Ruhige Präsenz und Hauptsätze: die Quintessenz der Krisenintervention

Wenn Du geru­fen wirst, ent­schei­dest Du schnell, ob Du das machen kannst oder nicht. In der Regel wirst Du ent­schei­den, dass Du kannst. Weil es Dei­ne Pflicht ist. Weil es Dein Beruf von Dir ver­langt. Du musst aber Nein sagen, wenn es Dir schlecht geht. Du musst dann ent­schlos­sen sagen, dass es Dir schlecht geht. Komm nicht mit „Wenn es sein muss…“ oder „Wenn Sie nie­mand ande­res fin­den…“. Damit machst Du es den ande­ren nur schwer.

Wenn Du Teil eines Kri­sen­in­ter­ven­ti­ons­teams bist und Bereit­schaft hast, musst Du ohne­hin los.

Du hast den Weg dort­hin, um Dich dar­auf ein­zu­stel­len. Zieh Dir Dei­ne Jacke an. Wenn Du von Berufs wegen eine Uni­form trägst, gut. Wenn Du kei­ne Uni­form trägst, suche Dir eine Jacke, die Du nur dafür anziehst. Die Jacke kannst Du nach­her wie­der aus­zie­hen. Ganz bewusst, wie bei einem Ritu­al. Das hilft.

Wie gesagt: Du hast den Weg, um Dich dar­auf ein­zu­stel­len. Auf dem Weg sprichst Du mit nie­man­dem, der nichts davon weiß. Fah­re behut­sam oder las­se Dich fah­ren. Höre Musik, die Dich dar­auf ein­stellt. Bei mir ist das ganz ruhi­ge Musik. Musik, die kaum noch da ist, wie zum Bei­spiel man­che Stü­cke von Ele­ni Kara­ind­rou. Das Gegen­teil hat bei mir die glei­che Wir­kung, Deaf­he­a­ven zum Bei­spiel. Sprich vor Dich hin, übe die ers­ten Sät­ze: „Hal­lo. Mein Name ist… Ich bin jetzt für Sie da.“ Wie­der­ho­le das so oft, wie es not­wen­dig ist – bis Du fühlst, dass Du nur noch „ruhi­ge Prä­senz“ bist. Wenn es not­wen­dig ist, hal­te an und sieh dazu in den Spiegel.

Was heißt „ruhi­ge Prä­senz“? Das heißt, dass Du da bist und nicht da bist. Du bist ganz für die Per­son da, zu der Du jetzt fährst. Du bist aber auch nicht da, weil Du nichts willst. Du bist nicht von Belang. Du weißt, dass Du da sein kannst, aber nichts tun kannst, zumin­dest nicht in dem Sinn des unge­sche­hen Machens oder des Schuld­fra­ge Klä­rens. In die­sem Sin­ne kannst Du gar nichts machen – und sollst es auch nicht, aber das muss Dir jedes Mal wie­der von Neu­em klar werden.

Selbst wenn man jeman­den liebt, kann man ihm doch nicht hel­fen. Das ist ein har­ter Satz, aber er stimmt. Es ist nicht Dein Leben, Du kannst also nichts machen in dem Sin­ne, etwas für die ande­re Per­son gesche­hen oder nicht gesche­hen zu las­sen. Du kannst da sein und sta­bi­li­sie­ren (und damit auch hel­fen), aber Du kannst nichts machen. Das muss Dir die gan­ze Zeit über bewusst sein, aber Du darfst das nie­mals laut sagen. Du brauchst nichts von dem, was man Mit­leid nennt, denn Mit­leid hilft nicht, Mit­ge­fühl hin­ge­gen schon. Du sprichst in kur­zen Haupt­sät­zen. Du fragst nicht nach dem Her­gang, wenn Du nicht musst. Du über­nimmst sanft die Füh­rung, wohl wis­send, dass die Welt Dei­nes Gegen­übers ein­ge­stürzt ist. Dar­um geht es: Du bist ganz ruhi­ge Prä­senz und über­nimmst die Füh­rung mit sanf­ten Fra­gen und Haupt­sät­zen, die sich auf das rich­ten, was vor der Per­son liegt. Dabei kann es sich zunächst schlicht um Bewe­gun­gen handeln.

Wenn Poli­zis­ten da sind und alle mög­li­chen Fra­gen stel­len, die zu die­sem Zeit­punkt aus Dei­ner Sicht alles ande­re als ange­bracht sind, fan­ge nicht an zu dis­ku­tie­ren. Lass es gesche­hen, denn Poli­zis­ten müs­sen sol­che Fra­gen stel­len. Du bist da und kannst durch Dei­ne Prä­senz hilf­reich sein. Dis­kus­sio­nen oder falsch ver­stan­de­ner „Opfer­schutz“ sind nicht hilf­reich – lei­der oft genug sind sie sogar Teil einer über­trie­be­nen Selbst­in­sze­nie­rung der Hel­fer. Frei­lich machen Men­schen Feh­ler, und frei­lich füh­ren Dienst­vor­schrif­ten und Rou­ti­nen manch­mal zu unpas­sen­den Fra­gen oder Hand­lun­gen. Aber das pas­siert nun mal und ist nichts gegen das, was eigent­lich pas­siert ist. Und dafür bist Du da. Sei hilf­reich, nicht kon­tra­pro­duk­tiv. Wenn etwas wirk­lich schief gelau­fen ist, musst Du ver­su­chen, das im Nach­hin­ein mit den Betref­fen­den zu klä­ren. Und glaub mir: auch was Du tust, ist für die ande­ren nicht gleich klar und selbst­er­klä­rend, kann also auch die ande­ren irri­tie­ren. Jede betei­lig­te Berufs­grup­pe hat ihre eige­nen Prio­ri­tä­ten. Dei­ne Rol­le ist wich­tig, aber nicht die wich­tigs­te. Wenn Du das so siehst, wirst Du gut klarkommen.

Du gehst rein. Du stellst Dich vor: „Mein Name ist… Ich bin jetzt für Sie da.“ Du setzt Dich hin. Du atmest. Je ruhi­ger Du bist, des­to bes­ser. Du nimmst wahr. Du fragst viel­leicht, wie Du hilf­reich sein kannst. Oder Du sagst erst ein­mal nichts. Dein Gegen­über fängt auch von allein an. Wenn gar nichts geht, erkun­digst Du Dich nach „pri­mä­ren Lebens­funk­tio­nen“: Brau­chen Sie etwas? War der Arzt schon da? Sind Ange­hö­ri­ge benach­rich­tigt? Kann ich irgend­et­was für Sie tun? Wann haben Sie zum letz­ten Mal etwas geges­sen? Kön­nen Sie aufstehen?

Du erträgst das Schluch­zen. Du atmest. Du fragst, was die Per­son braucht. Viel­leicht wun­derst Du Dich, aus wel­cher Tie­fe ein Schluch­zen kom­men kann. Du sitzt neben der Per­son, und wenn Sie beginnt zu erzäh­len, dann hörst Du zu. Du lenkst nicht. Alles, was sta­bi­li­siert, hilft. Du hilfst beim Ver­drän­gen. Oft kommt die Schuld­fra­ge. Mit­un­ter unmit­tel­bar. Du fragst dann, ob Du ein paar Fra­gen über die letz­ten Stun­den stel­len kannst. Und dann ver­neinst Du die Schuld. Das hilft. Auf­ar­bei­ten kommt spä­ter, oft erst viel später.

Du beglei­test die Per­son bei ihren ers­ten Schrit­ten. Ja, ich mei­ne tat­säch­lich die ers­ten Schrit­te. Du hälst ihr den Arm. Wenn Ihr bei­de raucht, dann geht raus, um zu rau­chen. Wenn das Schluch­zen nach­lässt, redet Ihr über die nächs­ten Stun­den. Und zwar über das, was die Per­son kon­kret tun wird, durch wel­che Türen sie gehen wird, was sie sehen wird, was sie dabei brau­chen wird, wer mit­kom­men soll zum Bei­spiel. Ihr redet dar­über, mit wem sie spre­chen wird, ob sie das schaf­fen wird, wer ihr dabei hel­fen kann. Wenn die Per­son zum Bei­spiel noch ein­mal zur Poli­zei muss, dann ist das so etwas, über das Ihr spre­chen könnt.

Spä­ter besprichst Du mit der Per­son die nächs­ten Tage. Viel­leicht holst Du die Ange­hö­ri­gen dazu. Gib Hin­wei­se, sage, wie das lang geht, wie die Abläu­fe sind, wo wel­che Infor­ma­tio­nen erfragt wer­den kön­nen. Das hilft. Sag auch, wie die Gefühls­welt aus­se­hen wird, dass es hin und her geht, dass es eine Pha­se der tie­fen Ver­zweif­lung geben wird, auch eine Zeit der Leug­nung. Du sagst auch, dass die Per­son irgend­wann wütend sein wird auf die Per­son, die gestor­ben ist. Und dass das Auf und Ab irgend­wann schwä­cher wird. Du sagst, dass all die­se Pha­sen nor­mal und not­wen­dig sind und dass nichts erzwun­gen wer­den soll­te. Alles hat sei­ne Zeit, und man merkt, wann die Zeit kommt. Wenn es Zeit zum Ver­drän­gen ist, merkt man das eben­so, wie wenn es Zeit wird, den Din­gen ins Auge zu schau­en. Man muss also nicht den Din­gen mit Gewalt ins Auge schau­en. Man muss nur auf die Zei­chen ach­ten – die Din­ge stel­len sich ganz allein vor das Auge, und man merkt, wie man es immer bes­ser aus­hält, die Din­ge anzusehen.

Geh bit­te nicht zu zei­tig. Nach zwei Stun­den sieht Dein Gegen­über schon viel sta­bi­ler aus. Aber das ist nichts gegen den Zustand nach vier Stun­den. Wenn Du kannst, bie­te an, am nächs­ten Tag noch ein­mal wie­der­zu­kom­men. Du wirst sehen, am nächs­ten Tag geht alles schon ein wenig schnel­ler, flie­ßen die Wor­te schon ein wenig bes­ser, kann Dein Gegen­über sich die nächs­ten Schrit­te schon bes­ser vor­stel­len. Dein Gegen­über kann nun wie­der lau­fen, viel­leicht sogar spa­zie­ren gehen, ganz ein­fa­che Ent­schei­dun­gen tref­fen. Das ist das Wich­tigs­te: klei­ne Schrit­te, die Erfah­rung, lau­fen zu kön­nen, dem Psy­cho­lo­gen einen Kaf­fee zu kochen, mit den Ange­hö­ri­gen über die nächs­ten Tage zu reden. Es ist gut, zwi­schen Zwei­er-Situa­ti­on und Gesprä­chen im grö­ße­ren Kreis (zwei bis drei Ange­hö­ri­ge) zu wech­seln. Nur nicht zu lang. Respek­tie­re jede Trä­ne, jedes Absin­ken in die Ver­zweif­lung, jede Aggres­si­on. Je mehr jetzt schon her­aus­kann, des­to leich­ter wird es Dein Gegen­über spä­ter haben. Aber for­cie­re das nicht: was the­ma­ti­siert wird, ist in Ord­nung, was nicht, auch. Ver­drän­gen ist in Ord­nung, denn es hilft bei der Sta­bi­li­sie­rung. Es geht hier nicht um Auf­ar­bei­tung, son­dern um Sta­bi­li­sie­rung. Was wirkt, ist Dei­ne ruhi­ge Prä­senz, sind Dei­ne Haupt­sät­ze. Du bist das Stabilisierungsmodell.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.