In den vergangenen Monaten war ich immer mal wieder in Behörden zu Gast und habe dort eine Reihe von Gesprächen geführt, die jeweils einen gewissen Eindruck hinterlassen und mich irgendwie nicht losgelassen haben. Es ging bspw. um Personalmangel oder darum, dass die Aufgaben immer mehr und immer komplexer würden und man nicht mehr hinterherkomme und manchmal nicht mehr wisse, wie es weitergehen soll. Das ist zunächst nichts Besonderes, das bekommt man in meinem Beruf öfter und nicht nur in Verwaltungsorganisationen zu hören. Was die Sache jedoch nachdenkenswert machte, war der in gewisser Weise besondere Ton. Manchmal klang Resignation durch, stellenweise auch eine gewisse Fassungslosigkeit oder sogar Wut.
Nach so einem Gespräch geht es natürlich weiter. Die Welt bleibt nicht stehen. Man redet darüber, sieht ein, dass man nichts ändern kann, geht nach Hause. Morgen ist ein neuer Tag. Am nächsten Tag geht es weiter; der Druck ist hoch, die empfundene Belastung steigt, aber Routinen sind Routinen. Hier und da gibt es Fluktuation, man arbeitet neue Leute ein. Irgendwie geht es schon.
Aber das Verhältnis von „geht schon“ und „irgendwie“ verschiebt sich langsam.
Man lehnt sich zurück, denkt kurz nach, rückt die Perspektive zurecht — und macht weiter. „Was früher war, erscheint einem immer besser“, sagt man sich, und dass solche Sprüche nichts helfen, dass so eine Sicht ganz normal und menschlich sei, dass es aber weitergehen müsse, also los. Doch irgendwann funktioniert dieses „also los“ nicht mehr so gut.
Als würde man selbst immer mehr hinterfragen, was man da eigentlich macht. Als würde man sich in seiner Position und mit seinen Aufgaben immer mehr hinterfragt fühlen. Es ist ein Prozess, der sowohl von außen als auch von innen stattfindet. Man wird hinterfragt und hinterfragt sich gleichzeitig selbst. Man fühlt sich von außen kritisiert und fragt sich selbst, warum man das eigentlich macht, warum man „sich das antut“.
Wie gesagt: In gewissen Dimensionen ist das ganz normal, bringen das manche Aufgaben in Verwaltungen mit sich. Wenn man es sich einfach machen wollte, würde man die Sache im Lichte der Individualisierung betrachten oder am allgemeinen „Transformationsprozess“ festmachen. Aber so einfach, fürchte ich, ist es nicht. Nicht, dass diese Erklärungen gänzlich falsch wären, aber sie reichen nicht aus, sie erklären nicht das gesamte Phänomen.
Betrachten wir zunächst die beiden soeben angesprochenen möglichen Erklärungsmuster, bevor wir zu dem aus unserer Sicht fehlenden Teil der Erklärung kommen:
Individualisierung
Die zunehmende Individualisierung hat dazu geführt, dass man sich weniger selbstverständlich unterordnet, sondern Vorgaben, Umstände, Erwartungen usw. bereitwilliger hinterfragt. Bekommt eine Studentin eine schlechte Note, kann sie diese Note ggf. hinterfragen. Wenn eine Ungerechtigkeit, Verzerrung in den Leistungsmaßstäben oder gar Diskriminierung vorliegt, ist es ja nur gut, dass sie das darf. Aber aus „dürfen“ wird irgendwann Gewohnheit, bis kein Prof und kein Prüfungsausschuss mehr Lust haben, solche Hinterfragungen zu verhandeln. Dann bekommen, gleichsam prophylaktisch, „irgendwie alle“ eine Eins. Das Beispiel stammt aus Hochschulen, trifft aber, vom Muster her betrachtet, auch auf viele andere Fälle zu: manche Eltern eskalieren Kleinigkeiten bis hinauf zum Schulleiter und weiter bis hinein in die Schulverwaltung; manche Bürgergeldempfänger „kämpfen“ um ihr Recht, indem sie ihre Bescheide grundsätzlich hinterfragen und so weiter. Wenn wirklich eine Diskriminierung vorliegt, ist das ja, wie gesagt, auch gut so. Aber das an und für sich hilfreiche Recht auf Hinterfragung wird zunehmend zur Optimierung der individuellen Komfortzonen genutzt, weil man es kann. Und das geht in der — im Einzelfall vielleicht unbeabsichtigten, kollektiv dennoch wirksamen — Folge zu Lasten der Selbstverständlichkeit der in einem Gemeinwesen geltenden Regeln. Wenn ich quasi alles hinterfragen kann, gilt am Ende nichts mehr. Das ist sicher sehr spitz behauptet, sollte aber einen Teil der gegenwärtig zu beobachtenden „Erosion“ der Institutionen (= des uns Gemeinsamen, des uns Verbindenden, des uns gleich Behandelnden) erklären. Viele Menschen sind heute bereiter, Routinen und Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und reagieren sensibler auf Einschränkungen der eigenen Belange (v.a. Belastung), während es gleichzeitig selbstverständlicher wird, Behördenhandeln zu hinterfragen. Das bedeutet: Die Zahl der Konflikte steigt, während die Bereitschaft, in Konflikten „fest“ zu handeln, sinkt.
Die gesellschaftlichen Veränderungen
Hinzu kommt, dass man diese Entwicklungen gern als Konflikt zwischen „Progressiven“ und „Nicht-Progressiven“ charakterisiert. Während man für die „Nicht-Progressiven“ eine ganze Reihe wenig schöner Bezeichnungen findet, zögern die Nicht-Progressiven ihrerseits natürlich nicht, selbst eine Reihe von Bezeichnungen für die vermeintlich progressive Seite zu finden.
Nageln Sie mich nicht an der Reihenfolge innerhalb des letzten Satzes fest; ich hätte es auch umgekehrt schreiben können, die Frage ist ja die nach der Henne oder dem Ei; aber allein, dass ich das so schreibe, könnte für manche LeserInnen bereits eine Beleidigung sein. 😉
Welche der beiden genannten „Seiten“ eigentlich an welchen Stellen jeweils spezifisch reaktionär ist, bleibt eine unbeantwortete Frage, weil der Konflikt längst zu einem zwischen „Gut“ und „Böse“ hochstilisiert wurde. Die „Guten“ versuchen demnach, ihre inklusiven, vermeintlich demokratischen usw. Werte in Behörden zu etablieren, stoßen aber auf „Widerstand“. In jedem Buch über den Umgang mit Veränderungen kann man nachlesen, wie mit solchem „Widerstand“ umgegangen werden kann. Dass es sich dabei aber um eine (legitime) Reaktion handelt, wird oft ausgelassen. „Widerstand“ erscheint als etwas Gestriges, an dem man sich abarbeiten kann. Eine schlichte „Reaktion“ wäre etwas Gleichberechtigtes, und unter Gleichberechtigten könnte man sich einigen. Aber zwischen „Erleuchteten“ und „Widerständlern“ gibt es keine Einigung. Da ist die Lampe nur noch nicht hell genug. Was hier fehlt, ist die Einsicht, dass sich Menschen wegdrehen, wenn eine Lichtquelle allzusehr blendet.
Beide Sichtweisen erklären einen Teil der Dynamik. Aber eben nur einen Teil. Die folgenden Zeilen liefern einen weiteren Erklärungsversuch. Ob dieser zutreffend ist, bleibt der Beurteilung durch die Leserin und den Leser überlassen.
Wenn ich mich nicht getäuscht habe, war in den Gesprächen nicht nur von Belastung und Frust und Resignation die Rede, sondern auch von Wut und „Kontrollverlust“. Einerseits klang es so, als hätte man manche Aufgaben nicht mehr in der Hand, als sei da „etwas über die Verwaltung gekommen“. Andererseits klang es so, als würden sich Teile der Verwaltung irgendwie „verweigern“, und als werde es immer schwerer, irgendetwas umzusetzen. Ich habe viel nachgedacht und versucht, mir einen Reim darauf zu machen, was ich da gehört habe. Dieser Text ist der Versuch, meine Eindrücke in Worte zu fassen und die dahinter liegenden Entwicklungen und Dynamiken zu beschreiben.
Erst Pflichtvernachlässigung, dann Pflichtverwahrlosung — und die Folgen
Es beginnt schleichend. Eine Führungskraft trifft eine Entscheidung, aber die Umsetzung bleibt „spärlich“. Sie bleibt nicht aus, aber die Umsetzung erfolgt „irgendwie defensiv“. Das entsprechende Vorgehen ist nicht „offen widerspenstig“, man kann es nicht als „Widerstand“ bezeichnen. Die entsprechenden Handlungen sind zögerlich, vielleicht „passiv“. Einmal, zweimal, zehnmal.
Und das geschieht nicht nur in dem Fall, dass Vorgesetzte etwas entscheiden. Das passiert auch bei Gesetzesänderungen. In letzterem Fall kann es sogar sein, dass die „spärliche“ Reaktion auch Führungskräfte betrifft. Man zweifelt, man sieht es nicht ganz ein, muss es aber umsetzen.
Hier gibt es im Prinzip zwei Fälle:
Fall 1
Die Führungskraft hat etwas entschieden, was von Teilen der Belegschaft so nicht gesehen oder geteilt wird. Man handelt zögerlich. Irgendwann kommt der Punkt, an dem die Führungskraft merkt: Der Aufwand, sich durchzusetzen, steht nicht mehr im Verhältnis zum Ergebnis. Die Führungskraft zieht sich vielleicht zurück. Sie bleibt formal verantwortlich, doch faktisch tritt sie in den Hintergrund. Die Führungskraft „gibt auf“.
So entsteht Pflichtvernachlässigung – nicht als bewusster Boykott, sondern als eine Mischung aus Erschöpfung und Anpassung. Es handelt sich nicht um Faulheit und schon gar nicht um Böswilligkeit. Oft ist es schlicht die Erfahrung, dass Regeln, Erwartungen und Anweisungen wenig oder keine Wirkung zeigen. Wenn dieser Mechanismus mehrere Führungskräfte in einer Organisation erfasst, setzt ein Prozess ein, den man als „Pflichtverwahrlosung“ bezeichnen könnte. Pflichtverwahrlosung bedeutet, dass Verantwortung nicht mehr klar wahrgenommen wird. Es gibt niemanden, der explizit „nein“ sagt – aber es gibt auch niemanden, der klar „ja“ sagt und handelt. Aufgaben zerrinnen zwischen den Händen derjenigen, die eigentlich verantwortlich sind. Man könnte auch sagen: Es handelt sich um eine resignative Form der Führung. Diese Form der Pflichtverwahrlosung kann überall entstehen, aber besonders häufig sieht man sie dort, wo:
- Führungskräfte wiederholt gescheitert sind, sich mit Anweisungen durchzusetzen.
- nachgeordnete Führungskräfte oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gelernt haben, dass Regelverstöße folgenlos bleiben.
- eine Kultur entstanden ist, in der Verbindlichkeit durch „jeder macht, was er für richtig hält“ ersetzt wurde — und zwar im Ansatz nicht als bewusste Entscheidung, sondern als Folge des „Aufgebens“.
- politisch-administrative Komplexität Entscheidungen so stark verlangsamt, dass Führung irgendwann nur noch formal existiert.
Fall 2
Der zweite Fall besteht in gewisser Weise in einer Steigerung oder Verstärkung des ersten Falls. Im ersten Fall ist es ja die Reaktion der nachgeordneten Ebene, die spärlicher oder defensiver wird. In der Steigerungsform handeln auch Vorgesetzte spärlicher oder defensiver, weil sie politische Entscheidungen nicht teilen, etwas anders sehen oder eben miteinander die Erfahrung machen, dass auch die andere Führungskraft nicht mehr aktiv an der Umsetzung und an der Lösung von Problemen beteiligt ist. Dadurch verstärkt sich die defensive Dynamik noch einmal. Wenn man Fall 1 als eine gewisse „oppositionelle Verlangsamung“ auf Mitarbeiterebene begreift, dann kommt im Fall 2 ein ähnliches Phänomen auf Vorgesetztenebene zum Tragen, und zwar wiederum als Verzögerung oder gar als „eskalierende Verumständlichung“ von Entscheidungen — und zwar gar nicht so sehr als Konflikt, sondern eher weil man sich unausgesprochen einig ist, in bestimmten Fällen „ganz langsam“ zu handeln oder sich zum Zwecke des Nichthandelns zu streiten. Verstehen Sie? In solchen Streits geht es nicht um etwas, sondern solcher Streit dient zu etwas, nämlich dazu, dass etwas nicht so ganz passiert. Das mag dann nicht gänzlich im Sinne des Gesetzgebers sein, aber es ist rechtlich kaum anfechtbar.
Passiv-aggressiver Dienst nach Vorschrift
Um diese Steigerungsform (also den Fall 2) zu verstehen, ist es hilfreich, sich vorzustellen, was geschieht, wenn sich die oben beschriebenen bürokratischen Pflichtverwahrlosungstendenzen mit einem gesellschaftlichen Phänomen namens „Reaktanz“ verbinden. Reaktanz bedeutet „Widerstand gegen Überzeugungsdruck“ — und der tritt in Verwaltungsorganisationen auf, wenn Verwaltungsangehörige etwas umsetzen sollen, von dem sie nicht überzeugt sind. Man könnte das Ergebnis als „passiv-aggressiven Dienst nach Vorschrift“ bezeichnen.
Schauen wir uns diesen Prozess einmal im Detail an:
Manche Führungskräfte kommen ihrer Verantwortung nicht mehr (ganz) nach, weil sie gelernt haben, dass sie sich nicht durchsetzen können. Sie haben ihre Erwartungen geäußert, und das mehrfach, sie haben Ansagen gemacht, sie haben Aussprachen durchgeführt, sie haben ihre Vorgesetzten um Rückhalt und Unterstützung gebeten.
Was sollen sie noch machen?
Die betreffenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder die betreffenden anderen Führungskräfte machen irgendwie ihren Job, aber erfüllen die Erwartungen nicht (ganz). Vielleicht ist die Sache auch gegenseitig — man will etwas voneinander, um die Ziele zu erreichen, man ist aufeinander angewiesen, aber man lernt, dass man irgendwie nicht gut zusammenarbeiten kann.
Irgendwann fragt man nichts mehr, irgendwann sagt man auch nichts mehr. Irgendwann hält man sich zurück, obwohl die Aufgabenbeschreibung eigentlich erfordert, dass man zusammenarbeiten müsste. Das könnte man dann Pflichtvernachlässigung nennen.
Pflichtvernachlässigung beginnt oft unabsichtlich. Man weiß nicht mehr, was man tun soll, man gibt auf, es nochmal und nochmal zu versuchen. Wenn das auch andere Beteiligte machen und das um sich greift, wird aus Pflichtvernachlässigung langsam Pflichtverwahrlosung. Pflichtvernachlässigung beginnt nicht als bewusster Boykott, sondern als eine Mischung aus Zurückhaltung, Erschöpfung und Anpassung — und wenn das Schule macht, wird daraus Pflichtverwahrlosung.
Man stelle sich nun eine Behörde mit ihrem bürokratisierten Handlungsrahmen vor. Es ist ohnehin schon schwierig, angesichts der Fülle von Vorschriften und Umständen zu handeln. Kommt dann noch der „menschliche Faktor“ erschwerend hinzu, stimmen also beispielsweise die Beziehungen nicht, gibt es kein Vertrauen usw., wird die Sache noch komplizierter. Ist es nicht manchmal verständlich, wenn man aufgibt — und das vor sich selbst und vor anderen als Anpassung an die Umstände verkauft?
Jetzt stelle man sich vor, dass zu diesen Umständen noch Widerstand gegen Überzeugungsdruck hinzukommt. Das tritt auf, wenn man längere Zeit von etwas überzeugt werden soll, woran man selbst nicht glaubt, was man selbst skeptisch betrachtet.
Bleiben wir in der Verwaltung: Die Politik entscheidet etwas, hinter dem man selbst nicht steht. Ok, kein Problem, man setzt es um, weil man dazu verpflichtet ist. Aber man ist trotzdem dagegen. Man beginnt, etwas zögerlicher zu handeln. Man hält sich zurück. Die Vorgesetzten versuchen es mit Überzeugung, man stimmt äußerlich zu, ist aber innerlich dagegen.
So geht es über Monate, vielleicht Jahre. Man hält sich immer weiter zurück. Erst macht man Dienst nach Vorschrift, dann handelt man immer langsamer, zurückhaltender. Schließlich probiert man, die erwarteten Dinge nicht mehr oder nicht mehr ganz umzusetzen. Man lernt, dass es kaum oder keine Konsequenzen gibt. Irgendwie passiert… nichts, zumindest nichts Ernstes.
Die Gesamtlage „weiter oben“, bspw. in Berlin, spitzt sich in den eigenen Augen weiter zu. Man beginnt, ein gewisses „rebellisches Gefühl“ zu entwickeln. Was bisher „nur“ zurückhaltender Dienst nach Vorschrift war, wird langsam zur bewussten Entscheidung. Man beginnt, Befriedigung daraus zu schöpfen, „dagegen“ zu sein. Man handelt hier und da gegen die Erwartungen, man probiert aus, testet die Grenzen — und weiterhin geschieht… nichts. Womit sollten die vorgesetzten Ebenen auch drohen? Auf den vorgesetzten Ebenen herrscht oft genug eine gewisse „prophylaktische Zurückhaltung“, eben weil man gelernt hat, dass Eskalationen in vielen Fällen nichts bringen, vor dem Arbeitsgericht scheitern o.ä. (Das ist der oben geschilderte Fall 1.)
Eine gewisse „erlernte Zurückhaltung“ oder Pflichtvernachlässigung auf der Vorgesetztenebene trifft nun auf der Mitarbeiterebene auf eine zunehmende „Widerborstigkeit“, die sich aus Reaktanz speist und in eine „rebellische Motivation“ mündet, sich jedoch als mehr oder minder passiv-aggressiver „Dienst nach Vorschrift“ äußert. Zugespitzt formuliert: Der gefühlt „ewig progressiven Leier“ wird passiv-aggressiver Dienst nach Vorschrift entgegengestellt. Hinzu kommt, dass viele, die ein gewisses Maß an Widerstand gegen Überzeugungsdruck zeigen, mit der Zeit nicht mehr glauben, dass das, was momentan geschieht, auf die Zukunft des Gemeinwesens einzahlt. Die Skepsis geht mitunter soweit, dass man denkt, dass es massiver Veränderungen bedarf — und dass die derzeit handelnden Akteure nicht zu dem als notwendig angesehenen Ausmaß an Veränderungen fähig sind. (Das müsste ungefähr dem entsprechen, was in größeren Teilen der amerikanischen Gesellschaft passiert ist.)
Und natürlich kommt irgendwann der Punkt, an dem diese Entwicklungen auch die vorgesetzten Ebenen erreichen, was die Dynamiken dann nur noch weiter verstärkt. Anfangs haben Vorgesetzte vielleicht noch „dagegengehalten“. Einige Vorgesetzte haben vielleicht irgendwann aufgegeben und so eine gewisse „Pflichtverwahrlosung“ entstehen lassen. Wieder andere Vorgesetzte haben vielleicht begonnen, die ganze Sache ähnlich zu sehen — und so machen sie nun mit und bewirken damit ein „Umschlagen ins Gegenteil“, das darin besteht, dass man zwar eigentlich Teil der Verwaltung ist, aber die offiziellen Entscheidungen nicht mehr mitträgt und ihre Umsetzung zwar formal befolgt, aber informell ablehnt. Nun wenden sich nicht mehr Einzelne von der Umsetzung bestimmter Richtlinien ab, sondern die Abwendung wird — erst durch Zurückhaltung (Pflichtvernachlässigung), später durch die Folgen der Zurückhaltung (Pflichtverwahrlosung) und schließlich durch die explizite Äußerung von Skepsis durch die Führungskräfte — verstärkt.
Das ist der Punkt, an dem man nicht mehr nur als Individuum anders wählt. Man kann ja individuell dagegen sein (also anders wählen), hat aber als Verwaltungsangehöriger zu funktionieren. Man legitimiert aber nun die eigene Zurückhaltung oder gar Blockade mit der Notwendigkeit von Veränderungen. Man meint, dass es anders laufen müsste. Man kann das aber nicht aktiv zeigen, weil man Teil der Verwaltung ist, also äußert sich das in jenem zögerlichen oder defensiven Handeln. Wenn man aber — gemeinsam mit Kollegen und Vorgesetzten — meint, dass das alles nicht richtig ist, nun, dann wird das zögerliche und defensive Handeln zum sich selbst legitimierenden Programm. Man ist also dagegen, weil man nicht nur meint, dass man das Recht auf eine eigene Meinung hat, sondern weil man glaubt, dass man dem eigeschlagenen Weg entgegenwirken muss.
Man handelt nicht mehr zurückhaltend, weil man die Erfahrung gemacht hat, dass es trotz eigener Zurückhaltung schwierig ist zu handeln — und man sich nicht einigen kann. Die dann eintretende Lage ist nicht mehr nur damit zu erklären, dass man sich zurückgehalten hat und dies auch andere getan haben. Man ist nunmehr zunehmend der Überzeugung, dass man selbst etwas zu dem beiträgt, was man für notwendig hält, wenn man sich zurückhält oder passiv-formalistisch oder sogar „aktiv“ dagegen arbeitet, wobei die „Aktivität“ aus in Behörden möglichen Handlungen besteht: Man ist sich bspw. informell einig, ganz langsam zu machen. Oder man streitet sich nicht um etwas, sondern man pflegt den Streit, weil die Verlängerung des Streits gewissermaßen zum kollektiven Signal der Ablehnung wird. Nach dem Motto: „Wir wollen ja, aber wir können nicht, wir müssen erst noch dies und jenes klären, und der Referatsleiter Soundso ist auch dagegen, und der ist jetzt auch schon lange krank, aber ohne den bekommen wir die Kuh nicht vom Eis.“
Verstehen Sie?
Der eigene Frust mit den herrschenden Entwicklungen wird zur Rechtfertigung, auf eine mehr oder weniger unausgesprochene, passive Weise aktiv dagegen vorzugehen. Natürlich werden Menschen in Verwaltungen eher selten dazu neigen, aktiv zu handeln. Aber wenn der Widerstand gegen Überzeugungsdruck nicht mehr nur eine Reaktion, sondern eine bewusste und vor sich selbst legitimierte Entscheidung ist, erreicht die Dynamik der Lage eine neue Qualität: Verwaltungsorganisationen untergraben sich selbst. Die „interne Blockade“ wird möglicher und populärer — verstärkt durch die Erfahrung, dass sowieso kaum etwas passiert. Die Aufgaben lauten zwar so und so, werden aber durch Zurückhaltung, Verlangsamung und später durch passiv-aggressiven Dienst nach Vorschrift nicht mehr umgesetzt. Was wir dabei erkennen sollten, ist, dass es sich hier nicht um einseitige Abwendungen handelt, sondern um Interaktionseffekte. Kaum jemand wendet sich ab, weil er sich heute dazu entscheidet. Viele wenden sich ab, weil sie schon lange keine Kurskorrektur mehr sehen. Wer sich bevormundet fühlt, tut genau das Gegenteil dessen, was von ihm erwartet wird – oft aus einer tiefen Ablehnung heraus. In Verwaltungsorganisationen kann Reaktanz dazu führen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich nicht nur ihrer Pflicht verweigern, sondern sich aktiv daran erfreuen, das System zu unterlaufen.
Pflicht als Fundament organisationaler Stabilität
Pflichtverwahrlosung und Reaktanz sind in Kombination gefährlich. Sie untergraben das Pflichtverständnis in einer Organisationen nicht offen, sondern höhlen es aus. Führung kann gegensteuern, wenn sie Verbindlichkeit zurückholt, den Sinn von Regeln verdeutlicht und Vertrauen in die Organisation stärkt. Es geht darum, Pflicht als etwas zu vermitteln, das mehr ist als nur eine formale Erwartung – nämlich der Kern organisationaler Stabilität. Angesichts der momentanen politischen Großwetterlage werden Verwaltungsorganisationen vor allem in den ostdeutschen Bundesländern auf absehbare Zeit allerdings ihre liebe Not damit haben.
PS: Das Beitragsbild wurde mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz erstellt.