ Sinne. Gewohnheiten entstehen auch im unerwünschten Sinne — jemand versucht etwas (Unterlassen eingeschlossen), jemand anderes „ermöglicht“ es (u.a. auch dadurch, nicht zu handeln, bspw. etwas nicht zu eskalieren). Auch daraus werden Muster, später Gewohnheiten und irgendwann Selbstverständlichkeiten (bspw. so genannte „Komfortzonen“). Wie alle Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, werden auch Komfortzonen verteidigt.
Der beste Weg, einen Bypass zu verhindern, wäre natürlich, ihn nicht erst entstehen zu lassen. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist Klarheit — bei den eigentlichen Aufgaben ebenso wie in der Verantwortung/Zuständigkeit und in der Kommunikation. Aber so einfach ist es in der Realität oft nicht. Bypässe entstehen mit der Zeit und werden oft erst bemerkt, wenn sie eine gewisse Intensität erreicht haben.
Im Umgang mit Bypässen ist Konsequenz gefragt. So könnte es zum Beispiel helfen, die Wohnbereichsleiterin aus Beispiel 2 zu ermutigen, ihre Erwartungen noch klarer auszusprechen und konkrete Ziele zu vereinbaren. Sind die Ziele zum Zeitpunkt X nicht erreicht, leitet man die nächste Eskalationsstufe ein und stellt, sollte das wiederum keine Veränderung bewirkt haben, die (einvernehmliche) Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Aussicht. Solche Optionen haben natürlich zur Voraussetzung, dass die jeweils vorgesetzte Person bereit und willens genug ist, die Angelegenheit selbst konsequent zu behandeln und im Bedarfsfall an die vorgesetzte Ebene zu eskalieren — und dass die wiederum vorgesetzte Person ihrer nachgeordneten Ebene genug Rückhalt gibt und im Eskalationsfall wiederum selbst bereit und willens genug ist, die Sache konsequent anzugehen, um organisationale Bypässe auf einem Minimum zu halten.
PS: Wie eine Eskalation in folgerichtigen Stufen aussehen kann, beschreibt dieser Beitrag am Beispiel des Umgangs mit Grüppchenbildung. Und wie sich die Rolle und die Verantwortung einer Führungskraft aus dem Zweck der Organisation ergeben, wird in diesem Text beschrieben.
Abbildung: Henry Töpfer