Stress ist bei Einsatzkräften unvermeidbar. Wie aber gehen aus der Sicht von Führungskräften ein bewusster Umgang mit Stress auf der einen Seite und die Sicherung der Einsatzstärke auf der anderen Seite zusammen?
In diesem Beitrag geht es weniger um eine Definition von Stress und den Umgang damit aus einer eher individuellen Sicht. Diese Dinge kann man in einem älteren Beitrag auf diesem Blog nachlesen. Hier geht es mehr um praktische Fragen des Umgangs mit Stress aus der Sicht von Führungskräften in Einsatzorganisationen (v.a. Polizei; in Teilen betreffen die Darstellungen auch den Rettungsdienst und die Feuerwehr).
Der folgende Text ist eine Zusammenfassung eines Teils meiner Vorlesung zum Thema Stressmanagement an der Hochschule der Sächsischen Polizei.
Eine wichtige Fähigkeit für den Umgang mit Stress in der Praxis: Bin ich in der Lage, in stressigen Situationen aus Emotionen Gedanken werden zu lassen?
Eine grundlegende Frage des praktischen Umgangs mit Stress ist, ob ich in der Lage bin, mich bewusst mit meiner aktuellen Situation und dem ggf. gerade vorhandenen Stresslevel auseinanderzusetzen. Stehe ich nämlich gerade unter Stress, neige ich ggf. zu „automatisierten“ Verhaltensweisen und bin weniger in der Lage, bewusst zu handeln.
Der Unterschied zwischen automatisiertem Verhalten und bewussten Handlungen ist folgender: Wie bei allen anderen Säugetieren, ist unser Verhalten zunächst von Emotionen abhängig. Emotionen sind so etwas wie „Situationsbewertungen“: Ich nehme etwas wahr und „bewerte“ es anhand von Emotionen — und verhalte mich entsprechend. Bleibt es bei einer direkt auf die Emotion folgenden Emotion, findet dieser Prozess unabhängig vom Bewusstsein statt. Ich verhalte mich.
Wird mir hingegen meine verhaltensleitende Emotion bewusst, kann ich mir etwas einfallen lassen — ich kann verschiedene Reaktionen simulieren. Denken stellt aus dieser Sicht nichts anderes als Probehandeln dar (Freud). Indem ich etwas wahrnehme und meine unmittelbare emotionale Bewertung dessen verstehe, kann ich bewusst wählen, wie ich mich verhalte. So wird aus dem Verhalten eine Handlung.
Gerade unter Stress ist es aber nicht einfach zu handeln. Das kann man am besten nachvollziehen, wenn man sich einmal an „Kurzschlussreaktionen“ oder „übertriebene Reaktionen“ oder „Ausraster“ in Stresssituationen erinnert. Betreffen solche „Ausraster“ andere, wird man im Nachhinein oft hören, dass man „unter Stress“ gestanden habe, dass man „noch nie in einer solchen Situation“ gewesen sei usw.
Zum Verständnis solcher Stressreaktionen ist es hilfreich, sich eine Art „Affektspektrum“ oder eine Art „emotionaler Voreinstellung“ vorzustellen. Befindet man sich im positiven Bereich des Spektrums oder ist die Voreinstellung einigermaßen entspannt, fällt es leichter, sich Gedanken zu machen. Ist die Voreinstellung hingegen negativ bzw. befindet man sich im eher negativen Bereich des Spektrums, neigt man eher zu automatisierten Verhaltensweisen.
Psychoanalytisch gesprochen kommt es also darauf an, ob man die Fähigkeit besitzt, negative Emotionen (oder eine Art durch Stress ausgelöster negativer Voreinstellung) auszuhalten und dennoch zu handeln. Die Frage lautet, ob man in der Lage ist, auch bei negativen Emotionen (Ärger, Wut, Furcht, Trauer usw.) aus den Emotionen Gedanken werden zu lassen und Handlungsoptionen durchzuspielen, also zu denken.
Diese Fähigkeit kann man trainieren. Und auch wenn dieses Training kaum bewusst bzw. formal als solches benannt stattfindet, ist es doch gerade bei Einsatzkräften ein wichtiger Teil der Ausbildung: Durch das wiederholte Training von Einsatz- und Gefahrensituationen werden einerseits die Handlungsroutinen so eingeübt, dass sie auch unter Stress abrufbar bzw. realisierbar sind; andererseits entsteht durch Training und zunehmende Erfahrung genau jene Fähigkeit, auch in Situationen mit hohem negativen Emotionspotential (Gefahr, Stress, Handlungsdruck, starke Emotionen bei anderen Einsatzkräften oder dem jeweiligen Gegenüber im Einsatz) den sprichwörtlichen „kühlen Kopf“ zu bewahren.
Fazit: Es ist hilfreich, sich gerade in neuartigen oder besonders zugespitzten Stresssituationen kurz von sich selbst zu entsetzen (sich gegenüber den eigenen Emotionen distanzieren) und sich zu fragen, was die momentanen Handlungsoptionen sind. Sonst läuft man Gefahr, durch automatisiertes Verhalten ggf. Fehler zu machen.
Einsatzkräfte kennen „Standard-Stresssituationen“, für die sie in der Ausbildung oder durch Erfahrung Reaktionsweisen und Routinen eingeübt haben. Hier geht es in der Regel nicht darum, sich jedes Mal von sich selbst zu entsetzen, um aus den eigenen Emotionen Gedanken werden zu lassen. Aber es gibt immer wieder Situationen, für die es noch keine „Blaupause“ gibt oder in denen die vorhandenen Blaupausen keine adäquaten Handlungsalternativen wären. Für solche Situationen ist die hier beschriebene Fähigkeit wichtig.
Stress ist nicht vermeidbar: Welche Formen des Umgangs mit Stress gibt es, und welche davon sind gesund?
Bei der Stressbewältigung (Coping) lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Strategien beobachten:
So genannte „instrumentelle“ Strategien haben zwar keine kurzfristige stressreduzierende Wirkung, sind aber langfristig wirksam und gesund. Hierzu zählen vor allem Schlaf, Bewegung und Ernährung. Entsprechende Verhaltenstipps oder ‑kataloge sind unübersehbar zahlreich, weshalb hier nur in wenigen Sätzen auf eine meines Erachtens recht hilfreiche Schlaf-Systematik eingegangen werden soll. Wenn es um den individuellen Umgang mit Stress geht, lautet meine oft erste Frage: „Darf ich fragen, wie und wie lange Sie im Durchschnitt schlafen?“
Im Grunde gilt die Regel, dass genug Schlaf hat, wer sich erholt fühlt. Die individuellen Unterschiede sind hier so groß, dass es keinen Sinn macht, eine „ideale Schlafdauer“ zu postulieren. In Bezug auf Stress lassen sich hingegen drei grobe Stufen beobachten:
- 7h: Genügend Schlaf
- 5h: Für manche Menschen ist auch das ausreichend, aber bei vielen ist eine durchschnittliche Schlafzeit von 5h bereits ein Zeichen für Belastung. Das hält man zwar mitunter sehr lange aus, aber langfristig gesund ist es nicht.
- 3h: Der Körper sendet Alarmzeichen.
Die zweite Gruppe von Stressbewältigungsstrategien werden „palliative Coping-Strategien“ genannt und haben eine vor allem kurzfristig/unmittelbar stressreduzierende Wirkung, sind aber langfristig gesundheitsschädlich. Bleibt es bei sporadischer Nutzung solcher Strategien, kann man ggf. noch von Genuss oder Hobby sprechen; kommt es hingegen zu regelmäßiger Anwendung, betritt man ggf. eine Grauzone, sprechen wir von täglicher Nutzung dieser Strategien über längere Zeiträume hinweg, muss mit negativen Folgen gerechnet werden. Im Prinzip gibt es zwei wesentliche palliative Strategien, nämlich Ablenkung (bspw. „zocken“) und Substanzen (bspw. Alkohol, Medikamente). Insbesondere Alkohol hat kurzfristig eine erheblich stressreduzierende Wirkung, wobei sich die negativen Folgen erst nach vergleichsweise langer Zeit zeigen.
Stress nicht überbewerten: Die Gefahr der Psychologisierung
In den vergangenen Jahrzehnten sind psychologische Begriffe und Methoden auch im Kontext von Einsatzorganisationen immer stärker berücksichtigt worden. Sind bspw. aus den Achtziger und Neunziger Jahren noch Fälle des negierenden oder „verdrängenden“ Umgangs bspw. mit schweren traumatischen Folgen von Einsätzen bekannt, so hat sich dieser Umgang spätestens in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewandelt. Das sich verbreitende Wissen zu posttraumatischen Balastungsreaktionen und die stärkere öffentliche Thematisierung solcher Einsatzfolgen gerade bei Soldaten und die stärkere Akzeptanz psychologischer Methoden sind nicht ohne Wirkung geblieben.
In diesem Zusammenhang gibt es m.E. folgende Dinge zu beachten und in der Führungspraxis zu berücksichtigen:
Die meisten psychologischen Modelle und Methoden sind im Prinzip für „durchschnittliche“ Menschen gültig und erprobt. Wenn wir aber vom Umgang mit Stress reden, dann erleben Einsatzkräfte in der Regel ein höheres Maß an „potentiell stressauslösenden Situationen“ bzw. sind durch entsprechende Erfahrungen in höherem Maße an den Umgang mit solchen Situationen gewöhnt. Auch lässt sich Stress bei der Ausübung eines „einsatzlastigen Berufs“ nicht so einfach reduzieren, wie das vielleicht in anderen Berufsfeldern möglich wäre.
Das bedeutet praktisch, dass die Grauzone zwischen „gesund“ und „belastet“ unter Einsatzkräften breiter als unter der Normalbevölkerung. Es gibt ja keine genauen Kriterien für „gesund“, „belastet“ oder „gestört“, auch nicht für die Normalbevölkerung, sondern es gibt Grauzonen und diagnostische Instrumente für eine begriffliche Annäherung an den einzelnen Fall. Freilich gibt es prototypische Symptombilder, aber in der Regel entspricht ein konkreter Fall nicht gänzlich dem Prototypen. Aufgrund des einsatz-spezifisch höheren „Belastungshorizonts“ ist damit zu rechnen, dass die an der Durchschnittsbevölkerung geeichten Diagnoseinstrumente für Einsatzkräfte nicht adäquat sind. Das kann im Einzelfall bspw. die Feststellung einer Symptomatik bedeuten, die zu einer unangemessenen Bewertung (Diagnose) führt. Deshalb ist eine gewisse Vorsicht bei der Anwendung psychologischer Methoden notwendig bzw. ist auf psychologische Fachkräfte zurückzugreifen, die sich mit den spezifischen Belangen von Einsatzkräften auskennen. Wer z.B. ansonsten regulär therapeutisch arbeitet und keine persönlichen Erfahrungen mit Einsätzen oder mindestens umfangreiche Erfahrungen in der Arbeit mit Einsatzkräften hat, kann für eine solche Arbeit ungeeignet sein.
Des Weiteren ist zu beachten, dass sich durch die Verbreitung psychologischen Wissens und der mit der Zeit gewachsenen Akzeptanz und heute häufigeren Anwendung entsprechender Methoden auch eine gewisse Gefahr der Überstrapazierung psychologischer Kategorien ergibt — bis hin zu der praktisch sicher schwer zu thematisierenden Gefahr des gleichsam „vorbeugenden Missbrauchs“ von Diagnosen durch Einsatzkräfte.
Was bedeutet das? Im Grunde kommen Einsatzorganisationen, zugespitzt formuliert, eher aus einer „Gewohnheit des Verdrängens“ — Einsatzfolgen für die Psyche wurden lange eher ignoriert als thematisiert, im Einzelfall bis hin zur aktiven Stigmatisierung Betroffener. Betroffenen ist mehr geholfen, wenn tatsächliche psychische Folgen für die Psyche thematisiert werden können bzw. entsprechende Methoden Anwendung finden. Allerdings muss diese Anwendung adäquat erfolgen und darf m.E. nicht etwa zu einem „Primat des Psychologischen“ in Gestalt unangemessener Psychologisierungen führen. Das Primat liegt immer auf dem Zweck der Organisation — also auf den Einsätzen, und bei der Durchführung von Einsätzen kann und wird es zu belastenden Situationen kommen. Das muss sowohl bei der Führung als auch bei Prävention (also bspw. der Vorbereitung von Einsatzkräften auf bestimmte Situationen) und Nachsorge berücksichtigt werden, denn ein zu hohes Maß an vorbereitender Sensibilisierung hat ggf. negative Folgen für die Einsatzstärke.
Wenn sich Einsatzkräfte betrogen fühlen und deshalb Belastungsreaktionen zeigen: moral injury
Die zuletzt kurz angesprochenen negativen Folgen für die Einsatzmotivation bzw. ‑stärke werden m.E. insbesondere am Begriff der „moral injury“ deutlich. Bevor wir genauer darauf eingehen, lohnt es sich, etwas weiter auszuholen.
Im Grunde finden Einsätze in einem Spannungsfeld aus mindestens vier starken Gruppen von Faktoren statt:
- Zunächst gibt es die gesetzlichen Grundlagen. Einsatzkräfte handeln innerhalb eines strengen rechtlichen Rahmens — es gibt definierte Einsatzanlässe und ‑abläufe und viele zu beachtende Regeln und Verbote. Dem individuellen Ermessen im Einsatz sind entsprechend enge Grenzen gesetzt. Hier können sich Spannungen zwischen geltendem Recht und individueller Bewertung einer Situation ergeben.
- Einsatzorganisationen weisen zudem eine vergleichsweise strikte Hierarchie auf — Vorgehensweisen können im Vorfeld oder im Nachgang reflektiert werden, im Einsatz jedoch gibt es wenig Möglichkeiten, einen Befehl oder Auftrag zu hinterfragen, es sei denn, der Einsatz widerspräche in eklatanter Weise geltendem Recht oder würde zu einer unverhältnismäßigen Gefährdung von Leib und Leben führen. Hier können sich Spannungen zwischen dem individuellen Ermessen und den Vorgaben durch Vorgesetzte ergeben.
- Des Weiteren gibt es noch die Ebene der konkret handelnden Personen — also die individuellen Einsatzkräfte mit ihren persönlichen Handlungsmaßstäben und Wertvorstellungen. Hier können sich Spannungen zwischen den Maßstäben und Wertvorstellungen der individuellen Einsatzkraft und den mit dem Einsatz verbundenen Zielstellungen ergeben. Einfache Beispiele wären etwa ein Einsatz gegen Demonstranten, deren Ziele man als Privatperson nicht unsympathisch findet, oder Einsätze, deren Durchführung man selbst für unverhältnismäßig oder unangemessen hält.
- Eine starke, aber oft zu wenig berücksichtigte, weil schwer zu fassende Ebene ist die des „gesellschaftlichen Rückhalts“ bzw. der im gesellschaftlichen Diskurs verhandelten Legitimation von Einsätzen. Ist die gesellschaftliche Stimmung eher für die fragliche Art oder Form von Einsätzen, kann sich das positiv auf die Moral von Einsatzkräften auswirken. Werden Art und Form bestimmter Einsätze jedoch zunehmend hinterfragt oder wird, wie jüngst im Falle bestimmter militärischer Eliteeinheiten, die Legitimation der Existenz der Einheiten insgesamt infrage gestellt, kann dies zu einer Schwächung der Moral der betreffenden Einsatzkräfte bis hin zur „moral injury“ führen.
Unter „moral injuries“ werden psychische Folgen bis hin zu Phänomenen ähnlich einer posttraumatischen Belastungsreaktion verstanden, die durch wahrgenommene moralische Diskrepanzen entstehen, etwa
- zwischen dem Einsatzzweck und persönlichen Moral- und Wertevorstellungen oder
- zwischen dem kommunizierten Einsatzzweck und den gewählten Einsatzmitteln oder der ggf. ausbleibenden Einsatzwirkung (bspw. überdauernde Erfahrung der Wirkungslosigkeit von Einsätzen, etwa durch fortdauerndes Auftreten von Gewalt bei eigener Ohnmacht, das zu ändern) oder auch
- fehlenden gesellschaftlichen Rückhalt in Bezug auf den Einsatz bzw. den Einsatzzweck.
Wenn zum Beispiel die folgenden Faktoren zusammenwirken:
- wiederholt beobachtetes Leid beim Gegenüber, insbesondere bei Kindern,
- beobachtete Überforderung von Führungskräften (oder Fehlentscheidungen) und
- hohe Einsatzdichte über längere Zeit hinweg verbunden mit Schlafmangel,
dann kann dies bei ggf. ohnehin vorhandener Diskrepanz zwischen den Einsatzzielen und persönlichen Wertvorstellungen, bei ausbleibendem Einsatzerfolg oder fehlender gesellschaftlicher Legitimation des Einsatzes (bspw. spürbar durch Entfremdung im Gespräch mit Angehörigen oder Freunden) zu Schuld- und Schamgefühlen führen, die wiederum sozialen Rückzug bewirken. Der wesentliche Unterschied zwischen der moral-injury-Belastungsreaktion und einer posttraumatischen Belastungsreaktion liegt in dem Gefühl, moralisch falsch gehandelt zu haben. Betroffene Einsatzkräfte können sich betrogen fühlen und mit Wut und moralischer Desorientierung reagieren.
Jede Einsatzkraft handelt im Spannungsfeld zwischen gesetzlichen Grundlagen, Vorgaben durch Vorgesetzte, gesellschaftlicher Legitimation und eigenem Ermessen bzw. eigenen Wertvorstellungen. Es kommt auf die Vorgesetzten an, die richtigen Worte bei der Kommunikation von Einsatzzielen und ‑zwecken zu finden und angemessen auf mögliche Äußerungen der genannten Spannungen zu reagieren.
Die wichtigste Einflussvariable bleibt die Bindung zwischen den Einsatzkräften sowie zwischen den Einsatzkräften und ihrer Führungskraft. Diese Bindung bildet den Kern der Einsatzstärke, und eine angemessene, die Spannungen einerseits anerkennende, das Einsatzziel dennoch nicht aus den Augen verlierende Kommunikation hilft, diese Bindung aufrechtzuerhalten und den sich aus individuellen Schuld- und Schamgefühlen ergebenden Rückzugstendenzen entgegenzuwirken.
Es ist deshalb ratsam, im Bedarfsfall regelmäßig über diese Spannungen zu sprechen und ihr Vorhandensein nicht „wegzudiskutieren“. Es geht darum, ein Gefühl zu erzeugen, vor dem Hintergrund des Einsatzziels und der situativen Gegebenheiten alles richtig gemacht zu haben. Es geht um die Stärkung der gemeinsamen Moral durch die Beantwortung der folgenden Fragen:
- Was war unser Auftrag?
- Was war überhaupt möglich?
- Was haben wir warum gemacht?
- Was hat es bewirkt?
- Was konnte es bewirken?
- Wo sind Grenzen, die wir akzeptieren müssen?
- Welche Werte stehen mit unseren Handlungen im Konflikt?
- Inwiefern können wir das ändern?
Durch eine (realistische!) Beantwortung dieser Fragen beruhigen sich die moralischen Konflikte in der Regel, weil die Betroffenen die Erfahrung machen, dass es anderen genauso geht, und dass es Restriktionen gibt, nach dem Motto: „Wir können nicht die Welt retten, aber wir können unseren Job machen und akzeptieren, dass nicht mehr geht. Wir müssen hinnehmen, dass wir dafür nicht gemocht werden, aber wir tun es trotzdem, weil das unser Job ist.“
Die Gratwanderung zwischen der zunehmenden Hinterfragung polizeilicher Vorgehensweisen und der Sicherung der Einsatzstärke
Bleiben wir noch ein wenig beim Thema „Einsatzstärke“. Deutlicher formuliert, als das gegenwärtig vielleicht üblich ist, bedeutet die Führung von Einsatzkräften zunehmend auch eine Gratwanderung. Auf der einen Seite gilt es, den Zusammenhalt und die Einsatzstärke von Einsatzkräften zu sichern. Auf der anderen Seite bedeutet Führung auch, mit der sich aus dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs bzw. entsprechend polarisierten Diskussionen über Polizeieinsätze und der Art und Weise mancher Berichterstattung ergebenden, insgesamt zunehmenden Hinterfragung von polizeilichen Vorgehensweisen umzugehen. Diese Gratwanderung ist alles andere als einfach.
Es ist ein wesentliches Element nicht nur journalistischer Freiheit, sondern der Freiheit jedes Einzelnen, unrechtmäßige Handlungen, sei es vonseiten anderer Bürger, vor allem aber auch vonseiten des Staates und seiner Behörden zu hinterfragen. Ich darf anmerken, wenn mir etwas nicht passt, ich kann mich beschweren, ich kann klagen — und ich kann Recht bekommen oder nicht.
Hierbei handelt es sich um ein in unserer Gesellschaft unverzichtbares Recht.
Was passiert aber, wenn dieses Recht nicht nur genutzt wird, wenn tatsächlich ungerechtfertigte Ein- oder Übergriffe vorgenommen werden? Was ist, wenn ich dieses Recht nutze, weil ich es kann, quasi als prophylaktisch-unterstützende Maßnahme zur Erreichung meiner Ziele?
Ein Beispiel: Wenn es auf einer Demonstration gegen einen G20-Gipfel zu unverhältnismäßiger Polizeigewalt kommt, dann soll man das entsprechend anzeigen können — in der Hoffnung, dass es entsprechende Ermittlungen gibt. Was passiert aber, wenn man stattdessen selbst in schwerstem Ausmaß marodiert, nur um sich, wenn man erwischt wird, mehr oder minder sofort der Hilfe eines ehrenamtlich arbeitenden Anwalts versichern kann, der einem rät, sofort „strategisch“ den Vorwurf der Polizeigewalt zu erheben?
Im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren ist strategische Kommunikation nichts Ungewöhnliches. Was passiert aber, wenn die Hinterfragung einer Gegenseite zunehmend in Situationen verwendet wird, die in unserer Gesellschaft alltäglich sind. Ein banales Beispiel: Ein Student bat mich um Klausureinsicht. Als die Einsicht keine zusätzlichen Punkte zutage förderte und wir uns einig waren, dass sich an der Bewertung nichts ändert, stellte ich die Frage nach dem Grund für die Klausureinsicht. Die Antwort: „Am Gymnasium hat das immer geklappt.“ Aha. Also keine Hinterfragung aus dem Verdacht heraus, ungerecht behandelt worden zu sein, sondern eine Hinterfragung, weil man es eben kann — und sich so die Komfortzone etwas erweitert.
Wenn das Schule macht (und an einigen Hochschulen führt das mittlerweile zu einer Art „1,0 für alle“, dann hat das dramatische Folgen: Menschen, die eigentlich etwas entscheiden sollen, halten sich prophylaktisch zurück, um keinen Ärger zu bekommen.
Mittlerweile sind auch unter Einsatzkräften Anzeichen einer solchen „vorbeugenden Zurückhaltung zu beobachten. Spätestens an dieser Stelle gerät die Einsatzstärke unter Druck bzw. wird die Einsatzstärke geschwächt — zugunsten einer an dieser Stelle völlig falsch verstandenen Gerechtigkeit oder Korrektheit.
Ich möchte behaupten, dass es sich bei dieser Gratwanderung um eine der wesentlichen Herausforderungen an Führungskräfte in Einsatzorganisationen der kommenden Jahrzehnte handelt. Eine stete — ebenso intern gehaltene wie offene — Reflexion der Handlungen in Einsätzen vor dem Hintergrund des gesetzlichen Rahmens scheint das beste Instrument zu sein, der Hinterfragung etwas entgegen zu setzen. Dies ist im Sinne einer internen Auseinandersetzung um die Interpretation der Auslegung von Einsatzzielen und ‑mitteln gemeint, nicht im Sinne der oft von außen geforderten „lückenlosen Aufklärung“ oder etwa der Beteiligung externer „Moralinstanzen“. Lässt man Einsatzeinheiten über Jahre unreflektiert tun, was sie tun, entwickeln sich Besonderheiten. Das ist zunächst ein normaler Vorgang. Es braucht m.E. daher organisationsinterne Prozesse, die potentiell hinterfragungswürdige Entwicklungen tatsächlich hinterfragen und Grenzen setzen. Dann würde das die Einsatzstärke sichern. Gefährlich für die Einsatzstärke wäre hingegen eine vollkommen transparente Hinterfragung durch externe Stellen, denn das würde zu Varianten der beschriebenen prophylaktischen Zurückhaltung führen.
Manche kritische externe Stimme wird nun anmerken, dass eine lediglich interne Kontrolle regelmäßig versagen wird. Die negativen Folgen einer versagenden internen Kontrolle wiegen aber ebenso schwer wie die negativen Folgen einer falsch verstandenen transparenten Kontrolle von außen, die ja oft genug in der Gestalt generalisierender Unterstellungen daherkäme und entsprechend einseitig bliebe — und also mindestens zu prophylaktischer Zurückhaltung, wenn nicht zu moral injuries führen würde. Die richtige Schlussfolgerung lautet deshalb meines Erachtens, die besagte Gratwanderung zur Aufgabe entsprechend reflektierter höherer und mittlerer Führungskräfte zu machen.
Zu der zuletzt beschriebenen „Kultur der Hinterfragung“ siehe auch unser gleichnamiges Buch.