Teil 1: Enttäuschungen
Manchmal frage ich mich, ob ich nicht mehr von den Menschen lerne, mit denen ich arbeite, als diese aus der Zusammenarbeit mit mir. Kürzlich gab es eine Supervisionssitzung, nach der diese Frage wieder einmal sehr deutlich vor mir stand. Es war die allererste Supervision mit einem Familienhelferteam, und ein Teammitglied formulierte die Frage, wie man als Helferin oder Helfer mit Enttäuschungen umgehen könne.
Eine erste Antwort auf die Frage nach dem ganz praktischen Umgang mit Enttäuschungen verbirgt sich in einem Wortspiel: Eine Enttäuschung ist immer auch eine Ent-Täuschung.
Wo eine Enttäuschung passiert, muss es vorher eine Täuschung gegeben haben
Eine Täuschung wiederum kann von anderen oder durch die ent-täuschte Person selbst verursacht worden sein. Im Helferberuf können sich mindestens folgende Täuschungen ergeben:
Erstens können mich meine Klienten täuschen, indem sie bspw. einen Hilfebedarf benennen, diesen aber unbewusst nicht ernst meinen. Unbewusst wäre eine Täuschung dann, wenn Klienten etwa unter einer Problemlage leiden, auf eine paradoxe Weise aber dennoch einen Gewinn aus der Lage ziehen („Symptomgewinn“).
So wird man sich, wenn man helfend tätig ist, immer wieder fragen, warum Menschen in bestimmten Lagen verharren, ohne diese zu verändern, obwohl damit Leid verbunden ist: „Ich will mich trennen. Ich leide unter meiner Ehe. Helfen Sie mir bitte“, mag eine nicht untypische Formulierung lauten. Doch so viel man auch darüber sprechen und daran arbeiten mag — in manchen Fällen ändert sich nichts.
Hier ist die Frage zu stellen, welche Motive oder Umstände dafür sprechen, sich trotz des artikulierten Leidens und trotz des zum Ausdruck gebrachten Wunsches NICHT zu trennen. Oft reagieren Klienten auf diese Frage verwirrt oder gar angegriffen: Man wolle sich ja trennen, aber jetzt noch nicht oder unter diesen Umständen nicht oder erst, wenn… Und so weiter.
Wenn es möglich ist, die dahinter liegenden Persönlichkeitsmerkmale, Erfahrungen, Muster, Motive usw. zu erkunden, nähert man sich der Ursache für die Täuschung. Jeder — in diesem Fall unbewussten bzw. unbeabsichtigten — Täuschung geht auch immer eine Selbst-Täuschung voraus. Es gilt hier herauszufinden, an welcher Stelle und warum sich Klienten selbst belügen.
Zweitens können mich meine Klienten ganz bewusst täuschen, indem sie den Hilfebedarf zwar benennen, aber nicht wirklich etwas ändern wollen oder — viel wahrscheinlicher — indem sie damit einen bestimmten Nutzen verbinden. Es ist in vielen Fällen durchaus nützlich, sich zu fragen, wozu Klienten in ein Hilfsangebot einwilligen — beispielsweise weil sie von Gerichten oder Behörden dazu angehalten wurden (was oft als Zwang oder Gängelei empfunden und damit tendenziell abgelehnt wird).
Liegt ein solcher (empfundener) „Zwangskontext“ — oder eine in der Realität oft vorkommende „Grauzone“ zwischen formaler Anordnung und Einsicht — vor, sind die Vereinbarungen, auf denen die Hilfe beruht, nicht selten „fragil“ („Ja, Sie sollen uns helfen, aber…“) oder „grau“, also „vieles gleichzeitig“ — entsprechend schwankende Verläufe der Hilfe eingeschlossen.
Drittens kann ich mich selbst täuschen, indem ich einen Nutzen aus der Hilfe ziehe, der mir nicht oder nicht ganz bewusst ist — etwa indem ich als Helfer „gebraucht werde“. Jenseits der gesellschaftlichen Legitimation des Helferberufs gibt es oft auch eine ganz persönliche „Helfergeschichte“, die in vielen Fällen etwas mit Anerkennung oder Dankbarkeit zu tun hat. Ein unreflektiertes Bedürfnis nach Anerkennung führt dann ggf. dazu, das Problem nicht auf der Klientenseite zu belassen, sondern sich selbst an den Erfolg oder die Wirkung der Hilfe zu binden. Bleibt die beabsichtigte Wirkung der Hilfe aus, beginne ich unter Umständen, mich zu ärgern. Dieser Ärger ist in der Regel ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, dass ich selbst Ziele hatte und bestimmte Wirkungen erzielen wollte — mich also quasi zu sehr mit den Zielen der Hilfe identifiziert habe und selbst zu viel „wollte“. (Um die Ursachen für dieses „zu viel Wollen“ und die sich daraus möglicherweise ergebenden Probleme geht es ganz am Ende dieses Textes noch einmal ausführlicher.)
Um herauszufinden, ob eine auf einer Täuschung beruhende Ent-Täuschung vorliegt, kann ich mir ganz praktisch die folgenden Fragen stellen:
Was hat die Enttäuschung ggf. mit mir zu tun?
- Habe ich mir ggf. einen „eigenen Auftrag“ gegeben?
- Bin ich vor dem Hintergrund meiner eigenen Erwartungen enttäuscht?
- Was war der eigentliche Auftrag? Vom Jugendamt… von Klientenseite… von mir an mich selbst?
- Bin ich an irgendeiner Stelle ggf. mir selbst bzw. meinen Idealvorstellungen von Hilfe oder meinen eigenen (teilweise wenig bewussten) Bedürfnissen nach Anerkennung auf den Leim gegangen?
Was hat die Enttäuschung ggf. mit der Auftraggeber-Seite zu tun?
- Haben Klienten ihre Ziele benannt, und was haben sie dafür getan, diese zu erreichen?
- Insbesondere wenn zur Enttäuschung noch Ärger hinzukommt: Was genau waren die Ziele und was haben Klienten getan und nicht getan?
- Wie habe ich reagiert, als ggf. vereinbarte Handlungen/Schritte ausgeblieben sind?
- Habe ich die Verantwortung bei den Klienten gelassen und bin in meiner Rolle geblieben? Wie viele „Runden über Los“ haben wir schon gedreht? Wie weit reicht meine Geduld noch? Kann ich noch hilfreich sein?
Der zuletzt dargestellte Frageblock gehört eigentlich schon wieder zur ersten Gruppe von Fragen (Was hat die Enttäuschung ggf. mit mir zu tun?). Es ist ein wenig wie mit einem Kreislauf: Die „eigentliche Frage“ kommt durch die Hintertür wieder herein. Oder: Am Ende landet man immer wieder bei sich selbst.
Zugespitzt formuliert könnte man behaupten, dass man eigentlich gar nicht helfen kann. In einem Hörbuch von Axel Grube über das Leben von Hannah Arendt hört man eine Verwandte Arendts sinngemäß sagen: „Selbst wenn Du jemanden liebst, kannst Du ihm doch nicht helfen.“ Was könnte damit gemeint sein?
Mir persönlich hilft hier eine begriffliche Unterscheidung: Man kann nicht direkt helfen, etwa im Sinne eines „Ausbügelns“ oder „ungeschehen Machens“. Aber man kann hilfreich sein.
Wenn ein Helfer seinen Klienten einen Weihnachtsbaum bezahlt, weil die sich keinen leisten können, dann „hilft“ das den Klienten nicht — es konserviert allerhöchstens deren Probleme ein bisschen. Oder anders formuliert: Freilich „hilft“ das in der konkreten Situation, bei einem konkreten Weihnachtsfest. Aber es bewirkt nichts.
Wenn ein Unglück geschehen ist, wird die Unmöglichkeit direkter Hilfe vielleicht am deutlichsten. Man kann mitfühlen (was nicht gleichbedeutend mit mitleiden ist), man kann da sein, man kann unterstützen, man kann behilflich sein, die nächsten Schritte zu gehen. Aber man kann nichts tun im Sinne eines ungeschehen Machens oder Erleichterns der Trauer usw. Das alles kann man nicht.
Also muss Hilfe immer etwas bewirken? Muss Hilfe immer Hilfe zur Selbsthilfe sein? In dem hier beschriebenen beraterischen oder begleitenden Sinne irgendwie schon.
Anders ist es jedoch, wenn ich um direkte Hilfe gebeten werde. Dann geht es etwa um ein kompliziertes Formular, das ausgefüllt werden muss. Man bittet mich um direkte Hilfe, weil man meint, dass ich kann, was man erfragt.
Es gibt offensichtlich Fälle, in denen direkte Hilfe (zumindest kurzfristig) sinnvoll zu sein scheint (das Formular). Aber es gibt auch Fälle, in denen direkte Hilfe (zumindest langfristig) ganz und gar nicht sinnvoll erscheint (der Weihnachtsbaum). Und es gibt Grauzonen — wenn ich bezüglich des Formulars nämlich immer wieder gefragt werde, werde ich mich irgendwann ärgern. Und es gibt Fälle, in denen man nichts direkt „machen“ kann, bei Unglücken beispielsweise; hier hilft das reine Da-Sein, das Mit-Teilen von Emotionen, das praktische Gehen der nächsten Schritte (das „macht“ man dann schon, aber man kann nichts ungeschehen machen oder irgendwie direkt helfen), das Hineinbringen von Struktur in eine zusammengebrochene Welt.
Ich muss mich bei Hilfe also immer fragen, wer was wozu beauftragt hat — und was ich davon verstanden habe.
Neben der sachlichen gibt es dabei auch eine emotionale Ebene. Zunächst kommt es darauf an, ob Vertrauen entsteht, und mit der Zeit kommt es darauf an, ob die Hilfe hinreichend gut funktioniert, damit sich kein Ärger einstellt. Und drittens gibt es noch die unbewusste Ebene. Es können Zwangslagen oder „strategische“ Interessen auf Klientenseite oder/und unbewusste Motive auf der beratenden Seite vorliegen.
Wenn alle diese Ebenen und Fragen ansprechbar und klärbar sind, hat man eine Chance festzustellen, was der Auftrag ist und wie man ggf. hilfreich sein kann. Man kann dann auch entscheiden, welche Form von Hilfe angemessen ist:
- direkte Hilfe,
- Hilfe zur Selbsthilfe oder
- ein Klärungsprozess, was eigentlich das Problem ist und ob überhaupt Hilfe infrage kommt bzw. ob das Hilfsangebot überhaupt passt, angenommen werden kann usw.
(Die hier genannten Varianten a, b und c ähneln im Prinzip Edgar Scheins drei Modi der Hilfe, nachzulesen in seinen Büchern Prozess und Philosophie des Helfens oder Prozessberatung.)
Im Grunde könnte man zu Zwecken der beraterischen Selbstklärung, zur Fallreflexion oder Supervision die bisherigen Darstellungen zu einer Art Frage-Modell zusammenfassen:
Ein Frage-Cluster bildet sich entlang der beschriebenen Ebenen:
- Sachliche Ebene: Was ist der Auftrag — und zwar jeweils von den verschiedenen beteiligten Seiten? In der Familienhilfe wären dies klassischerweise das Jugendamt, das Klienten-System und die helfende/intervenierende Seite. Manchmal kommen weitere Personen und Instanzen hinzu (Vormundschaft, Gerichte, Verwandte, andere Helfer, Kitas oder Schulen usw.).
- Emotionale Ebene: Besteht genügend Vertrauen für eine hilfreiche Zusammenarbeit? Wie haben sich die Emotionen entwickelt? Gibt es bereits erste Ärgernisse oder Enttäuschungen? Wie wurde bisher und wie wird momentan damit umgegangen?
- Bewusst/unbewusst: Welche „strategischen“ Interessen gibt es ggf. auf Klientenseite? Welche informellen, also kaum ausgesprochenen Erwartungen gibt es ggf. von Amtsseite? (Beispiel: Wie hoch ist ggf. der Druck von Amtsseite, den „Fuß in der Tür“ zu halten, um ggf. Schlimmeres zu verhindern?) Und last but not at all least: Was sind ggf. meine Selbst-Täuschungen? Wie hoch sind die Erwartungen an mich selbst als Helferin oder Helfer? Wo habe ich ggf. mehr oder minder bewusst meinen Klienten ihre Verantwortung genommen und mir damit die Ziele zu sehr angeeignet bzw. die zu erreichende Wirkung zu sehr zu „meinem“ Projekt gemacht?
Ein weiteres Frage-Cluster bildet sich anhand der beschriebenen Arten von Hilfe:
- Welche Form Hilfe ist eigentlich die angemessene? Soll ich hier tatsächlich direkt helfen, oder erreiche ich damit ggf. genau das Gegenteil?
- Oder ist Hilfe zur Selbsthilfe angeraten? Oder handelt es sich um einen Fall, bei dem ich erst ein wenig direkt helfen muss, damit Hilfe zur Selbsthilfe möglich wird?
- Oder bedarf es überhaupt erst einmal eines Klärungsprozesses, wer hier ggf. welche Erwartungen hat. Manchmal muss man auf einer sehr allgemeinen Ebene beginnen und überhaupt erstmal Vertrauen aufbauen, ohne schon über Hilfe zu reden. Dann beginnt man quasi nicht direkt auf „Los“, also bei der Frage nach Erwartungen, Zielen usw., sondern man beginnt bei einer Situationsanalyse: Wie geht es Ihnen? Wie sehen Sie Ihre Situation? Was halten Sie überhaupt von dem Ansinnen, dass wir hier miteinander reden sollen? Wie ist Ihr Verhältnis zum Jugendamt? Wie kam es aus Ihrer Sicht dazu, dass wir hier miteinander reden? Welche Bedenken haben Sie ggf.? Welche Erwartungen hätten Sie an eine Hilfe? Wie könnte ich ggf. hilfreich sein? Wenn man sich behutsam auf diese Weise nähert und zunächst nur Interesse zeigt und noch keine „Angebote“ formuliert, kommen ggf. vorhandene Bedenken oder skeptische Reaktionen zur Sprache — ganz im Sinne des beraterischen Grundsatzes „Störungen haben Vorrang“.
Nach dieser Darstellung möglicher Analyse- und Reflexionsfragen soll der Blick noch einmal kurz auf die Ausgangsfrage nach dem praktischen Umgang mit Enttäuschungen gerichtet werden: Im Grunde kann ich entweder meine Gefühle an die Realität anpassen oder die Realität an meine Gefühle.
Wenn ich meine Gefühle an die Realität anpasse, frage ich mich, wo ich mich ggf. getäuscht habe bzw. zu viel erwartet habe. Ggf. geht die Klientenseite bestimmte Schritte langsamer, als ich das erwartet habe, oder an manchen Stellen wurde, aus welchen Gründen auch immer, strategisch kommuniziert, also mir zum Beispiel aus gleichsam „politischen Gründen“ (Wohlverhalten gegenüber dem Jugendamt) ein Hilfebedarf bezüglich einer Situation geschildert, welche die betreffende Familie in der Realität aber eigentlich gar nicht verändern möchte. Oder ich habe mich eben selbst getäuscht, indem ich mich zu sehr mit den Zielen der Hilfe identifiziert und selbst zu viel gewollt habe.
Ganz gleich, um welche dieser Varianten es sich handelt — wenn ich meine Gefühle an die Realität anpasse, akzeptiere ich die Realität und ziehe Konsequenzen daraus. Ich reduziere meine Erwartungen, konfrontiere mein Gegenüber ggf. mit meinem Eindruck der „strategischen“ Kommunikation oder rede mit dem Jugendamt darüber. Ich reflektiere mich selbst und meine ggf. zu hohen Erwartungen — und ich trenne mich ggf. von eigenen Wirkungswünschen oder Zielen in Bezug auf den Fall. (Lesen Sie hier einen Text, in dem ich der Frage nachgehe, warum es ggf. besser sein könnte, (zunächst) nichts zu wollen.)
Teil 2: Grenzen
Zurück zu der eingangs erwähnten Supervisionssitzung mit dem Familienhelfer-Team: Nachdem die Frage nach dem Umgang mit Enttäuschungen in der hier ausführlich dargestellten Weise erörtert war, ergab sich aus der Reflexion eine weitere Frage, nämlich die nach den „Grenzen“ bei der Tätigkeit als Helferin oder Helfer.
Die erste Grenze: Wie viel Beziehungsarbeit ist notwendig, damit sich mein Gegenüber öffnet und mir zutraut, ihr oder ihm helfen zu können?
Zunächst ist da die Grenze der Hilfe selbst, also eine Grenze auf der oben bereits beschriebenen sachlichen Ebene: Aus dem Auftrag ergibt sich quasi eine sachliche Begrenzung. Was als Erwartung, Ziel oder Wirkung beschrieben wurde, bildet gleichzeitig die Grenze des Auftrags. Ist das Ziel erreicht, endet der Auftrag, ist quasi eine „Grenze“ erreicht.
Aber so einfach ist es in der Praxis selten. Zu oft ergeben sich Hinderungsgründe. So kann zum Beispiel keine hinreichende „Beziehungsgrundlage“ entstehen. Manche Interventionisten meinen zu Recht, dass das, was bei Hilfe wirksam ist, weniger eine Frage der verwendeten Methoden, als vielmehr eine Frage der Beziehung sei. Wenn Hilfe eine Form gelingender Kommunikation mit einem bestimmten Wirkungs- oder Entwicklungsziel ist, dann muss man sich fragen, was die Grundlage gelingender Kommunikation ist. Hier landet man schnell bei dem, was man eine tragfähige Beziehung nennt. Und wenn man sich fragt, worauf eine tragfähige (Arbeits-)Beziehung beruht, landet man schnell bei Vertrauen. Vertrauen beinhaltet die Bereitschaft, sich öffnen zu können ohne die Angst, verraten zu werden. Vertrauen bedarf also eines gewissen Sicherheitsgefühls. Zudem bedeutet Vertrauen im Helferkontext auch ein gewisses Zutrauen in die Kompetenz des Helfers oder der Helferin. Vertrauen besteht also, recht einfach definiert, aus einem Sicherheitsgefühl verbunden mit der Bereitschaft, sich zu öffnen, und einem Gefühl des Zutrauens in die Kompetenz der helfenden Seite.
Eine erste Grenze ergibt sich also aus der schlichten Frage, ob Vertrauen entstehen kann oder nicht bzw. entstanden ist oder nicht.
Ich erinnere mich noch an die Tage am Anfang meiner Berufstätigkeit als beratender Psychologe, da ich es beinahe persönlich genommen habe, wenn jemand kein Vertrauen zu mir aufbauen konnte. Heute sehe ich das entspannter. Es hat einerseits viel und andererseits wenig mit meiner Person zu tun, ob sich jemand mir gegenüber öffnen kann/will oder nicht. Ich kann hilfreich sein — oder nicht. In der Mehrzahl der Fälle passt das auch. Aber es kann auch nicht passen. Ob es passt oder nicht, ist aber weniger von mir abhängig, sondern ist eher eine Entscheidung meines Gegenübers.
Diese „Entscheidung des Gegenübers“ ist eines der wesentlichen — und meines Erachtens gleichzeitig eines der am wenigsten beachteten — Merkmale von Hilfe.
Wir bilden uns gern ein, dass Hilfe etwas auf Augenhöhe sei. Aber dem ist nicht so. Nach Watzlawick können Beziehungen entweder symmetrisch (auf Augenhöhe) oder komplementär sein. Und irgendwie meinen viele Inhaberinnen und Inhaber von Helferberufen, dass es symmetrisch, also mit gleicher Machtverteilung einherginge. Aber Klienten haben nicht die gleiche Macht wie Helfer, im Gegenteil: sie sind viel verletzbarer. Wer Hilfe sucht, gibt zu, dass er Hilfe braucht. Im strategischen Fall gibt er oder sie es zumindest noch vor. Wenn ich aber zugebe, Hilfe zu brauchen, begebe ich mich, was meine „soziale Flughöhe“ betrifft, „unter“ diejenigen, die ich um Hilfe bitte. Edgar Schein hat diesen Umstand einmal als „one-down-ness of help“ bezeichnet.
Die oben erwähnte „erste Grenze“ ergibt sich also aus der Frage, wie viel Beziehungsarbeit nötig ist, damit sich die besagte „einseitige Unterordnung von Hilfe“ ergibt. Oder einfacher formuliert: Wie viel Beziehungsarbeit ist notwendig, damit sich mein Gegenüber öffnet und mir zutraut, ihr oder ihm helfen zu können?
Als Helfer habe ich hier zunächst die Aufgabe, eine vorurteilsfreie und professionelle Haltung einzunehmen, Interesse zu zeigen und eine Beziehung aufzubauen sowie transparent in Bezug auf meine Haltungen, Methoden und Techniken zu sein — kurzum die Situation so zu gestalten, dass sich mein Gegenüber öffnen und ggf. auch ein gewisses Zutrauen in meine Kompetenz entwickeln kann. Aber ob sich mein Gegenüber öffnet und ob dieses Zutrauen entsteht, ist ganz allein seine oder ihre Entscheidung.
Ich kann professionell handeln, aber ob es gelingt, ist vom Gegenüber abhängig. Gelingt es nicht, kann ich ggf. bestimmte Handlungen wiederholen, das Thema ggf. behutsam oder auch direkt ansprechen, aber ich kann nichts „machen“ im Sinne von „beeinflussen“ oder „überzeugen“. Menschen öffnen sich oder nicht — und wenn sie es nicht tun, ist eine wesentliche Grundlage von Hilfe nicht gegeben und damit eine Grenze erreicht.
Die zweite Grenze: Was passiert, wenn die Klientenseite nichts oder zu wenig will?
Angenommen, die Klientenseite nimmt das Angebot des Jugendamtes an und es entwickelt sich eine vertrauensvolle Beziehung zwischen einer Familie und den vom Jugendamt beauftragten Familienhelfern. Und angenommen, es handelt sich zwar um eine tatsächliche und keine strategisch-abwehrend formulierte Annahme des Hilfsangebots, aber die Zusammenarbeit trägt mittelfristig kaum Früchte. Die Beziehung funktioniert, und die Zusammenarbeit funktioniert „gefühlt“ auch, aber die Ziele werden nicht erreicht. Man hat vielleicht zunächst Geduld, später thematisiert man das Ausbleiben der Wirkung mit der Familie, man trifft neue Vereinbarungen, noch später involviert man das Jugendamt, und auch dann trifft man wiederum Vereinbarungen.
Eine interessante Frage ist hier, wie lange es dauert, bis die Helfer oder die Vertreter des Jugendamtes ungeduldig werden — oder sich gar ein gewisser Ärger einstellt. Noch sagt man sich vielleicht, dass die Hilfe zwar „irgendwie“ funktioniert, aber eben dauert. Man kriegt das Miteinander ganz gut hin (was ja oft schon als Erfolg zu werten ist) und dennoch passiert — nichts? — oder zu wenig? Oder geht es nur dem Helferherz zu langsam?
Die zentrale Frage an dieser Stelle lautet, wann Helfer
- persönlich (Ungeduld, Ärger, beginnende Abwertung der Klientenseite),
- methodisch (Methodenrepertoire ausgeschöpft, in der Supervision angesprochen, ggf. Helferwechsel erfolglos geblieben) oder
- formal (Handlungsrahmen rechtlich ausgeschöpft)
an Grenzen geraten, wenn das Klientensystem „zu wenig will“ bzw. die Wirkung ausbleibt.
Selbst wenn das Klientensystem zu wenig oder nichts will, muss das noch nicht heißen, dass Helfer aufgeben sollten. Manchmal ist anfänglich ein gewisses Maß direkter und selbst-legitimierter Hilfe sogar notwendig, damit etwas ins Rollen kommt — oder wie weiter oben formuliert: Manchmal muss ich zunächst direkt helfen, damit später Hilfe zur Selbsthilfe möglich wird. Und manchmal braucht man viel Kraft und Geduld auch über den formal möglichen Rahmen hinaus. Spätestens am Beispiel der Migrationsberatung wird deutlich, dass man manchmal sein Beratermandat deutlich in Richtung direkter Hilfe überschreiten muss, damit überhaupt die Voraussetzungen für Hilfe zur Selbsthilfe entstehen können.
Aber selbst bei viel gutem Willen und Geduld sind irgendwann Grenzen erreicht, wenn die Wirkung der Hilfe ausbleibt — und Helfer sollten dies reflektieren und ihre Schlüsse ziehen, bevor sie sich ärgern. Ansonsten entstehen auf Dauer die gerade in Behörden mit Mitarbeitern, die bei ihrer Tätigkeit rechtliche Rahmenbedingungen mit einer Helferrolle verbinden müssen (bspw. Jugendämter, Jobcenter), oft beobachtbaren Verbitterungseffekte, die wiederum langfristig negative Folgen für die Gesundheit haben können.
Die dritte Grenze: Wie viel Selbst-Legitimation ist (noch) hilfreich bzw. wann führen eigene Erwartungen zu Enttäuschungen oder gar zur Selbstausbeutung?
An dieser Stelle schließt sich der Kreis dieses Textes. Wir sind wieder beim Thema „Ent-Täuschung“ angekommen.
Eine der womöglich unter Angehörigen von (beratenden) Helferberufen am heißesten diskutierten Fragen ist die nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Ratschlägen bzw. direkter Hilfe. Wenn ich meinem Gegenüber einen Ratschlag gebe, mache ich ihn damit klein, beraube ich ihn seiner Verantwortung; Ratschläge sind auch Schläge; wenn mir als Berater eine mögliche Lösung einfällt, soll ich mich in die Ecke setzen und warten, bis der Anfall wieder vorbei ist — so oder so ähnlich lauten die Leitsätze, die man im Studium oder in der Ausbildung vermittelt bekommt.
Fakt ist, dass man Hilfe nicht „überhelfen“ sollte. Und wenn man jemanden einfach so mit direkter Hilfe konfrontiert, dann ist das ein Übergriff — ein zwar gut gemeinter, aber deshalb vom Gegenüber dennoch ggf. als Herabsetzung empfundener Übergriff.
Hilfe wird in der Regel von der Hilfe suchenden Seite hergestellt.
Und auch wenn man — wie das in der Familienhilfe oft vorkommt — von Behörden oder Gerichten dazu „angehalten“ (gefühlt oft: „verdonnert“) wird, kommt es immer auf die Beziehungsentwicklung an, ob es Hilfe wird oder „übergriffige Gängelei“ oder „als Hilfe getarnte Belehrung“ bleibt.
Wenn aber die „one-down-ness of help“ einmal entstanden ist, kommt es bei der Frage, was genau hilfreich ist, auf die Situation der Klienten und die Erwartungen an die Hilfe an. Klar kann auch direkte Hilfe sinnvoll sein (oft nur kurzfristig). Klar gehe ich zu einem Spezialisten, wenn ich einen ganz bestimmten Ratschlag brauche, den der betreffende Spezialist für mich hat. Und klar lasse ich mich auf einen Klärungsprozess ein, wenn mir zwar klar ist, dass ich ein Problem habe, aber keine gute Idee, wer oder was mir helfen könnte, wie ich an das Problem herangehen kann o.ä.
Es liegt also weniger generell am Ratschlag als vielmehr an der Art des Problems bzw. den Erwartungen an die Hilfe.
Dennoch gibt es immer wieder Probleme mit dem, was hier als „Überhelfen“ bezeichnet wurde, und zwar nicht nur aus dem Umstand heraus, dass Behörden oder Gerichte bestimmte Hilfen nahelegen oder anordnen, sondern auch aus der Motivation bzw. der Haltung von Helfern heraus.
Wie in diesem Text schon mehrfach angedeutet wurde, gibt es bei Angehörigen von Helferberufen oft (nicht immer, aber eben oft) auch eine gewisse „persönliche Motivlage“ oder eine „biographische Dimension“, die bei der Berufswahl eine Rolle gespielt haben kann und die bei der beruflichen Tätigkeit „mitschwingt“.
In der praktischen Arbeit äußert sich diese Motivlage in der Regel als eine Art Selbst-Legitimation. Man wartet quasi nicht nur, bis man um Hilfe gebeten wird, sondern man erkennt Hilfebedarf und formuliert ein Hilfsangebot. Wird diese Haltung völlig unreflektiert ausgelebt, dann kann es quasi auch zu direkten Hilfshandlungen kommen, ohne dass darum gebeten wurde. Wenn diese (nicht erbetene) Hilfe im Nachhinein abgelehnt oder kritisiert wird, reagieren die betroffenen Helfer mitunter beleidigt: „Ich habe es ja nur gut gemeint.“
Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass etwas zwar gut gemeint, aber dennoch schlicht „Mist“ sein kann. 😉 Und so ist das manchmal mit übertriebenen Selbstbeauftragungen — sie sind nach außen gut gemeint, sind aber im Kern „egoistische“ Handlungen und deshalb ganz und gar nicht hilfreich.
Eine interessante Frage wäre, warum das so ist, warum manche Helfer zur Selbst-Legitimation bzw. Selbst-Beauftragung neigen. Es soll hier nicht um eine umfassende Schilderung der Entwicklung und Psychodynamik von Helferpersönlichkeiten gehen. Das würde den für einen Blogtext ohnehin schon zu umfangreichen Rahmen dieses Textes sprengen. Aber für eine entsprechende Zusammenfassung im Telegrammstil sei Zeit:
- Während der Kindheit entwickeln wir ein Selbstbild. Ein Selbstbild setzt sich aus dem zusammen, was wir von anderen über uns erfahren haben. Wurden wir geliebt und bestärkt, entsteht ein anderes Selbstbild, als wenn wir abgelehnt und infrage gestellt wurden.
- Im Falle eines negativen Selbstbildes entwickeln wir den Wunsch, anders zu sein — und kreieren uns ein alternatives oder „kompensatorisches“ Selbstbild. Dieses Selbstbild zeigen wir dann — und bekommen auch positive Rückmeldungen dafür. Aber diese Rückmeldungen kommen nie so recht an, werden nie so recht gefühlt, da das eigene, echte Selbstbild im Hintergrund hungrig bleibt. Kompensatorische Selbstbilder haben meist erfolgreiche, freundliche, irgendwie attraktive Gesichter: beruflicher Erfolg oder Karriere, gesellschaftlicher Status oder öffentliches Ansehen, Reichtum oder besonders attraktive oder starke Körper usw. Man kann mit so einem hungrigen Herzen auch Helferin oder Helfer werden — man leistet dann viel für andere, und weil man ja eigentlich tief drinnen „nicht genug“ ist, leistet man noch mehr.
- Daraus kann unter Umständen eine Art Teufelskreis werden: Ich leiste schon viel, helfe anderen, bekomme Anerkennung dafür, habe aber trotzdem das Gefühl, noch mehr leisten zu müssen. Egal, wie viel ich schaffe, helfe usw.: Ich bin trotzdem nie genug und muss immer noch mehr machen. Und weil ich damit erfolgreich bin, mache ich noch mehr, biete es immer von Neuem an, bin manchmal enttäuscht oder regelrecht ärgerlich, wenn meine Hilfe keine Wirkung zeigt, und wenn das so bleibt oder sich häuft, fange ich an zu fordern und zu „schubsen“. Am Ende dieser Spirale steht oft eine verbitterte Abwertung der Klientenseite.
Lesen Sie bei weiterführendem Interesse auch diese Texte zum Thema Selbstbilder und Lebenslügen bzw. zum Thema Psychodynamik und ‑hygiene im Helferberuf.
Ganz gleich, ob und wie stark eine Helferin oder ein Helfer von der soeben beschriebenen „kompensatorischen Leistungsorientierung“ bzw. Helfermotivation betroffen sein mag — ein wenig Selbst-Legitimation ist oft ein guter Motor, um den Job überhaupt machen zu wollen. Man darf nur eben nicht dem Gegenüber die Verantwortung abnehmen. Man muss gut unterscheiden können, ob man ein Formular auszufüllen hilft, weil es jetzt gerade dran, also notwendig und hilfreich ist, oder ob man das Formular ausfüllt, weil sich jemand daran gewöhnt hat, mich zu bitten, es aber mittlerweile auch selbst könnte. Ein Formular ist sicher ein banales Beispiel, aber es geht hier nur um die Verdeutlichung des Musters.
Eine gewisse Selbst-Legitimation kann auch helfen, bestimmte Dinge anzuschieben. Manche Sachen muss man vielleicht wirklich regelrecht „vormachen“, und spätestens in der Migrationsberatung wird man manche Erfolge erst mit einem gehörigen Maß an Selbst-Legitimation erzielen können.
Die Grenze ist spätestens dann erreicht, wenn man zur Selbstausbeutung neigt, also im sprichwörtlichen Sinne nicht mehr genug bekommt, sich selbst beauftragt, gleichzeitig aber bei nicht erwartungskonformen Klientenreaktionen oder Misserfolgen starke Emotionen entwickelt: „Wozu mache ich das hier eigentlich? Da reiße ich mir den A**** auf, und die liegen derweil in der Sonne.“ Solche Sätze sind ein Zeichen, dass man bereits über die Grenze gegangen ist.
Aber so ist das mit Grenzen: Man bemerkt sie zumeist erst, wenn man dran oder drüber ist. 😉