Verwaltungslähmung

In den ver­gan­ge­nen Mona­ten war ich immer mal wie­der in Behör­den zu Gast und habe dort eine Rei­he von Gesprä­chen geführt, die jeweils einen gewis­sen Ein­druck hin­ter­las­sen und mich irgend­wie nicht los­ge­las­sen haben. Es ging bspw. um Per­so­nal­man­gel oder dar­um, dass die Auf­ga­ben immer mehr und immer kom­ple­xer wür­den und man nicht mehr hin­ter­her­kom­me und manch­mal nicht mehr wis­se, wie es wei­ter­ge­hen soll. Das ist zunächst nichts Beson­de­res, das bekommt man in mei­nem Beruf öfter und nicht nur in Ver­wal­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen zu hören. Was die Sache jedoch nach­den­kens­wert mach­te, war der in gewis­ser Wei­se beson­de­re Ton. Manch­mal klang Resi­gna­ti­on durch, stel­len­wei­se auch eine gewis­se Fas­sungs­lo­sig­keit oder sogar Wut.

Nach so einem Gespräch geht es natür­lich wei­ter. Die Welt bleibt nicht ste­hen. Man redet dar­über, sieht ein, dass man nichts ändern kann, geht nach Hau­se. Mor­gen ist ein neu­er Tag. Am nächs­ten Tag geht es wei­ter; der Druck ist hoch, die emp­fun­de­ne Belas­tung steigt, aber Rou­ti­nen sind Rou­ti­nen. Hier und da gibt es Fluk­tua­ti­on, man arbei­tet neue Leu­te ein. Irgend­wie geht es schon.

Aber das Ver­hält­nis von „geht schon“ und „irgend­wie“ ver­schiebt sich langsam.

Man lehnt sich zurück, denkt kurz nach, rückt die Per­spek­ti­ve zurecht — und macht wei­ter. „Was frü­her war, erscheint einem immer bes­ser“, sagt man sich, und dass sol­che Sprü­che nichts hel­fen, dass so eine Sicht ganz nor­mal und mensch­lich sei, dass es aber wei­ter­ge­hen müs­se, also los. Doch irgend­wann funk­tio­niert die­ses „also los“ nicht mehr so gut.

Als wür­de man selbst immer mehr hin­ter­fra­gen, was man da eigent­lich macht. Als wür­de man sich in sei­ner Posi­ti­on und mit sei­nen Auf­ga­ben immer mehr hin­ter­fragt füh­len. Es ist ein Pro­zess, der sowohl von außen als auch von innen statt­fin­det. Man wird hin­ter­fragt und hin­ter­fragt sich gleich­zei­tig selbst. Man fühlt sich von außen kri­ti­siert und fragt sich selbst, war­um man das eigent­lich macht, war­um man „sich das antut“.

Wie gesagt: In gewis­sen Dimen­sio­nen ist das ganz nor­mal, brin­gen das man­che Auf­ga­ben in Ver­wal­tun­gen mit sich. Wenn man es sich ein­fach machen woll­te, wür­de man die Sache im Lich­te der Indi­vi­dua­li­sie­rung betrach­ten oder am all­ge­mei­nen „Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess“ fest­ma­chen. Aber so ein­fach, fürch­te ich, ist es nicht. Nicht, dass die­se Erklä­run­gen gänz­lich falsch wären, aber sie rei­chen nicht aus, sie erklä­ren nicht das gesam­te Phänomen.

Betrach­ten wir zunächst die bei­den soeben ange­spro­che­nen mög­li­chen Erklä­rungs­mus­ter, bevor wir zu dem aus unse­rer Sicht feh­len­den Teil der Erklä­rung kommen:

Individualisierung

Die zuneh­men­de Indi­vi­dua­li­sie­rung hat dazu geführt, dass man sich weni­ger selbst­ver­ständ­lich unter­ord­net, son­dern Vor­ga­ben, Umstän­de, Erwar­tun­gen usw. bereit­wil­li­ger hin­ter­fragt. Bekommt eine Stu­den­tin eine schlech­te Note, kann sie die­se Note ggf. hin­ter­fra­gen. Wenn eine Unge­rech­tig­keit, Ver­zer­rung in den Leis­tungs­maß­stä­ben oder gar Dis­kri­mi­nie­rung vor­liegt, ist es ja nur gut, dass sie das darf. Aber aus „dür­fen“ wird irgend­wann Gewohn­heit, bis kein Prof und kein Prü­fungs­aus­schuss mehr Lust haben, sol­che Hin­ter­fra­gun­gen zu ver­han­deln. Dann bekom­men, gleich­sam pro­phy­lak­tisch, „irgend­wie alle“ eine Eins. Das Bei­spiel stammt aus Hoch­schu­len, trifft aber, vom Mus­ter her betrach­tet, auch auf vie­le ande­re Fäl­le zu: man­che Eltern eska­lie­ren Klei­nig­kei­ten bis hin­auf zum Schul­lei­ter und wei­ter bis hin­ein in die Schul­ver­wal­tung; man­che Bür­ger­geld­emp­fän­ger „kämp­fen“ um ihr Recht, indem sie ihre Beschei­de grund­sätz­lich hin­ter­fra­gen und so wei­ter. Wenn wirk­lich eine Dis­kri­mi­nie­rung vor­liegt, ist das ja, wie gesagt, auch gut so. Aber das an und für sich hilf­rei­che Recht auf Hin­ter­fra­gung wird zuneh­mend zur Opti­mie­rung der indi­vi­du­el­len Kom­fort­zo­nen genutzt, weil man es kann. Und das geht in der — im Ein­zel­fall viel­leicht unbe­ab­sich­tig­ten, kol­lek­tiv den­noch wirk­sa­men — Fol­ge zu Las­ten der Selbst­ver­ständ­lich­keit der in einem Gemein­we­sen gel­ten­den Regeln. Wenn ich qua­si alles hin­ter­fra­gen kann, gilt am Ende nichts mehr. Das ist sicher sehr spitz behaup­tet, soll­te aber einen Teil der gegen­wär­tig zu beob­ach­ten­den „Ero­si­on“ der Insti­tu­tio­nen (= des uns Gemein­sa­men, des uns Ver­bin­den­den, des uns gleich Behan­deln­den) erklä­ren. Vie­le Men­schen sind heu­te berei­ter, Rou­ti­nen und Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten zu hin­ter­fra­gen und reagie­ren sen­si­bler auf Ein­schrän­kun­gen der eige­nen Belan­ge (v.a. Belas­tung), wäh­rend es gleich­zei­tig selbst­ver­ständ­li­cher wird, Behör­den­han­deln zu hin­ter­fra­gen. Das bedeu­tet: Die Zahl der Kon­flik­te steigt, wäh­rend die Bereit­schaft, in Kon­flik­ten „fest“ zu han­deln, sinkt.

Die gesellschaftlichen Veränderungen

Hin­zu kommt, dass man die­se Ent­wick­lun­gen gern als Kon­flikt zwi­schen „Pro­gres­si­ven“ und „Nicht-Pro­gres­si­ven“ cha­rak­te­ri­siert. Wäh­rend man für die „Nicht-Pro­gres­si­ven“ eine gan­ze Rei­he wenig schö­ner Bezeich­nun­gen fin­det, zögern die Nicht-Pro­gres­si­ven ihrer­seits natür­lich nicht, selbst eine Rei­he von Bezeich­nun­gen für die ver­meint­lich pro­gres­si­ve Sei­te zu finden.

Nageln Sie mich nicht an der Rei­hen­fol­ge inner­halb des letz­ten Sat­zes fest; ich hät­te es auch umge­kehrt schrei­ben kön­nen, die Fra­ge ist ja die nach der Hen­ne oder dem Ei; aber allein, dass ich das so schrei­be, könn­te für man­che Lese­rIn­nen bereits eine Belei­di­gung sein. 😉

Wel­che der bei­den genann­ten „Sei­ten“ eigent­lich an wel­chen Stel­len jeweils spe­zi­fisch reak­tio­när ist, bleibt eine unbe­ant­wor­te­te Fra­ge, weil der Kon­flikt längst zu einem zwi­schen „Gut“ und „Böse“ hoch­sti­li­siert wur­de. Die „Guten“ ver­su­chen dem­nach, ihre inklu­si­ven, ver­meint­lich demo­kra­ti­schen usw. Wer­te in Behör­den zu eta­blie­ren, sto­ßen aber auf „Wider­stand“. In jedem Buch über den Umgang mit Ver­än­de­run­gen kann man nach­le­sen, wie mit sol­chem „Wider­stand“ umge­gan­gen wer­den kann. Dass es sich dabei aber um eine (legi­ti­me) Reak­ti­on han­delt, wird oft aus­ge­las­sen. „Wider­stand“ erscheint als etwas Gest­ri­ges, an dem man sich abar­bei­ten kann. Eine schlich­te „Reak­ti­on“ wäre etwas Gleich­be­rech­tig­tes, und unter Gleich­be­rech­tig­ten könn­te man sich eini­gen. Aber zwi­schen „Erleuch­te­ten“ und „Wider­ständ­lern“ gibt es kei­ne Eini­gung. Da ist die Lam­pe nur noch nicht hell genug. Was hier fehlt, ist die Ein­sicht, dass sich Men­schen weg­dre­hen, wenn eine Licht­quel­le all­zu­sehr blendet.

Bei­de Sicht­wei­sen erklä­ren einen Teil der Dyna­mik. Aber eben nur einen Teil. Die fol­gen­den Zei­len lie­fern einen wei­te­ren Erklä­rungs­ver­such. Ob die­ser zutref­fend ist, bleibt der Beur­tei­lung durch die Lese­rin und den Leser überlassen.

Wenn ich mich nicht getäuscht habe, war in den Gesprä­chen nicht nur von Belas­tung und Frust und Resi­gna­ti­on die Rede, son­dern auch von Wut und „Kon­troll­ver­lust“. Einer­seits klang es so, als hät­te man man­che Auf­ga­ben nicht mehr in der Hand, als sei da „etwas über die Ver­wal­tung gekom­men“. Ande­rer­seits klang es so, als wür­den sich Tei­le der Ver­wal­tung irgend­wie „ver­wei­gern“, und als wer­de es immer schwe­rer, irgend­et­was umzu­set­zen. Ich habe viel nach­ge­dacht und ver­sucht, mir einen Reim dar­auf zu machen, was ich da gehört habe. Die­ser Text ist der Ver­such, mei­ne Ein­drü­cke in Wor­te zu fas­sen und die dahin­ter lie­gen­den Ent­wick­lun­gen und Dyna­mi­ken zu beschreiben.

Erst Pflichtvernachlässigung, dann Pflichtverwahrlosung — und die Folgen

Es beginnt schlei­chend. Eine Füh­rungs­kraft trifft eine Ent­schei­dung, aber die Umset­zung bleibt „spär­lich“. Sie bleibt nicht aus, aber die Umset­zung erfolgt „irgend­wie defen­siv“. Das ent­spre­chen­de Vor­ge­hen ist nicht „offen wider­spens­tig“, man kann es nicht als „Wider­stand“ bezeich­nen. Die ent­spre­chen­den Hand­lun­gen sind zöger­lich, viel­leicht „pas­siv“. Ein­mal, zwei­mal, zehnmal.

Und das geschieht nicht nur in dem Fall, dass Vor­ge­setz­te etwas ent­schei­den. Das pas­siert auch bei Geset­zes­än­de­run­gen. In letz­te­rem Fall kann es sogar sein, dass die „spär­li­che“ Reak­ti­on auch Füh­rungs­kräf­te betrifft. Man zwei­felt, man sieht es nicht ganz ein, muss es aber umsetzen.

Hier gibt es im Prin­zip zwei Fälle:

Fall 1

Die Füh­rungs­kraft hat etwas ent­schie­den, was von Tei­len der Beleg­schaft so nicht gese­hen oder geteilt wird. Man han­delt zöger­lich. Irgend­wann kommt der Punkt, an dem die Füh­rungs­kraft merkt: Der Auf­wand, sich durch­zu­set­zen, steht nicht mehr im Ver­hält­nis zum Ergeb­nis. Die Füh­rungs­kraft zieht sich viel­leicht zurück. Sie bleibt for­mal ver­ant­wort­lich, doch fak­tisch tritt sie in den Hin­ter­grund. Die Füh­rungs­kraft „gibt auf“.

So ent­steht Pflicht­ver­nach­läs­si­gung – nicht als bewuss­ter Boy­kott, son­dern als eine Mischung aus Erschöp­fung und Anpas­sung. Es han­delt sich nicht um Faul­heit und schon gar nicht um Bös­wil­lig­keit. Oft ist es schlicht die Erfah­rung, dass Regeln, Erwar­tun­gen und Anwei­sun­gen wenig oder kei­ne Wir­kung zei­gen. Wenn die­ser Mecha­nis­mus meh­re­re Füh­rungs­kräf­te in einer Orga­ni­sa­ti­on erfasst, setzt ein Pro­zess ein, den man als „Pflicht­ver­wahr­lo­sung“ bezeich­nen könn­te. Pflicht­ver­wahr­lo­sung bedeu­tet, dass Ver­ant­wor­tung nicht mehr klar wahr­ge­nom­men wird. Es gibt nie­man­den, der expli­zit „nein“ sagt – aber es gibt auch nie­man­den, der klar „ja“ sagt und han­delt. Auf­ga­ben zer­rin­nen zwi­schen den Hän­den der­je­ni­gen, die eigent­lich ver­ant­wort­lich sind. Man könn­te auch sagen: Es han­delt sich um eine resi­gna­ti­ve Form der Füh­rung. Die­se Form der Pflicht­ver­wahr­lo­sung kann über­all ent­ste­hen, aber beson­ders häu­fig sieht man sie dort, wo:

  • Füh­rungs­kräf­te wie­der­holt geschei­tert sind, sich mit Anwei­sun­gen durchzusetzen.
  • nach­ge­ord­ne­te Füh­rungs­kräf­te oder Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter gelernt haben, dass Regel­ver­stö­ße fol­gen­los bleiben.
  • eine Kul­tur ent­stan­den ist, in der Ver­bind­lich­keit durch „jeder macht, was er für rich­tig hält“ ersetzt wur­de — und zwar im Ansatz nicht als bewuss­te Ent­schei­dung, son­dern als Fol­ge des „Auf­ge­bens“.
  • poli­tisch-admi­nis­tra­ti­ve Kom­ple­xi­tät Ent­schei­dun­gen so stark ver­lang­samt, dass Füh­rung irgend­wann nur noch for­mal existiert.

Fall 2

Der zwei­te Fall besteht in gewis­ser Wei­se in einer Stei­ge­rung oder Ver­stär­kung des ers­ten Falls. Im ers­ten Fall ist es ja die Reak­ti­on der nach­ge­ord­ne­ten Ebe­ne, die spär­li­cher oder defen­si­ver wird. In der Stei­ge­rungs­form han­deln auch Vor­ge­setz­te spär­li­cher oder defen­si­ver, weil sie poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen nicht tei­len, etwas anders sehen oder eben mit­ein­an­der die Erfah­rung machen, dass auch die ande­re Füh­rungs­kraft nicht mehr aktiv an der Umset­zung und an der Lösung von Pro­ble­men betei­ligt ist. Dadurch ver­stärkt sich die defen­si­ve Dyna­mik noch ein­mal. Wenn man Fall 1 als eine gewis­se „oppo­si­tio­nel­le Ver­lang­sa­mung“ auf Mit­ar­bei­ter­ebe­ne begreift, dann kommt im Fall 2 ein ähn­li­ches Phä­no­men auf Vor­ge­setz­ten­ebe­ne zum Tra­gen, und zwar wie­der­um als Ver­zö­ge­rung oder gar als „eska­lie­ren­de Ver­um­ständ­li­chung“ von Ent­schei­dun­gen — und zwar gar nicht so sehr als Kon­flikt, son­dern eher weil man sich unaus­ge­spro­chen einig ist, in bestimm­ten Fäl­len „ganz lang­sam“ zu han­deln oder sich zum Zwe­cke des Nicht­han­delns zu strei­ten. Ver­ste­hen Sie? In sol­chen Streits geht es nicht um etwas, son­dern sol­cher Streit dient zu etwas, näm­lich dazu, dass etwas nicht so ganz pas­siert. Das mag dann nicht gänz­lich im Sin­ne des Gesetz­ge­bers sein, aber es ist recht­lich kaum anfechtbar.

Passiv-aggressiver Dienst nach Vorschrift

Um die­se Stei­ge­rungs­form (also den Fall 2) zu ver­ste­hen, ist es hilf­reich, sich vor­zu­stel­len, was geschieht, wenn sich die oben beschrie­be­nen büro­kra­ti­schen Pflicht­ver­wahr­lo­sungs­ten­den­zen mit einem gesell­schaft­li­chen Phä­no­men namens „Reak­tanz“ ver­bin­den. Reak­tanz bedeu­tet „Wider­stand gegen Über­zeu­gungs­druck“ — und der tritt in Ver­wal­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen auf, wenn Ver­wal­tungs­an­ge­hö­ri­ge etwas umset­zen sol­len, von dem sie nicht über­zeugt sind. Man könn­te das Ergeb­nis als „pas­siv-aggres­si­ven Dienst nach Vor­schrift“ bezeichnen.

Schau­en wir uns die­sen Pro­zess ein­mal im Detail an:

Man­che Füh­rungs­kräf­te kom­men ihrer Ver­ant­wor­tung nicht mehr (ganz) nach, weil sie gelernt haben, dass sie sich nicht durch­set­zen kön­nen. Sie haben ihre Erwar­tun­gen geäu­ßert, und das mehr­fach, sie haben Ansa­gen gemacht, sie haben Aus­spra­chen durch­ge­führt, sie haben ihre Vor­ge­setz­ten um Rück­halt und Unter­stüt­zung gebeten.

Was sol­len sie noch machen?

Die betref­fen­den Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter oder die betref­fen­den ande­ren Füh­rungs­kräf­te machen irgend­wie ihren Job, aber erfül­len die Erwar­tun­gen nicht (ganz). Viel­leicht ist die Sache auch gegen­sei­tig — man will etwas von­ein­an­der, um die Zie­le zu errei­chen, man ist auf­ein­an­der ange­wie­sen, aber man lernt, dass man irgend­wie nicht gut zusam­men­ar­bei­ten kann.

Irgend­wann fragt man nichts mehr, irgend­wann sagt man auch nichts mehr. Irgend­wann hält man sich zurück, obwohl die Auf­ga­ben­be­schrei­bung eigent­lich erfor­dert, dass man zusam­men­ar­bei­ten müss­te. Das könn­te man dann Pflicht­ver­nach­läs­si­gung nennen.

Pflicht­ver­nach­läs­si­gung beginnt oft unab­sicht­lich. Man weiß nicht mehr, was man tun soll, man gibt auf, es noch­mal und noch­mal zu ver­su­chen. Wenn das auch ande­re Betei­lig­te machen und das um sich greift, wird aus Pflicht­ver­nach­läs­si­gung lang­sam Pflicht­ver­wahr­lo­sung. Pflicht­ver­nach­läs­si­gung beginnt nicht als bewuss­ter Boy­kott, son­dern als eine Mischung aus Zurück­hal­tung, Erschöp­fung und Anpas­sung — und wenn das Schu­le macht, wird dar­aus Pflichtverwahrlosung.

Man stel­le sich nun eine Behör­de mit ihrem büro­kra­ti­sier­ten Hand­lungs­rah­men vor. Es ist ohne­hin schon schwie­rig, ange­sichts der Fül­le von Vor­schrif­ten und Umstän­den zu han­deln. Kommt dann noch der „mensch­li­che Fak­tor“ erschwe­rend hin­zu, stim­men also bei­spiels­wei­se die Bezie­hun­gen nicht, gibt es kein Ver­trau­en usw., wird die Sache noch kom­pli­zier­ter. Ist es nicht manch­mal ver­ständ­lich, wenn man auf­gibt — und das vor sich selbst und vor ande­ren als Anpas­sung an die Umstän­de verkauft?

Jetzt stel­le man sich vor, dass zu die­sen Umstän­den noch Wider­stand gegen Über­zeu­gungs­druck hin­zu­kommt. Das tritt auf, wenn man län­ge­re Zeit von etwas über­zeugt wer­den soll, wor­an man selbst nicht glaubt, was man selbst skep­tisch betrachtet.

Blei­ben wir in der Ver­wal­tung: Die Poli­tik ent­schei­det etwas, hin­ter dem man selbst nicht steht. Ok, kein Pro­blem, man setzt es um, weil man dazu ver­pflich­tet ist. Aber man ist trotz­dem dage­gen. Man beginnt, etwas zöger­li­cher zu han­deln. Man hält sich zurück. Die Vor­ge­setz­ten ver­su­chen es mit Über­zeu­gung, man stimmt äußer­lich zu, ist aber inner­lich dagegen.

So geht es über Mona­te, viel­leicht Jah­re. Man hält sich immer wei­ter zurück. Erst macht man Dienst nach Vor­schrift, dann han­delt man immer lang­sa­mer, zurück­hal­ten­der. Schließ­lich pro­biert man, die erwar­te­ten Din­ge nicht mehr oder nicht mehr ganz umzu­set­zen. Man lernt, dass es kaum oder kei­ne Kon­se­quen­zen gibt. Irgend­wie pas­siert… nichts, zumin­dest nichts Ernstes.

Die Gesamt­la­ge „wei­ter oben“, bspw. in Ber­lin, spitzt sich in den eige­nen Augen wei­ter zu. Man beginnt, ein gewis­ses „rebel­li­sches Gefühl“ zu ent­wi­ckeln. Was bis­her „nur“ zurück­hal­ten­der Dienst nach Vor­schrift war, wird lang­sam zur bewuss­ten Ent­schei­dung. Man beginnt, Befrie­di­gung dar­aus zu schöp­fen, „dage­gen“ zu sein. Man han­delt hier und da gegen die Erwar­tun­gen, man pro­biert aus, tes­tet die Gren­zen — und wei­ter­hin geschieht… nichts. Womit soll­ten die vor­ge­setz­ten Ebe­nen auch dro­hen? Auf den vor­ge­setz­ten Ebe­nen herrscht oft genug eine gewis­se „pro­phy­lak­ti­sche Zurück­hal­tung“, eben weil man gelernt hat, dass Eska­la­tio­nen in vie­len Fäl­len nichts brin­gen, vor dem Arbeits­ge­richt schei­tern o.ä. (Das ist der oben geschil­der­te Fall 1.)

Eine gewis­se „erlern­te Zurück­hal­tung“ oder Pflicht­ver­nach­läs­si­gung auf der Vor­ge­setz­ten­ebe­ne trifft nun auf der Mit­ar­bei­ter­ebe­ne auf eine zuneh­men­de „Wider­bors­tig­keit“, die sich aus Reak­tanz speist und in eine „rebel­li­sche Moti­va­ti­on“ mün­det, sich jedoch als mehr oder min­der pas­siv-aggres­si­ver „Dienst nach Vor­schrift“ äußert. Zuge­spitzt for­mu­liert: Der gefühlt „ewig pro­gres­si­ven Lei­er“ wird pas­siv-aggres­si­ver Dienst nach Vor­schrift ent­ge­gen­ge­stellt. Hin­zu kommt, dass vie­le, die ein gewis­ses Maß an Wider­stand gegen Über­zeu­gungs­druck zei­gen, mit der Zeit nicht mehr glau­ben, dass das, was momen­tan geschieht, auf die Zukunft des Gemein­we­sens ein­zahlt. Die Skep­sis geht mit­un­ter soweit, dass man denkt, dass es mas­si­ver Ver­än­de­run­gen bedarf — und dass die der­zeit han­deln­den Akteu­re nicht zu dem als not­wen­dig ange­se­he­nen Aus­maß an Ver­än­de­run­gen fähig sind. (Das müss­te unge­fähr dem ent­spre­chen, was in grö­ße­ren Tei­len der ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft pas­siert ist.)

Und natür­lich kommt irgend­wann der Punkt, an dem die­se Ent­wick­lun­gen auch die vor­ge­setz­ten Ebe­nen errei­chen, was die Dyna­mi­ken dann nur noch wei­ter ver­stärkt. Anfangs haben Vor­ge­setz­te viel­leicht noch „dage­gen­ge­hal­ten“. Eini­ge Vor­ge­setz­te haben viel­leicht irgend­wann auf­ge­ge­ben und so eine gewis­se „Pflicht­ver­wahr­lo­sung“ ent­ste­hen las­sen. Wie­der ande­re Vor­ge­setz­te haben viel­leicht begon­nen, die gan­ze Sache ähn­lich zu sehen — und so machen sie nun mit und bewir­ken damit ein „Umschla­gen ins Gegen­teil“, das dar­in besteht, dass man zwar eigent­lich Teil der Ver­wal­tung ist, aber die offi­zi­el­len Ent­schei­dun­gen nicht mehr mit­trägt und ihre Umset­zung zwar for­mal befolgt, aber infor­mell ablehnt. Nun wen­den sich nicht mehr Ein­zel­ne von der Umset­zung bestimm­ter Richt­li­ni­en ab, son­dern die Abwen­dung wird — erst durch Zurück­hal­tung (Pflicht­ver­nach­läs­si­gung), spä­ter durch die Fol­gen der Zurück­hal­tung (Pflicht­ver­wahr­lo­sung) und schließ­lich durch die expli­zi­te Äuße­rung von Skep­sis durch die Füh­rungs­kräf­te — verstärkt.

Das ist der Punkt, an dem man nicht mehr nur als Indi­vi­du­um anders wählt. Man kann ja indi­vi­du­ell dage­gen sein (also anders wäh­len), hat aber als Ver­wal­tungs­an­ge­hö­ri­ger zu funk­tio­nie­ren. Man legi­ti­miert aber nun die eige­ne Zurück­hal­tung oder gar Blo­cka­de mit der Not­wen­dig­keit von Ver­än­de­run­gen. Man meint, dass es anders lau­fen müss­te. Man kann das aber nicht aktiv zei­gen, weil man Teil der Ver­wal­tung ist, also äußert sich das in jenem zöger­li­chen oder defen­si­ven Han­deln. Wenn man aber — gemein­sam mit Kol­le­gen und Vor­ge­setz­ten — meint, dass das alles nicht rich­tig ist, nun, dann wird das zöger­li­che und defen­si­ve Han­deln zum sich selbst legi­ti­mie­ren­den Pro­gramm. Man ist also dage­gen, weil man nicht nur meint, dass man das Recht auf eine eige­ne Mei­nung hat, son­dern weil man glaubt, dass man dem eige­schla­ge­nen Weg ent­ge­gen­wir­ken muss.

Man han­delt nicht mehr zurück­hal­tend, weil man die Erfah­rung gemacht hat, dass es trotz eige­ner Zurück­hal­tung schwie­rig ist zu han­deln — und man sich nicht eini­gen kann. Die dann ein­tre­ten­de Lage ist nicht mehr nur damit zu erklä­ren, dass man sich zurück­ge­hal­ten hat und dies auch ande­re getan haben. Man ist nun­mehr zuneh­mend der Über­zeu­gung, dass man selbst etwas zu dem bei­trägt, was man für not­wen­dig hält, wenn man sich zurück­hält oder pas­siv-for­ma­lis­tisch oder sogar „aktiv“ dage­gen arbei­tet, wobei die „Akti­vi­tät“ aus in Behör­den mög­li­chen Hand­lun­gen besteht: Man ist sich bspw. infor­mell einig, ganz lang­sam zu machen. Oder man strei­tet sich nicht um etwas, son­dern man pflegt den Streit, weil die Ver­län­ge­rung des Streits gewis­ser­ma­ßen zum kol­lek­ti­ven Signal der Ableh­nung wird. Nach dem Mot­to: „Wir wol­len ja, aber wir kön­nen nicht, wir müs­sen erst noch dies und jenes klä­ren, und der Refe­rats­lei­ter Sound­so ist auch dage­gen, und der ist jetzt auch schon lan­ge krank, aber ohne den bekom­men wir die Kuh nicht vom Eis.“

Ver­ste­hen Sie?

Der eige­ne Frust mit den herr­schen­den Ent­wick­lun­gen wird zur Recht­fer­ti­gung, auf eine mehr oder weni­ger unaus­ge­spro­che­ne, pas­si­ve Wei­se aktiv dage­gen vor­zu­ge­hen. Natür­lich wer­den Men­schen in Ver­wal­tun­gen eher sel­ten dazu nei­gen, aktiv zu han­deln. Aber wenn der Wider­stand gegen Über­zeu­gungs­druck nicht mehr nur eine Reak­ti­on, son­dern eine bewuss­te und vor sich selbst legi­ti­mier­te Ent­schei­dung ist, erreicht die Dyna­mik der Lage eine neue Qua­li­tät: Ver­wal­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen unter­gra­ben sich selbst. Die „inter­ne Blo­cka­de“ wird mög­li­cher und popu­lä­rer — ver­stärkt durch die Erfah­rung, dass sowie­so kaum etwas pas­siert. Die Auf­ga­ben lau­ten zwar so und so, wer­den aber durch Zurück­hal­tung, Ver­lang­sa­mung und spä­ter durch pas­siv-aggres­si­ven Dienst nach Vor­schrift nicht mehr umge­setzt. Was wir dabei erken­nen soll­ten, ist, dass es sich hier nicht um ein­sei­ti­ge Abwen­dun­gen han­delt, son­dern um Inter­ak­ti­ons­ef­fek­te. Kaum jemand wen­det sich ab, weil er sich heu­te dazu ent­schei­det. Vie­le wen­den sich ab, weil sie schon lan­ge kei­ne Kurs­kor­rek­tur mehr sehen. Wer sich bevor­mun­det fühlt, tut genau das Gegen­teil des­sen, was von ihm erwar­tet wird – oft aus einer tie­fen Ableh­nung her­aus. In Ver­wal­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen kann Reak­tanz dazu füh­ren, dass Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter sich nicht nur ihrer Pflicht ver­wei­gern, son­dern sich aktiv dar­an erfreu­en, das Sys­tem zu unterlaufen.

Pflicht als Fundament organisationaler Stabilität

Pflicht­ver­wahr­lo­sung und Reak­tanz sind in Kom­bi­na­ti­on gefähr­lich. Sie unter­gra­ben das Pflicht­ver­ständ­nis in einer Orga­ni­sa­tio­nen nicht offen, son­dern höh­len es aus. Füh­rung kann gegen­steu­ern, wenn sie Ver­bind­lich­keit zurück­holt, den Sinn von Regeln ver­deut­licht und Ver­trau­en in die Orga­ni­sa­ti­on stärkt. Es geht dar­um, Pflicht als etwas zu ver­mit­teln, das mehr ist als nur eine for­ma­le Erwar­tung – näm­lich der Kern orga­ni­sa­tio­na­ler Sta­bi­li­tät. Ange­sichts der momen­ta­nen poli­ti­schen Groß­wet­ter­la­ge wer­den Ver­wal­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen vor allem in den ost­deut­schen Bun­des­län­dern auf abseh­ba­re Zeit aller­dings ihre lie­be Not damit haben.

Jörg Hei­dig

PS: Das Bei­trags­bild wur­de mit Hil­fe einer künst­li­chen Intel­li­genz erstellt.

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz bei Herbert Bock (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Bock) Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips: www.kulturderhinterfragung.de). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.