Es ist leicht, aus guten Zeiten etwas zu lernen. Gute Zeiten sorgen vor allem für den Wunsch nach noch mehr guten Zeiten. Es soll noch besser werden. Mindestens soll das Erlangte aber gehalten werden. Gute Zeiten machen bequem: man lernt, vieles für selbstverständlich zu nehmen.
Doch was machen wir, wenn die Zeiten schlechter werden? Wenn sich Menschen aus dem Kreise derer abmelden, die daran glauben, dass wir es schaffen?
Gerade eben hatten wir doch noch gute Zeiten. Was ist passiert?
Dass sich die Zeiten ändern, merkt man daran, dass es schwerer wird, aus den Geschehnissen schlau zu werden. Viele fragen sich, wie es weitergeht, wie wir mit dem Wandel umgehen sollen.
Komisch: Eigentlich geht es uns gut! Wir haben schon lange Frieden, wir leben in einem Land mit einer hohen Wirtschaftsdynamik, wir haben ein Gesundheitssystem, das niemanden ausschließt, niemand muss verhungern, und egal, welches Plaisierchen man pflegt – man findet in der Regel Gleichgesinnte. Bei allem, was es bisweilen zu meckern gibt: andernorts ist keineswegs selbstverständlich, was wir gewohnt sind. Vom Strom ohne Unterbrechung über warmes Wasser, ärztliche Versorgung bis hin zur finanziellen Grundsicherung und so weiter.
Es ist ganz einfach, diejenigen, die ihren Zweifel am Wandel (oder auch nur seiner Geschwindigkeit) haben, als ewig Gestrige, Reaktionäre, Rechte usw. abzutun. Genauso einfach ist es, sich schlimmer Vorurteile zu bedienen, diese hochzujubeln und grundsätzlich und (beinahe) immer „dagegen“ zu sein. Beide Seiten begehen drastische Vereinfachungen und gehen dementsprechend herzlich aufeinander los. Die notwendige Auseinandersetzung, der von Respekt gekennzeichnete Dialog, die Suche nach dem Machbaren geraten dabei erst aus dem Blick, später werden sie mit zunehmender Polarisierung unmöglich.
Wie dünn der zivilisatorische Firniß ist, merkt man an ganz alltäglichen Situationen. Kürzlich an der montenegrinischen Grenze: Stau vor dem Grenzübergang hinein nach Montenegro, stundenlanges Warten, die Straße nur zweispurig, plötzlich kommen von weit hinten Autos an der Warteschlange vorbei und blockieren neben uns den Fahrstreifen für die Gegenseite. Gedrängel, Gehupe, es wird ausgestiegen, gestikuliert, diskutiert, herumgeschrien, nachrückende Autos fahren sehr dicht auf, niemand soll reingelassen werden, ein alter Mann versucht zu vermitteln, fragt herum, sucht Optionen, dirigiert, ein weißer Lieferwagen schießt, fast im Straßengraben, auf einer nicht existierenden dritten Spur an allen vorbei, manche geben auf, lassen ein paar der Drängler rein, bei anderen eskaliert es weiter, am Ende ist es so schnell vorbei, wie es angefangen hatte. Wer die Gegend kennt, wird vielleicht sagen: nicht ungewöhnlich.
Es geht hier nicht um Grenzstaus in Ex-Jugoslawien, es geht um das Muster, welches hinter diesem Beispiel steckt:
In einer Kultur haben sich mit den Jahren Regeln herausgebildet – ob sie demokratisch oder autoritär entstanden sind, ist den Regeln dabei ziemlich egal. Für „Otto Normalverbraucher“ bilden diese Regeln ein beinahe unbewusstes Orientierungssystem. So wussten Ostdeutsche in der Regel intuitiv sehr genau, wann und wo sie bestimmte Dinge sagen konnten und wo nicht. In guten Zeiten werden die Regeln nicht hinterfragt, sie festigen sich weiter. Irgendwann werden die ersten unzufrieden und beginnen, die Regeln in Frage zu stellen, äußern sich, finden andere, begehen die ersten Regelbrüche. Nach einer Weile kommt der Punkt erster Drohungen und erster Gewaltanwendungen. Wenn nun etwa die Polizei und andere Organe unsicher handeln, sich an entscheidenden Stellen zurückhalten, verunsichert das die Bevölkerung. Die Akteure fühlen sich dadurch umso mehr im Recht, treten noch drastischer auf. Langsam bröselt das, was eine Zivilisation zusammenhält, auf diese Weise vor sich hin. Anfangs sind die Risse fein, kaum merkbar. Dann bringen die Leute Galgen mit auf eine Demonstration, später Pflastersteine. Dann zünden sie Polizeiautos und Häuser an. Erst ohne Menschen drin – und dann?
Was könnten wir aus den heutigen Zeiten lernen?
Am Ehesten, dass wir uns verdeutlichen sollten, was Frieden heißt. Man muss die Eskalation anschauen – also Polizisten (oder im Kriegsfall: Soldaten) befragen – um zu verstehen, was Frieden ist. Der m. E. grundlegende Fehler der Friedensbewegten ist, vor allem den Frieden anzuschauen und darüber zu reden, wie man Frieden machen könnte. Das reicht nicht. Frieden braucht eine Verfassung, einen Rahmen, und er braucht Schutz. Völlige Gewaltfreiheit hat eine zwingende Voraussetzung: den Verzicht auf Macht. Ich möchte bezweifeln, dass die Menschheit in der Lage ist, gänzlich ohne Macht und Gewalt zu leben. Macht und Gewalt sind Teil unserer Kulturen, und es bedarf in diesen Kulturen eines Lernprozesses, um die Gewalt zu zähmen. Ich meine deshalb, dass das Bewusstsein darum, was Krieg eigentlich ist, was er zeitigt, der bessere Friedensmacher ist. Wenn dieses Bewusstsein schwindet, schwadroniert es sich nur allzu leicht.
Die Konsequenzen von Kriegen haben nichts mit den Gründen zu tun, um derentwillen sie begonnen wurden. Das ist denen klar, die im Krieg gestorben sind, nur können sie es nicht mehr sagen. Hat der Krieg lange genug gedauert und kam er nah genug, ist das auch denen klar, die das Gemetzel überlebt haben. Man sehe sich ein Land nach einem Krieg an: man ist froh, dass es vorbei ist, man genießt die Ruhe, man zieht sich zurück, man verdrängt, man besinnt sich darauf, was wirklich wichtig ist, man will nur leben.
Wir sollten lernen, dass wir (eigentlich) in guten Zeiten leben. Aus dem Umstand, dass die Zeiten gerade schlechter werden, sollten wir lernen, nichts für selbstverständlich zu nehmen. Wir sollten den Frieden, der hier herrscht, achten und erhalten – und diejenigen respektieren, die ihn schützen. Dazu gehört auch, dialogbereit zu bleiben und nicht alles zu hinterfragen, nur weil man es kann.