Über falsche Selbstbilder und die Fähigkeit zu lügen

Der Ver­dacht, nicht echt zu sein

Es ist ein Ver­dacht, der einen beschleicht. Ein komi­sches Gefühl, das man nicht haben möch­te. Gegen­über ein guter Freund. Das Gespräch wird erns­ter, offe­ner. Es geht dar­um, was wirk­lich los ist. Ein Gedan­ke: „Das pas­siert sel­ten genug. Sei froh, dass Du so einen Freund hast. Einen, der Dich lei­den kann, obwohl er Dich kennt. Einen, der Dich aus­hält.“ Doch dann die­ses Gefühl zu lügen. Nein, das kann nicht sein. Ich sage doch die Wahr­heit. Irgend­wie traut man sich selbst nicht über den Weg. Die ret­ten­den Reak­tio­nen des Gegen­übers: „Mir wür­de es genau­so gehen. Ich ver­ste­he Dich da. Was hät­test Du machen sol­len?“ Erleich­te­rung. Als hät­te man dar­auf gewartet.

Was ist da los? Woher kommt das Gefühl, sich selbst nicht zu trau­en? Als brau­che man den ande­ren, um sich selbst zu glauben.

„Ich will nur Dein Bes­tes, und Du benimmst Dich so unmög­lich, dass ich ganz trau­rig bin und nicht mehr weiß, was ich noch mit Dir machen soll! Am liebs­ten wür­de ich mir einen Strick neh­men, so böse, wie Du bist. Ich schä­me mich, dass Du mein Kind bist. Ich habe mir das anders vorgestellt!“

Wie man lernt, sich selbst nicht zu vertrauen

Selbst­ver­trau­en ist etwas, das in der Kind­heit ent­steht. Es kommt dar­auf an, ob Eltern ihrem Kind ver­mit­teln, dass es ange­nom­men ist. Oder ob sie ihr Kind hin­ter­fra­gen, ihre Lie­be an Bedin­gun­gen knüp­fen oder ihm ver­mit­teln, es sei nicht in Ord­nung so, wie es ist. Die Ent­wick­lung der kind­li­chen Per­sön­lich­keit strebt nach Ent­fal­tung. Die­se Erkennt­nis wird heu­te oft miss­ver­stan­den, indem Kin­dern kei­ne Auto­ri­tät mehr gegen­über­ge­stellt wird. Doch ohne Ori­en­tie­rung kann sich ein Kind nicht ent­fal­ten. Doch hier geht es nicht um das Feh­len von Auto­ri­tät, son­dern um die Ver­hin­de­rung der Ent­fal­tung. Man darf – und soll­te – einem Kind sagen, wenn es etwas falsch macht. Aber man darf ihm nicht ver­mit­teln, dass es falsch ist. Für Din­ge, die ein Kind tut, kann man das Kind kri­ti­sie­ren. Man darf ihm aber nicht das Gefühl geben, dass es gene­rell uner­wünscht oder unmög­lich ist. Man soll­te nicht mit dem Ent­zug der Bezie­hung dro­hen oder die­sen gar durch­füh­ren. „Wir brin­gen Dich jetzt ins Kin­der­heim, wenn Du nicht auf­hörst, uns zu ner­ven.“ ist eine pro­to­ty­pi­sche Vari­an­te einer weit­ge­hen­den Infra­ge­stel­lung der Exis­tenz eines Kindes.

„Mein Gefühl stimmt nicht.“ ist ein Satz, zu einer exis­ten­ti­el­len Hin­ter­fra­gung der eige­nen Per­son führt. Anders aus­ge­drückt: Man kann mit die­sem Satz nicht leben.

Weil man aber trotz­dem lebt und mit sich und der Welt klar­kom­men möch­te, wird die­se exis­ten­ti­el­le Hin­ter­fra­gung ver­drängt. Man lernt, sich selbst nicht zu ver­trau­en und sich statt­des­sen ein Wunsch­bild von sich auf­zu­bau­en – in der Hoff­nung, so nach außen das Bild eines lie­bens­wer­ten Men­schen zu erzeugen.

Die­ses Wunsch­bild ent­spricht nicht der Rea­li­tät, man han­delt aber zuneh­mend so, als ob es der Rea­li­tät ent­sprä­che. Man sorgt also in der äuße­ren Welt für Reak­tio­nen, die das Wunsch­bild bestä­ti­gen, und zwar solan­ge, bis wir selbst glau­ben, dass wir die­se Per­son sind.

Wie sich Lebens­lü­gen vererben

An die­ser Stel­le sei ange­merkt, dass wir alle mehr oder weni­ger star­ke Wunsch-Selbst­bil­der haben und ent­spre­chen­de Bestä­ti­gung brau­chen. Es geht hier um die Fra­ge, wo die Gren­ze zwi­schen einem gesun­den Selbst­ver­trau­en und der Abhän­gig­keit von der Bestä­ti­gung des Ersatz-Selbst­bil­des durch ande­re ver­läuft. Im Fal­le gesun­den Selbst­ver­trau­ens ertra­ge ich es, mit mei­ner Mei­nung auch ein­mal allein zu blei­ben. Im Fal­le der Abhän­gig­keit von der Bestä­ti­gung durch ande­re ken­ne ich mich kaum und lebe mehr oder weni­ger fremd­be­stimmt, indem ich mich an dem Ziel ori­en­tie­re, in ande­ren mög­lichst sol­che Reak­tio­nen her­vor­zu­ru­fen, die eben nicht mich, wie ich bin, son­dern mein selbst geschaf­fe­nes kom­pen­sa­to­ri­sches Bild von mir bestätigen.

Bei­spiel Hel­fer­syn­drom: Weil ich mich nicht so aus­hal­te, wie ich bin, und weil ich die Unsi­cher­heit, die mich in der Nähe ande­rer Men­schen befällt, kaum ertra­ge, suche ich mir eine Rol­le, in der ich einen her­aus­ge­ho­be­nen Sta­tus genie­ße. Hel­fern ist man dank­bar. Bleibt die Dank­bar­keit aber aus, reagie­re ich ent­spre­chend unsi­cher bzw. ver­är­gert. Man bestä­tigt mich nicht – was mich ent­we­der anspornt, noch mehr zu hel­fen, oder, falls dies nicht funk­tio­niert, das jewei­li­ge Gegen­über abzu­wer­ten („Die haben so vie­le Pro­ble­me, sehen das aber gar nicht ein!“) oder mich kom­plett abzu­wen­den („So ein undank­ba­rer Mensch! Was ich alles für ihn gemacht habe. Dafür kann ich doch min­des­tens ein biß­chen Dank­bar­keit erwar­ten, oder?“).

Im Grun­de wie­der­holt man dann, was die Eltern einem vor­ge­lebt haben, und zwar eben­so unbe­ab­sich­tigt wie unbe­merkt. Vie­le han­deln sogar in dem Glau­ben, dass sie völ­lig anders als ihre Eltern sei­en. Und sind von der Erkennt­nis, dass dem nicht so ist, so geschockt, dass sie dies nicht wahr­ha­ben wol­len und dem­je­ni­gen, der die ent­spre­chen­de Kon­fron­ta­ti­on aus­ge­spro­chen hat, mit dem Abbruch der Bezie­hung dro­hen. Ihrer­seits haben es die Eltern in der Regel nicht böse gemeint. Sie wuss­ten es ihrer­seits zumeist nicht bes­ser und haben selbst nur ver­sucht, ihre eige­nen Wun­den zu ver­ber­gen. Auch die Eltern hat­ten in der Regel Wunsch­bil­der von sich, also – dras­tisch for­mu­liert – Lebens­lü­gen, die sie auf­recht erhal­ten wollten.

Die schwers­te Lektion

„Dein Gefühl stimmt nicht!“ heißt im Grun­de: „Ich stel­le Dich in Fra­ge, weil ich dadurch an mei­ner Welt fest­hal­ten kann. Ich weiß, dass ich über­for­dert und genervt bin, aber das gebe ich nicht zu. Ich will auch nicht wis­sen, war­um ich so bin. Ich will, dass Du mir das Gefühl gibst, dass alles in Ord­nung ist. Des­halb kann es nicht sein, dass Du so fühlst, wie Du fühlst. Schau, was ich alles für Dich getan habe! Ich mei­ne es doch gut! Dafür darf ich auch erwar­ten, dass Du sorg­sam mit mir umgehst. Ach, ich weiß, Du bist zu jung dazu. Aber das lernst Du schon noch. Komm, sei schön lieb, setz Dich her, Dein Anfall geht schon wie­der vor­bei. Ich habe Dich lieb, wenn Du lieb zu mir bist. Alles ande­re wür­de mich umbrin­gen, und Du willst doch nicht, dass ich mir einen Strick neh­me, oder?“

Die­se Sät­ze sind eine Mischung aus Gedan­ken, die kaum jemand so aus­spre­chen wür­de, und Sät­zen, die Kin­dern tat­säch­lich gesagt wer­den. Durch sol­che Gedan­ken und Sät­ze wer­den Kin­der mani­pu­liert und dazu gebracht, die Welt des betref­fen­den Eltern­teils zu bestä­ti­gen. Und das alles, weil sich jemand selbst nicht lieb haben kann! Weil es ihm aus­ge­trie­ben bzw. „weg­ma­ni­pu­liert“ wur­de. Sich selbst lieb haben – klingt ein­fach, aber ist wohl die schwers­te Lek­ti­on, die ein Mensch im Leben ler­nen kann.

Men­schen mit Wunsch-Selbst­bil­dern brau­chen die Bestä­ti­gung von außen und machen sich vom Urteil ande­rer abhän­gig. Sie leben qua­si für die Mei­nung ande­rer und nicht für sich selbst. Weil man nicht weiß, wer man selbst ist, lässt man das von sich geschaf­fe­ne Bild von ande­ren bestä­ti­gen. Des­halb sind die Gefüh­le ande­rer wich­ti­ger als die eige­nen Gefüh­le. Daher der Ver­dacht, im Grun­de nicht echt zu sein.

Inne­re Käl­te als Preis für das Ersatz-Selbstbild

Ein Ersatz-Selbst­bild zu schaf­fen und zu sei­ner Erhal­tung sich selbst und ande­re zu belü­gen, bedeu­tet letzt­lich eine Ent­fer­nung von sich selbst. Weil sich jemand nicht so anneh­men kann, wie er ist und sich nicht ver­traut, geht er in die Distanz zu sich selbst – aber nicht im Sin­ne eines reflek­tie­ren­den Nach­den­kens über sich, son­dern im Sin­ne eines vom „Anders-Sein“ träu­men­den, das eigent­li­che Selbst ver­leug­nen­den Ersatz-Selbst­bil­des. Man sorgt durch ent­spre­chen­de Hand­lun­gen für die Bestä­ti­gung durch ande­re und sta­bi­li­siert so das Ersatz-Selbst immer mehr, bis man sich soweit von sei­nem eigent­li­chen Selbst ent­fernt hat, dass man nicht mehr dar­auf zugrei­fen kann. Das Resul­tat ist eine bei­na­he voll­stän­di­ge Fokus­sie­rung auf die Emo­tio­nen ande­rer unter Ver­nach­läs­si­gung der eige­nen Emo­tio­nen. Man „erkal­tet“ in Bezug auf sich selbst – und damit auch ande­ren gegen­über. 

Das klingt zunächst para­dox, rich­ten Betrof­fe­ne doch ihren Fokus auf die Emo­tio­nen ande­rer. Sie tun dies aber nicht in ers­ter Linie empa­thisch, son­dern zunächst in gewis­ser Wei­se „berech­nend“, denn sie beob­ach­ten die Reak­tio­nen ihres Gegen­übers, um ihre eige­nen Hand­lun­gen auf das Gegen­über „abzu­stim­men“. Wirk­li­che Empa­thie wür­de ein „ech­tes Selbst“ vor­aus­set­zen, genau die­sem traut man aber nicht – und damit auch nicht den eige­nen Emo­tio­nen. Der Preis für das Ersatz-Selbst ist also eine mehr oder weni­ger „kal­te Berech­nung“ des Mit­ein­an­ders. Sein fal­sches Selbst zu erken­nen wür­de zur Fol­ge haben, tief­grei­fend über sein Leben nach­zu­den­ken und es ggf. zu ändern. Weil man sich aber selbst nicht traut und die Reak­tio­nen des Umfelds auf das eigent­li­che, unsi­che­re, aus der Erfah­rung der Nicht­ak­zep­tanz oder des Unge­liebt­seins resul­tie­ren­de Selbst kaum ertra­gen kann, hat man sich ja das ande­re, das gute, geach­te­te, ange­se­he­ne usw. Ersatz-Selbst­bild oder Wunsch-Selbst­bild geschaf­fen. Und damit man nie mehr die Erfah­rung machen muss, nicht geliebt zu wer­den, hält man an die­sem Ersatz-Selbst­bild fest und lebt, zuge­spitzt for­mu­liert, sei­ne ganz eige­ne Lebens­lü­ge – aller­dings um den Preis einer gewis­sen Käl­te zu sich selbst und zu anderen.

Wie kommt man da heraus?

Man­che der bis­he­ri­gen Dar­stel­lun­gen könn­ten den Ein­druck erwe­cken, die Schaf­fung eines Ersatz-Selbst­bil­des sei ein absicht­li­cher Pro­zess, der mit einer bewuss­ten Ent­schei­dung beginnt. Dem ist nicht so. Nie­mand ent­schei­det das, es geschieht ein­fach, und zwar durch ganz selbst­ver­ständ­li­che, all­täg­li­che Inter­ak­ti­on. Allein der Umstand, all das in sol­cher Aus­führ­lich­keit zu beschrei­ben und Wor­te zu fin­den für etwas, das unbe­wusst abläuft, könn­te den besag­ten Ein­druck hin­ter­las­sen. Auch die spä­ter wirk­sa­men Ersatz-Selbst­bil­der sind nicht bewusst – sie erset­zen ja das Selbst um den Preis der beschrie­be­nen Selbst-Ent­frem­dung bzw. emo­tio­na­len „Erkal­tung“. Was bewusst wer­den kann, ist ein gewis­ses Unbe­ha­gen, sind Fremd­heits­ge­füh­le in Bezug auf sich selbst, sind ggf. Sym­pto­me. Dass es sich um einen bei­na­he voll­stän­di­gen Ersatz han­delt und die damit ver­bun­de­nen Reak­tio­nen „auto­ma­tisch“ ablau­fen, zum Wunsch- oder Ersatz-Selbst­bild oder „fal­schen Selbst“ (Maaz) auch eben­sol­che „fal­schen“ Emo­tio­nen gehö­ren, wird anhand des fol­gen­den Abschnitts über die „sym­bio­ti­sche Krän­kung“ klar. 

Emo­tio­nen kön­nen ja eigent­lich nicht falsch sein – sie sind ja da. Aber wenn die gan­ze Iden­ti­tät durch die Erfah­rung des Unge­liebt­seins, der exis­ten­ti­el­len Hin­ter­fra­gung usw. regel­recht ersetzt wur­de, dann han­delt es sich auch bei den Emo­tio­nen um zu einer Mas­ke pas­sen­den bzw. ent­spre­chend „berech­ne­ten“ Ersatz. Nur mit dem Umstand, dass man das dann nicht bemerkt. Aus dem Bedürf­nis, mit einer exis­ten­ti­el­len Hin­ter­fra­gung ein­her­ge­hen­den Schmerz zu ver­mei­den, erwächst eine Selbst-Ent­frem­dung, die zum Ver­lust des Selbst­ver­trau­ens führt. Die viel­ver­spre­chen­de Lösung ist ein Ersatz-Selbst­bild, das mühe­voll auf­ge­baut und auf­recht­erhal­ten wer­den muss. Man bleibt qua­si in der Ver­ban­nung der Selbst-Ent­frem­dung, tut aber so, als wäre dem nicht so, son­dern als wäre alles „hei­le“. Der Preis dafür ist erkal­te­tes oder „berech­ne­tes“ Leben. Der Aus­weg wäre, aus der Ver­ban­nung zurück­zu­keh­ren, das eige­ne Selbst zu ertra­gen und lang­sam zu ler­nen, dass die ande­ren einen den­noch mögen – auch wenn man nicht über­durch­schnitt­lich leis­tet, hilft, liebt usw. Indem man sich selbst erträgt und lernt, dass man lieb zu sich selbst sein darf, sind Kor­rek­tu­ren mög­lich. 

Die sym­bio­ti­sche Kränkung

Zu einer „sym­bio­ti­schen Krän­kung“ kommt es, wenn man sei­nem Gegen­über sein Ersatz-Selbst­bild zwar prä­sen­tiert, das Gegen­über die­ses Bild aber nicht oder nicht voll­stän­dig bestä­tigt, also „bei sich“ bleibt und nicht in die sym­bio­ti­sche Ver­schmel­zung mit dem Ersatz-Selbst­bild geht. Man erzählt also von sei­nen beson­de­ren Leis­tun­gen oder tut beson­ders viel für sein Gegen­über oder will jeden Aspekt sei­nes Lebens (bspw. jede ein­zel­ne Sekun­de des gemein­sa­men Lebens) mit dem Gegen­über tei­len. Das Gegen­über geht dar­auf aber nur teil­wei­se ein und han­delt in ande­ren Tei­len „abge­grenzt“, unter­nimmt also wei­ter­hin etwas allein, will nicht alles tei­len oder betont, dass es ihm gar nicht auf die Leis­tun­gen ankom­me, son­dern auf einen selbst, und dass er einen als Men­schen möge und weni­ger wegen der beson­de­ren Leis­tun­gen. 

Sol­che Erfah­run­gen wer­den für Betrof­fe­ne zur exis­ten­ti­el­len Irri­ta­ti­on – was man unbe­dingt ver­mei­den woll­te (die exis­ten­ti­el­le Hin­ter­fra­gung), geschieht wie­der. Die Fol­ge: Man hat das Gefühl, sich selbst zu ver­lie­ren, wenn das Gegen­über das Wunsch­bild nicht bestä­tigt. Man fühlt sich per­sön­lich angegriffen.

Aber so ist es ja nicht. Das meint das Gegen­über gewiss nicht. Es stellt sich nur in der eige­nen Erfah­rung so dar. Und die Erfah­rung ist in sol­chen Momen­ten „exis­ten­ti­ell“, das heißt, man kann sich dem nicht oder nur sehr schwer ent­zie­hen. Jenes Thea­ter­stück, das einen eigent­lich „hei­len“ soll­te, fällt einem nun „voll und ganz“ auf die Füße. Das ist die Erfah­rungs­qua­li­tät. 

Was ist aber tat­säch­lich pas­siert? Das Gegen­über hat nur wie ein nor­ma­ler Mensch gehan­delt – ist auf man­ches ein­ge­gan­gen und auf ande­res nicht. Tat­säch­lich wur­de nur ein wenig Luft aus dem Wunsch­bild gelassen.

Beson­ders deut­lich wird dies, wenn man sich vor­stellt, was geschieht, wenn Men­schen mit Ersatz-Selbst­bil­dern lie­ben. Das Ersatz-Ich geht dann im Gegen­über auf, sehnt sich nach voll­stän­di­ger Ver­schmel­zung und meint, end­lich die eine Part­ne­rin oder den einen Part­ner gefun­den zu haben. Es geht einem end­lich gut, man ist nicht mehr unsi­cher, man fühlt sich auf­ge­ho­ben, bestä­tigt, geliebt – aber eben nicht aus sich selbst her­aus, son­dern nur durch den anderen.

Wenn sich nun her­aus­stellt, dass der ande­re (der gelieb­te Mensch!) noch ein eige­nes Leben hat, es ihm offen­sicht­lich auch ohne mich gut geht, dann kommt es zur Krän­kung: Er braucht mich nicht so, wie ich ihn brau­che! 

Das Gegen­über fragt man dann: „War­um brauchst Du mich nicht genau­so, wie ich Dich brau­che?“ 

Eigent­lich heißt das aber: „Ich brau­che dich so sehr, ich will Zeit mit dir ver­brin­gen, will, dass du da bist und mich bestä­tigst, ich brau­che dich als Selbst­wert­stüt­ze! Ich bin gekränkt dar­über, dass Du noch eine eige­ne Mei­nung hast. Ich habe doch auch kei­ne Mei­nung mehr, bin mit Dir ver­schmol­zen, will nur mit Dir, für Dich sein!“

Und dann sagt man: „Ich ver­let­ze Dich doch auch nicht so, wie Du mich!“ Was das Gegen­über frei­lich nicht versteht.

Man liebt das Gegen­über also nicht um sei­ner selbst wil­len. Es geht bei sol­cher Lie­be viel­mehr um die eige­ne Per­son. Um Bestä­ti­gung. Um See­len­frie­den. Dar­um, dass end­lich Ruhe ist. Dass es kei­ne exis­ten­ti­el­len Hin­ter­fra­gun­gen mehr gibt. Das weiß das Gegen­über aber nicht. Man selbst weiß es ja auch nicht. Und wenn, dann wür­de man es nicht sagen.

Der Aus­weg liegt dar­in, das Gegen­über frei­zu­las­sen. Aus der unaus­ge­spro­che­nen Ver­pflich­tung zu ent­las­sen, qua sym­bio­ti­scher Ver­schmel­zung das eige­ne Wunsch­bild zu bestä­ti­gen. Was auf Dau­er ohne­hin nicht funk­tio­nie­ren wür­de, denn irgend­wann merkt jedes Gegen­über, dass etwas nicht stimmt. Dass es sich um ein Thea­ter­stück han­delt, in dem das Gegen­über eine Rol­le spielt. Dass es nicht um das Gegen­über, son­dern um mein Thea­ter­stück geht. Lässt man das Gegen­über nicht frei, geht es irgend­wann selbst. Oder wird gegan­gen. Dann sucht man sich ein neu­es Gegen­über und ent­wi­ckelt neue Verschmelzungsphantasien.

Lässt man das Gegen­über hin­ge­gen wirk­lich frei, so lebt man plötz­lich unsi­cher. Man muss sich dann selbst ertra­gen, ist auf sich und sei­ne gan­ze erleb­te exis­ten­ti­el­le Hin­ter­fra­gung zurück­ge­wor­fen. Wenn man sich dann nicht wie­der Halt in der Bestä­ti­gung von außen sucht, kann man ler­nen, sich zu fin­den, sich aus­zu­hal­ten, sich mögen zu dür­fen, sich zu ach­ten, sich zu ver­trau­en. Aber das ist ein denk­bar schmerz­haf­ter Weg.

Gefan­gen in der Psy­cho­lo­gi­sie­rung: Die end­lo­se Hin­ter­fra­gung sei­ner selbst

Der soeben beschrie­be­ne Weg kann gelin­gen, aber ihn zu gehen, ist wie gesagt sehr schmerz­haft. Und es gibt unter­wegs vie­le Ablen­kun­gen und Ver­lo­ckun­gen, sich ein­zu­bil­den, man hät­te es schon geschafft und dann doch wie­der in die alten Mus­ter zu ver­fal­len. Betrach­ten wir noch ein­mal den Ent­ste­hungs- und Kor­rek­tur­pro­zess insgesamt:

  1. Irri­ta­ti­on der eige­nen Exis­tenz durch die Erfah­rung, nicht geliebt zu wer­den oder nur für bestimm­te Leis­tun­gen Zuwen­dung zu erfah­ren / Erfah­rung einer „exis­ten­ti­el­len Hinterfragung“
  2. Auf­bau eines „kom­pen­sa­to­ri­schen“ oder „Ersatz-Selbst­bil­des“
  3. Inter­ak­ti­on mit ande­ren vor allem zur Bestä­ti­gung des Ersatz-Selbst­bil­des, zuneh­mend Erfah­rung von Sicher­heit in die­sem Ersatz-Selbst­bild ver­bun­den mit ent­spre­chen­den Erfol­gen, Sta­tus­ge­win­nen, Bezie­hun­gen etc.
  4. Ggf. Ent­de­ckung des Ersatz-Selbst­bil­des und der damit ver­bun­de­nen Mus­ter im Zuge etwa einer Lebens­kri­se ver­bun­den mit der Erkennt­nis, sich selbst und ande­re zu belügen
  5. Erkennt­nis, dass man selbst eigent­lich immer noch so unsi­cher ist wie in jenen Situa­tio­nen, die man nie wie­der erle­ben wollte
  6. Ver­su­che, die Unsi­cher­heit zu ertra­gen, sich selbst aus­zu­hal­ten, die ent­spre­chen­den Mus­ter zu ändern, lieb zu sich selbst zu sein 

Letz­te­re Ver­su­che kön­nen vor allem gelin­gen, wenn man lernt, allein zu sein, sei­ne eige­ne Ver­letz­lich­keit zu erken­nen und den­noch zu han­deln. Bei sich zu blei­ben, die eige­ne Ver­letz­lich­keit nicht mehr schüt­zen zu wol­len, die Har­ni­sche der Ersatz-Selbst­bil­der abzu­le­gen und für sich selbst ein­zu­ste­hen. Gelingt dies nicht – Allein­sein ist eine exis­ten­ti­el­le Erfah­rung, bspw. wenn man in einer Team­sit­zung eine abwei­chen­de Mei­nung hat und auf die­ser behar­ren will, weil man gute Argu­men­te hat und obwohl das Team als Gan­zes dage­gen zu sein scheint – kann es sein, dass man in einer Spi­ra­le der per­ma­nen­ten Selbst­hin­ter­fra­gung oder des andau­ern­den Psy­cho­lo­gi­sie­rens lan­det. Man hat ja ein­mal erkannt, dass man sich und ande­ren etwas vor­macht. Das bedeu­tet auch, dass man dies wie­der erken­nen wird. Hält man sich dann aber nicht aus – fin­det man sich nicht, weil der Weg dahin zu scherz­haft ist und man nicht lernt, allein zu sein – bleibt man in einer Art Zwi­schen­welt gefan­gen. Die­se Zwi­schen­welt besteht aus fal­schen Selbst­bil­dern und ent­spre­chend geknüpf­ten Bezie­hun­gen auf der einen Sei­te und der Erkennt­nis, dass die­se falsch sind, und sich dar­an anschlie­ßen­der Such- und Ori­en­tie­rungs­pro­zes­se auf der ande­ren Sei­te. Führt man die­se Such- und Ori­en­tie­rungs­pro­zes­se nicht zuen­de, ist die Gefahr groß, dass alles wie­der von vorn beginnt und dass dabei die sym­bio­ti­schen Phan­ta­sien mit der Zeit immer grö­ßer und bun­ter bzw. die „Hei­lungs­hoff­nun­gen“ immer unrea­lis­ti­scher (und nicht sel­ten: eso­te­ri­scher) werden.

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.